Berlin: Senatorin Lompscher im Dialog über Erwartungen und Bedürfnisse Berliner Positiver

Berlins Gesundheits-Senatorin Katrin Lompscher diskutierte am 8. Februar 2010 mit dem Berliner Positiven-Plenum, welche Erwartungen und Bedürfnissen HIV-Positiven an den Berliner Senat haben.

Mit über 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmern war das Berliner Positiven-Plenum am 8. Februar 2010 (wie schon die Plena in den letzten Monaten) bemerkenswert gut besucht. Die Deutsche Aids-Hilfe hatte auf Nachfrage der Positivensprecher freundlicherweise einen Raum zur Verfügung gestellt.

Nach einer Begrüßung durch Stefan Timmermanns (HIV-Referent der Deutschen Aidshilfe) übermitteln die Positivensprecher/innen die Grüße der Geschäftsführerin der Berliner Aids-Hilfe Ute Hiller, die leider aus persönlichen Gründen verhindert sei; der Vorstand der Berliner Aids-Hilfe wünsche dem Positiven-Plenum ein konstruktives Gespräch mit der Senatorin. Albert Eckert, ehemaliges MdA, übernimmt auf Vorschlag der Positivensprecher/innen die Moderation des Abends.

20100208PoPle01

1. Beteiligung von Menschen mit HIV/AIDS an Entscheidungen im Bereich der AIDS-Arbeit in Berlin
Auf dem Kongress ‚HIV im Dialog‘ im September 2009 hatte Senatorin Lompscher sich eindeutig zum GIPA-Prinzip bekannt und angekündigt, Berlin werde zukünftig verstärkt Menschen mit HIV an den sie betreffenden Entscheidungen des Berliner Senats beteiligen. Das GIPA-Prinzip war 1994 auf dem Pariser Aids-Gipfel beschlossen worden.

Eine Beteiligung von HIV-Positiven an den sie betreffenden Entscheidungen ist sowohl auf der Ebene der freien Träger der Aids-Arbeit in Berlin als auch strukturell (Ebene Integrierter Gesundheitsvertrag IGV) anzustreben.
Bisher ist eine Beteiligung von Positiven nur bei einem Träger realisiert, der Berliner Aids-Hilfe mit ihrem Positiven-Plenum, einer in der Satzung verankerten (und bundesweit einzigartigen) Struktur. Es stellt sich die Frage, warum andere Träger dies nicht aufweisen. Kann es sinnvoll sein, nun bei allen Trägern ähnliche Strukturen einzufordern und zu etablieren, oder braucht es einen Träger HIV-positiver Interessenvertretung? Und wo kann dieser auf Landesebene verankert werden? Diese Frage wurde lebhaft diskutiert.
Verwiesen wurde als Beispiel auf das Modell, das der US-Bundesstaat Indiana realisiert hat und das eine Struktur vorsieht, mit der die Legitimation und Benennung von Positiven-Vertretern auf institutioneller Ebene möglich ist.
Als Ziele wurden mehrfach angemahnt die alltäglichen Probleme von Menschen mit HIV und Aids in den Mittelpunkt zu stellen und eine größere Transparenz, z.B. auch bei der Verwendung der Mittel (Spenden) zu schaffen.

Als konkreter Schritt wurde vorgeschlagen, dass der Senat zu einem Treffen Berliner Menschen mit HIV und Aids einladen solle als Startschuss für einen Berliner GIPA-Prozeß. Senatorin Lompscher kündigte an, diesen Schritt („da spricht nichts dagegen“) zu prüfen und möglichst zeitlich absehbar umzusetzen.

Senatorin Katrin Lompscher und Moderator Albert Eckert
Senatorin Katrin Lompscher und Moderator Albert Eckert

2. Wo sind Positive im Rahmen der strukturellen Prävention?
Berlin benötigt ein praxisorientiertes Konzept zur strukturellen Prävention, in dem die Beteiligung und die Rolle von Menschen mit HIV/AIDS in der Prävention geklärt werden.

