Die Deutsche AIDS-Hilfe e.V. (DAH) begrüßt das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das die Hartz-IV-Regelsätze für Kinder und Erwachsene als verfassungswidrig eingestuft hat. Seit ihrer Einführung im Januar 2005 hat die DAH die Hartz-IV-Gesetze als unsozial abgelehnt.
„Wir fordern die Politik auf, den Regelsatz für Betroffene endlich sozial gerecht zu gestalten und somit deutlich zu erhöhen, um diesen wieder eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und eine menschenwürdige Lebensführung zu ermöglichen“, so DAH-Bundesvorstand Carsten Schatz.
Für chronisch Kranke und Menschen mit HIV/Aids fordert die DAH finanzielle Leistungen über den Regelsatz hinaus: „Menschen mit chronischen Krankheiten benötigen eine höhere finanzielle Unterstützung, um die drastischen Zuzahlungen bei medizinischer Versorgung sowie die vielen weiteren krankheitsbedingten Mehrbedarfe wie z.B. erhöhte Energiekosten, Fahrtkosten zum Arzt, gesundheitsfördernde Ernährung usw. bezahlen zu können“, betont Silke Eggers, DAH-Referentin für Soziale Sicherung und Pflege.
Die DAH begrüßt zudem den Vorschlag des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), eine unabhängige Kommission einzurichten, die dem Gesetzgeber entsprechende Vorschläge bezüglich eines sozial gerechten Hartz-IV-Regelsatzes unterbreiten soll. Darin vertreten sein müssten neben den Gewerkschaften auch Selbsthilfeorganisationen wie die Deutsche AIDS-Hilfe, Sozial- und Wohlfahrtsverbände.
(Pressemitteilung der Deutschen Aidshilfe vom 09.02.2010)
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts entspricht der seit einigen Jahren zu beobachtenden Tendenz, sich aus konkreten Detail-Fragen der Ausgestaltung des Sozialstaates – und anderer Staatsprinzipien – herauszuhalten und lediglich die verfassungsrechtlich gebotenen Grundlagen zu definieren. Das war auf den ersten Blick für viele etwas enttäuschend, da man sich erhofft hatte, es würden konkreter Aussagen über die Höhe der Regelsätze gemacht verbunden mit der Hoffnung, gleich in den Genuss einer Regelsatzerhöhung zu kommen. Dazu hat sich das Bundesverfassungsgericht aber nicht geäußert sondern hat diese Frage offen gelassen und sogar für möglich gehalten, dass der aktuelle Regelsatz richtig berechnet sein kann. Trotzdem ist ist das Urteil für die Menschen, die von Hartz IV leben müssen und dazu gehören viele Menschen kmit HIV und Aids, ein „gutes“ Urteil.
Das Bundesverfassungsgericht hat zwei wichtige Aussagen getroffen. 1. Die Regelsätze müssen nachvollziehbar und nach sachlichen Kriterien berechnet und transparent sein und sie müssen nach dem Bedarfsdeckungsprinzip ausgestaltet werden. 2. Der Gesetzgeber muss eine Regelung schaffen, die dauernde erhebliche individuelle Bedarfe auch nach dem SGB II unabhängig vom Regelsatz finanziell abdecken muss.
Die Vorgabe, dass die Berechnung der Regelsätze nach dem Bedarfsdeckungsprinzip transparent und nachvollziehbar sein müssen und zwar nach sachlichen Kriterien, wird ganz erheblich dazu beitragen, dass die Politik in die Verantwortung genommen werden kann dafür, wie sie die Berechnung der Regelsätze rechtfertigt. Die bisherige Methode hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich für unzulässig erachtet. Dadurch erlangen Betroffene und auch soziale Fachorganisationen, so auch die Aids-Hilfen, endlich eine Tür geöffnet, die eine sozialpolitische Auseinandersetzung über konkrete Sachfragen erlaubt und zwar am Bedarf der Menschen orientiert. Es wird verstärkt Aufgabe der Deutschen Aids-Hilfe und der Deutschen Aids-Stiftung sein, nunmehr in die sozialpolitische Diskussion der Einzelfragen einzutreten.
Der zweite Punkt der Entscheidung ist für Menschen mit HIV von ganz unmittelbarer und konkreter Bedeutung. Bislang galt im System des SGB II, anderns als bei der „Sozialhilfe“ nach dem SGB XII, nicht der Individualitätsgrundsatz. Menschen mit HIV, die einen erhöhten Bedarf wegen kostenaufwändiger Hygiene (sog. „Hygienemehrbedarf“) hatten und das sind eine ganze Menge, standen vor dem gesetzgeberischen Kuriosum, dass sie bei gleichem Regelsatz diesen Mehrbedarf erhalten konnten, wenn sie Leistungen nach dem SGB XII (Soziale Grundsicherung für erwerbsgeminderte Menschen und solche, die im Rentenalter sind), nicht hingegen, wenn sie „arbeitssuchend“, sprich arbeitsfähig sind, und Leistungen nach dem SGB II erhalten. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber nunmehr aufgegeben, den Grundsatz der Abdeckung des individuell abweichenden Bedarfs auch in das SGB II einzufügen.
Was die nunmehr entbrannte Diskussion um die Erhöhung der Regelsätze angeht und in der sich aus der Politik schon wieder Hinz und Kunz zu Wort melden ohne einmal genau nachgedacht zu haben, wozu man sich da äußert, sehe ich gelassen. Der bisherige Regelsatz wurde nach dem sog. Statistikprinzip errechnet und zwar auf der Grundlage einer Verbrauchsstichprobe aus 1998 (!). Die Erhöhung der Regelsätze wurde dann anhand der Erhöhung des aktuellen Retenwerts durchgeführt. Da der sog. aktuelle Rentenwert schon seit Jahren die allgemeine Teuerung nicht mehr abdeckt habe ich Schwierigkeiten mir vorzustellen, wie man, wenn man die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ernst nimmt und das wird man ja müssen, zu dem Ergebnis kommen kann, dass eine Absendung der Regelsätze möglich sein sollte. Ich sehe auch kaum die Möglichkeit, die Regelsätze nicht anzuheben, denn die vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich als zulässige Methode erachtete Anlehnung an die Verbrauchsstichprobe, die dann aber auf den konkreten aktuellen Verbrauch gekoppelt sein muss, wird bei einer aktuellen Betrachtung der Zahlen aus 2009 oder 2010 kaum zu geringeren Ausgaben, sprich Bedarf, kommen, als diejenigen aus 1998. Man denke nur an die großen Wellen der Teuerung gerade bei Grundnahrungsmitteln der letzten Jahre.
Insgesamt ist das Urteil, selbst wenn es für die zurückliegende Zeit keine Lösung der Missstände gebracht hat, jedenfalls für die Zukunft eine aus der Sicht von Menschen mit HIV und Aids ganz konkret und bald spürbar günstiges Urteil.
Rechtsanwalt Jacob Hösl, Köln
@ Jacob:
vielen dank für diese interessanten erläuterungen!
es bleibt zu hoffen, dass aidshilfe(n) sich dem nun weiter eröffnenden handlungsfeld auch verstärkt zuwenden