Hartz IV-Regelsätze verfassungswidrig – Bundesverfassungs- Gericht ordnet Neuregelung an (akt.2)

Wie viel Geld benötigt ein Mensch in Deutschland mindestens, um ein menschenwürdiges Leben zu führen? Mehr, als der Hartz IV Regelsatz derzeit gewährt, hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt und zahlreiche Bestimmungen des SGB II für verfassungswidrig erklärt.

Zahlreiche Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs (SGB II) sind mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz (Die Würde des Menschen ist unantastbar) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip unvereinbar. Dem Gesetzgeber wurde auferlegt, bis spätestens 31.12.2010 eine „an der Realität orientierte“ Änderung (‚Nachbesserung‘) herbeizuführen.
Bis zur Neuregelung bleiben die derzeitigen Sätze in Kraft; ggf. können ergänzenden Leistungen in Anspruch genommen werden (Härtefall-Regelung). Laut Urteil muss auch in diesem Jahr schon ein verfassungsgemäßer Satz gezahlt werden.

Das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminiumums sei mit den derzeitigen Regelungen für Kinder und Erwachsene nicht gewährleistet. Lebensnotwendige Bedarfe seien nicht berücksichtigt.

Drei Familien aus Nordrhein-Westfalen, Hessen und Bayern hatten gegen die Hartz-IV-Sätze für Kinder geklagt. Eigentlich befasst sich das Verfahren  nur mit dieser Klage (‚konkretes Normkontrollverfahren‘) – doch es wurde auch ein Grundsatz-Urteil über die Höhe der Hartz-IV-Sätze und die Frage des Existenzminimums – mit weitreichenden Folgen.

Derzeit beträgt der Hartz-IV-Regelsatz für Erwachsene 359€ (zuzüglich Miete und Heizkosten), für Kinder 215 bis 287€ (je nach Alter). Der Satz für Kinder wird allerdings nicht am realen Bedarf orientiert, sondern an Prozentsätzen eines Erwachsenen.

Bereits bei der mündlichen Anhörung am 20. Oktober 20009 hatte Jürgen Papier, der (im Februar ausscheidende) Präsident des Bundesverfassungsgerichts, erkennen lassen, dass er auch die Verfahren, mit denen die Hartz-IV – Regelsätze festgelegt werden, für fragwürdig hält. In der Konsequenz war dies die Ankündigung, die Hartz-IV-Sätze nicht nur für Kinder (wie die Klage lautete), sondern auch für Erwachsene auf den Prüfstand zu stellen.

Grundgedanke dabei: es geht nicht darum, wie viel ein Mensch als ‚Existenzminimum‘ benötigt, sondern um ein ’soziokulturelles Existenzminimum‘.  Der Unterschied zwischen beiden liegt zwischen dem ’nackten Überleben‘ und der zumindest minimalen Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben.

Das bisherige Verfahren der Bestimmung des Regelsatzes bestehe aus einer nicht zulässigen Methode. Dies betreffe nicht nur die ursprünglichen Vorschriften, sondern auch ihre später nachfolgenden Änderungen.

Für Kinder muss nun zukünftig überhaupt erstmals eine Bedarfsermittlung herbei geführt werden (bisher waren prozentuale Anteile eines Erwachsenen-Regelsatzes angesetzt worden). Dabei sind auch kinderspezifische Ausgaben wie z.B. für Bildung zu berücksichtigen. Für die Regelsätze für Erwachsene wird eine neue „transparente und sachberechte“ Methode der Berechnung erforderlich werden.

Werner Hesse (DPW Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband) wies in einem ersten Kommentar darauf hin, dass in den ursprünglichen Regelungen für Kinder nicht einmal der Schulbedarf berücksichtigt gewesen sei.

Die Deutsche Aidshilfe begrüßte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz IV. “Wir fordern die Politik auf, den Regelsatz für Betroffene endlich sozial gerecht zu gestalten und somit deutlich zu erhöhen, um diesen wieder eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und eine menschenwürdige Lebensführung zu ermöglichen”, so DAH-Bundesvorstand Carsten Schatz.

Über 6,7 Millionen Menschen in Deutschland beziehen Leistungen nach Hartz IV – unter ihnen auch viele Menschen mit HIV. Durch Wegfall oder Einschränkungen z.B. bei HIV-bedingtem Ernährungsmehrbedarf u.a. sind Menschen mit HIV von den Hartz IV Regelungen besonders betroffen.
Die durch das Urteil eröffnete Möglichkeit, bis zu einer Neuregelung des Regelsatzes einen Mehrbedarf zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums im Rahmen einer Härtefall-Regelung zu beanspruchen könnte auch für viele Hartz IV beziehende HIV-Positive relevant sein.