Frau Lompscher betont, der Senat erwarte, dass die freien Träger das Konzept der strukturellen Prävention und die Beteiligung von Menschen mit HIV und Aids in ihren Konzepten berücksichtigen. Es sei denkbar, dies im kommenden IGV auch als Vertragspflicht festzuschreiben.

3. Notwendigkeit einer repräsentativen Bedarfserhebung
Seit mehr als zwei Jahrzehnten werden die Angebote im Aids-Bereich in Berlin unabhängig von einer konkreten Ermittlung von Bedarf und Bedürfnissen der Menschen mit HIV/AIDS entwickelt und gefördert. Auskünfte der bisherigen NutzerInnen bestehender Angebote sind weder repräsentativ noch ausreichend.
Mit einer Bedarfserhebung solle auch den Bedarfen derjenigen Positiven Rechnung getragen werden, die die bestehenden Angebote nicht nutzen, und festgestellt werden, welchen Bedarfen die bestehenden Angebotsstrukturen nicht Rechnung tragen.

Von Teilnehmern wird der Vorschlag geäußert, ein Beschwerde-Management verpflichtend einzuführen und dies anonymisiert zusammenzuführen und auszuwerten. Erfahrungen in der Praxis zeigten, dass dies bereits nach kurzer Zeit recht gut Aufschluss darüber gebe, welche realen Probleme bestünden.

Senatorin Lompscher betont, sie stehe einer Bedarfsermittlung prinzipiell aufgeschlossen gegenüber. Sie sehe jedoch Konkretisierungsbedarf, was genau in welchen Zahlen erhoben werden solle.
In einem Beschwerde-Management sehe sie einen guten Ansatz auch unter Aspekten des Verbraucherschutzes.
Sie wies darauf hin, dass der Staat dezidiert keinen Präventionsauftrag habe, ein entsprechender Gesetzentwurf (‚Präventionsgesetz‚) sei gescheitert. Prävention sei einzig Auftrag der Krankenkassen, so das auch ein Gespräch mit der AG der Berliner Krankenkassen sinnvoll sein könne.

4. Akzeptanzförderung zur Vorbeugung von Diskriminierung bzw. Furcht davor
Die Gesellschaft benötigt wirksame und nachhaltige Aufklärung über das Leben mit HIV bzw. AIDS, damit Positive ohne Diskriminierung und Angst leben können – in der Familie, der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz und in der Freizeit.

Frau Lompscher weist auf die Akzeptanz-Kampagne des Berliner Senats hin und betont, dass das Thema Akzeptanz ganz oben auf der politischen Agenda stehe.
Aus Teilnehmerkreisen wird darauf hingewiesen, dass gerade auch seriöse Aufklärung zu Toleranz an Schulen wichtig sei, besonders auch an Schulen mit einem hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. Zudem dürfe Akzeptanzförderung auch in Knästen nicht vergessen werden.

5. Angebote zur Arbeitsfähigkeit: „HIV + Beschäftigung“ bzw. „HIV + Rente“
Zunehmend mehr Menschen leben dank neuer Therapien länger und besser als zuvor. Viele von ihnen benötigen Entscheidungshilfen und praktische Unterstützung für ihren individuellen Weg zwischen beruflichen Anforderungen, ggf. eingeschränkter Leistungsfähigkeit oder nötigen Alternativen zur Erwerbstätigkeit.
Zwar gibt es bereits Projekte, die auf diesem Themenfeld tätig sind. Ihnen fehlen aber (u.a. nach Auslaufen von Modellprojekten oder EU-Förderung) finanzielle Mittel.
Teilnehmer wiesen darauf hin, dass dies auch Aufgabe der Träger der Sozialversicherung, insbesondere der Rentenversicherung (berufliche Rehabilitation) sei; hier komme dem Staat eine moderierende Rolle zu. Positive sollten sich mehr mit anderen Chroniker-Gruppen koordinieren, um hier gemeinsam vorzugehen.

Frau Lompscher verweist darauf, dass dieses Thema in den Zuständigkeitsbereich der Senatorin für Arbeit und Soziales falle. Sozialversicherungsrecht sei zudem Bundesrecht, hier könne das Land Berlin nur über den Bundesrat initiativ werden. Sie bot ihre Unterstützung für Gespräche mit den zuständigen Trägern der Sozialversicherung an.

6. Datenschutz und Vertraulichkeit
Im Integrierten Gesundheitsvertrag (IGV) ist eine Leistungsdokumentation vorgesehen. Eine (Re-)Identifizierbarkeit durch persönliche Daten im Rahmen dieser Leistungsdokumentation ist auszuschließen.
Diese Einhaltung des Datenschutzes auch im IGV zu gewährleisten sei selbstverständlich, betonte Lompscher.

Teilnehmer beklagen, dass in Job-Centern häufig Verstöße gegen den Datenschutz erfolgten (Mitarbeiter geben Daten weiter); hier scheine eine entsprechende Dienstaufsicht nicht entsprechend stattzufinden.
Ein Teilnehmer berichtet über ein besonderes Datenschutz-Problem bei der Unterstützung der Schwimmgruppe durch die Deutsche Aids-Stiftung, das allgemeine Empörung hervorruft.

7. Akteneinsichtsrechte
Besondere Belastungen für Positive wie auch andere chronisch Kranke sind durch geeignete organisatorische Lösungen zu vermeiden. Akteneinsichtsrechte nach dem IFG (Informations-Freiheits-Gesetz) dürfen nicht – z. B. in Folge von Verträgen Berlins über Angebote durch Dritte – umgangen werden.
Senatorin Lompscher sagt zu, dass sichergestellt wird, dass Träger sich dem Akteneinsichtsrecht / IFG nicht durch Umgehungen / Vergaben an Dritte entziehen.

8. Verbesserung der aktuellen Mehrbedarfsregelung zur Sozialhilfe oder  Regelsatzerhöhung
Menschen mit chronischen Erkrankungen benötigen eine bedarfsgerechte materielle Absicherung. Der Gefahr ihrer Marginalisierung ist dadurch vorzubeugen.
Zahlreiche Teilnehmer beklagen, dass zunächst pauschal abgelehnt würde und viele Job-Center den Eindruck einer Zermürbungs-Strategie vermittelten („es geht immer wieder in’s Leere“). Falls Leistungen wie Ernährungs-Mehrbedarf anerkannt werden, würde dies von Bezirk zu Bezirk äußerst unterschiedlich und intransparent gehandhabt. Zudem drohten weitere Probleme bei der Frage einer Erstattung der Krankenkassen-Zusatzbeiträge.

Senatorin Lompscher betont, dass die Regelsätze Hartz IV Bundesrecht und nicht direkt von Berlin beeinflussbar seien und verweist auf das für den nächsten Tag anstehende Karlsruher Urteil (siehe „Hartz IV-Regelsätze verfassungswidrig – Bundesverfassungs-Gericht ordnet Neuregelung an„). Berlin sei einzig für Empfehlungen an Job-Center zuständig, und auch dies seien eben nur Empfehlungen.
Zur Frage der unterschiedlichen Umsetzung von Empfehlungen in den Bezirken wird diskutiert, alle zuständigen Stadträte an einen Tisch zu holen., um anstehende Fragen zu diskutieren, ggf. in Zusammenarbeit mit anderen Chroniker-Gruppen. Zudem wird die Frage eines Beschwerde-Managements bei Sozialämtern aufgeworfen.

9. medizinische Versorgung für Positive ohne Krankenversicherung
Jedes Jahr erkrankt eine unbekannte Anzahl von HIV-Positiven ohne Versicherungsschutz, für die es weder geregelte Versorgungsangebote noch z. B. einen anonymen Krankenschein gibt.

Senatorin Lompscher betont, dass dauerhafte Lösungen für die medizinische Versorgung von Menschen ohne legalen Aufenthalts-Status ein schwieriges Problem darstellen, dem sich die Senatsverwaltung bewusst sei. Man arbeite in Zusammenarbeit mit öffentlichen und freien Trägern an Lösungsansätzen. Erschwerend komme hinzu, dass bisher kein tragfähiges und unumstrittenes Konzept für einen anonymen Krankenschein vorliege.
Aus Teilnehmerkreisen wird ergänzend darauf hingewiesen, dass Asylbewerber trotz sofortiger Information über HIV-Infektion und medizinischen Status (Aids) oftmals Monate warten müssen, bis sie Zugang zu medizinischer Behandlung haben; dieser Zustand sei untragbar.