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weitere Informationen:
Bundesverfassungsgericht Pressemitteilung 09.02.2010: Regelleistungen nach SGB II („Hartz IV- Gesetz“) nicht verfassungsgemäß
SZ 08.02.2010: Grundsatzentscheidung zum Sozialsystem – Bund fürchtet das Urteil zu Hartz IV
SpON 09.02.2010: Wegweisendes Verfassungsurteil
Sozialverbände hoffen auf Hartz-IV-Revision
SpON 09.02.2010: Wegweisendes Urteil – Verfassungsrichter verlangen Hartz-IV-Revision
SZ 09.02.2010: Entscheidung zu Sozialleistungen – Bundesverfassungsgericht kippt Hartz-IV-Sätze
SZ 09.02.2010: Urteil zu Hartz IV Grundrecht auf Existenzminimum
FR 09.02.2010: Kommentar zum Hartz-IV-Urteil – Größtmögliche Ohrfeige
SZ 09.02.2010: Interview mit Sozialrichter Jürgen Borchert “Keine Willkür mehr, keine Heimlichtuerei“
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siehe auch:
DAH-Blog 12.03.2010: Härtefallregelung gilt – Infos zur Antragstellung
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5 Gedanken zu „Hartz IV-Regelsätze verfassungswidrig – Bundesverfassungs- Gericht ordnet Neuregelung an (akt.2)“

  1. Wie bereits hinlänglich bekannt, hat das Bundesverfassungsgericht am 9.2.2010 unter anderen entschieden, dass auch im SGB II („Hartz IV“ – im System des SGB XII gab es bereits eine Regelung, mit der individuelle Bedarfe abgedeckt werden konnten) eine Regelung getroffen werden muss, die über die an sich zulässigen Festbeträge des Eckregelsatzes hinausgeht und „unabweisbare, laufende, nicht nur einmalige und besondere Bedarfe“ als Leistung definiert. Diese gesetzliche Regelung wurde inzwischen verabschiedet und ist in dem neun § 21 Abs. 6 SGB II geregelt. Um die Arbeitsagenturen und Arbeitsgemeinschaften nicht in jedem Einzelfall prüfen lassen zu müssen, wie hoch der individuelle Bedarf für solche ungewöhnlichen laufenden Bedarfe ist, wurde ebenfalls eine entsprechende Verordnung erlassen. Auch diese Verordnung vom 22. 4. 2010 passierte dem Bundesrat am 4.5.2010. In der Verordnung wurde auch der so genannte „Hygienebedarf“ für Menschen mit HIV und Aids aufgenommen. Die genaue Höhe und die Ausgestaltung der jeweiligen Regelung konnte ich bedauerlicherweise in der Kürze der Zeit noch nicht in Erfahrung bringen, da weder die neue Regelung des § 21 Abs. 6 SGB II noch die Verordnung auf der Internetseite des Bundesjustizministeriums eingestellt ist. Wichtig ist allerdings, dass das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, dass, anders als die Entscheidung zu der Berechnung der Regelsätze, ein solcher Anspruch bereits ab Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 gilt. Das bedeutet, dass Menschen, die die Voraussetzungen eines solchen Bedarfs erfüllen, diesen nunmehr auch gegenüber der Arbeitsgemeinschaft mit Wirkung ab dem 9.2.2010 geltend machen können. Dabei ist auch wichtig, dass das Bundessozialgericht entschieden hat, dass nachträglich geltend gemachte Ansprüche innerhalb eines Bewilligungszeitraumes nicht deswegen zurückgewiesen werden können, weil sie nicht mit dem ursprünglichen Antrag auf Gewährung von Leistungen bereits mit beantragt wurden. Das Bundessozialgericht hat ausgeführt, der Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB zwei allgemein beinhalte den Antrag auf Gewährung sämtlicher Leistungen, die dem Anspruchsteller berechtigterweise zustehen. Somit können aus meiner Sicht auch heute gestellte Anträge auf diesen so genannten „Hygienemehrbedarf“ immer noch rückwirkend mit Wirkung ab dem 9.2.2010 gestellt werden.

    Jacob Hösl
    Rechtsanwalt/Köln

  2. @ Jacob Hösl:
    danke für deine fachkundigen informationen!

    nb, morgen folgt ein beitrag mit einem hinweis auf eine weitere publikation zum urteil …

  3. @Jacob Hösl

    „Auch diese Verordnung vom 22. 4. 2010 passierte dem Bundesrat am 4.5.2010. “

    Am 4.5. war aber gar keine Sitzung des Bundesrates. Ist der 4.6. gemeint?
    Und wie lautet der genaue Titel der Verordnung? Dann könnten wir auch selbst im Netz schauen, ob sich dazu schon etwas findet.
    Wie sieht es mit Nachweisen aus, um den Mehrbedarf zu erhalten? Attest des Arztes? Quittungen? Oder reicht eine schon bekanntgegebene HIV-Infektion aus?

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