10. Wohnangebot für Menschen mit HIV (insbes. im Alter)
Mehrere Teilnehmer/innen weisen darauf hin, dass die Frage des Wohnens, insbesondere im Alter, für viele Menschen mit HIV ein großes Problem darstelle. Die wenigen von existierenden Projekten angebotenen Wohnmöglichkeiten entsprächen nicht immer den Vorstellungen von altrs- und sozialgerechtem Leben. Für Menschen mit Migrationshintergrund stellt die Frage des Wohnens im Alter ein besonderes Problem dar, da hier auch keine Herkunfts-Familie zur etwaigen Versorgung zur Verfügung steht.
.

Im Anschluss an die Diskussionen wird vereinbart, ein Protokoll zu erstellen, das Senatorin Lompscher zur Verfügung gestellt wird. Sie sagt zu, die besprochenen offenen Fragen in der Senatsverwaltung zu klären. Nach 3 bis 4 Wochen solle dann ein Gespräch mit den Positivensprecher/innen folgen, um die offenen Punkte durchzusprechen und weiter zu verfolgende Handlungsansätze zu vereinbaren.

Wer wollte, konnte am 8. Februar eine kleine Lehrstunde in repräsentativer Demokratie, Basisnähe und Bürgergesellschaft erleben:
Senatorin Lompscher hörte aufmerksam zu, ging konkret auf die diskutierten Themen und die gestellten Fragen und Anregungen ein, und vermied weitestgehend Worthülsen und Polit-Blasen. Die Positivensprecher/innen hatten mit Unterstützung der Vorbereitungsgruppe eine gut strukturierte Veranstaltung vorbereitet, die durch Moderator Albert Eckert zielführend geleitet wurde. Positive aus unterschiedlichen Gruppen (z.B. schwule Männer, Frauen, Migrantinnen und Migranten) beteiligten sich großenteils lebhaft und aktiv an den Diskussionen und brachten ihre Erfahrungen und Belange ein.
Eine Veranstaltung, wie sie der Positiven-Selbsthilfe öfter zu wünschen ist.

Störmanöver aus Kreisen einer örtlichen Aids-Organisation wirkten angesichts dieser betroffenennahen Veranstaltung befremdlich, konnten den Erfolg erfreulicherweise jedoch nicht beeinträchtigen.

Für Amusement allerdings sorgte ein kurz zuvor bekannt gewordener offener Brief eines Volker Allochthon [Beim Namen dürfte es sich um ein Pseudonym handeln; allochthon, griech., ‚an anderer Stelle entstanden‘, fremd, auswärtig], der ausführlich begründet den Rücktritt des derzeitigen Vorstands der Berliner Aids-Hilfe forderte.

Nachtrag: Auf dem nächsten Positiven-Plenum am 8. März 2010 um 19:00 Uhr ist Thema „25 Jahre HIV-positiv – immer normaler, immer zufriedener?  – Selbsthilfe und Interessenvertretung damals, heute – und künftig?“ (Ort: Berliner Aidshilfe, Meinekestr. 12)

weitere Informationen:
UNAIDS: Greater involvement of people living with or affected by HIV/AIDS
berlin.de 11.09.2009: Kurz notiert (Lompscher sagt verstärkte Beteiligung von Menschen mit HIV zu)
Abgeordnetenhaus Berlin: Zwischenbericht „Anstieg der HIV-Neuinfektionen und sexuell übertragbaren Krankheiten stoppen – gezielt in Prävention investieren!“, Drucksache 16/2786, 16.11.2009
Indiana (USA): Indiana Statewide HIV Consumer Advisory Board
Volker Allochthon 08.02.2010: Inge Banczyk, Uli Meurer und Rainer Schilling sollten als Vorstand der Berliner Aids-Hilfe zurücktreten
.