zur Diskussion gestellt: „HIV und Strafrecht: Vier Prinzipien“

Am Montag, 16. August 2010 beginnt in Darmstadt der Prozess gegen Nadja Benaissa. HIV und der strafrechtliche Umgang mit HIV geraten wieder in den Blickpunkt von Medien und Öffentlichkeit. Gibt es sinnvolle Prinzipien, wenn „HIV vor Gericht“ steht, z.B. um eine wirksame Prävention nicht zu gefährden und Stigmatisierung von HIV-Positiven zu vermeiden?
Ein Gastbeitrag von Silke Eggers, Karl Lemmen, Marianne Rademacher, Holger Sweers und Stefan Timmermanns – verbunden mit der Bitte um intensive Diskussion und Kommentare:

Einladung zur Diskussion
HIV und Strafrecht: Vier Prinzipien

Heute, am 16. August 2010, hat vor dem Amtsgericht Darmstadt der Prozess gegen die Sängerin Nadja Benaissa begonnen. Immer wieder landen Fälle vor Gericht, in denen es um (potenzielle) HIV-Übertragungen geht. In der Bundesgeschäftsstelle der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. (DAH) hat eine kleine Arbeitsgruppe vier Prinzipien zu diesem Thema formuliert, die ihrer Ansicht nach gelten sollten.

Die Gruppe stellt das Papier im DAH-Blog unter blog.aidshilfe.de zur Diskussion und lädt herzlich zu Anmerkungen und konstruktiver Kritik ein.

Die Kriminalisierung der HIV-Übertragung ist kein Mittel der Prävention, sondern wirkt sich kontraproduktiv aus: Sie lässt die Illusion entstehen, der Staat habe HIV unter Kontrolle und HIV-Positive trügen die alleinige Verantwortung für den Schutz vor einer HIV-Übertragung. Wenn Menschen aber glauben, dass allein die HIV-Positiven für den Schutz vor HIV verantwortlich sind, kann dies dazu führen, dass sie ihr eigenes Schutzverhalten vernachlässigen.

Hinzu kommt: Nur eine Person, die weiß, dass sie HIV-positiv ist, kann strafrechtlich belangt werden. Die Kriminalisierung der HIV-Übertragung führt unter Umständen dazu, dass Menschen sich nicht auf HIV testen lassen – nach dem Motto: Wer nicht getestet ist, kann strafrechtlich nicht verantwortlich gemacht werden. Darüber hinaus leistet sie der Stigmatisierung von HIV-Positiven Vorschub, was einem selbstbewussten Umgang mit der HIV-Infektion im Wege stehen kann.

Auf der anderen Seite gibt es aber durchaus Fälle, in denen die HIV-Übertragung eine strafrechtliche Bedeutung hat, zum Beispiel, wenn das Gegenüber arglistig getäuscht wurde, Vertrauen ausgenutzt wurde oder eine Ansteckung beabsichtigt war.

In jedem Fall aber sollten, wenn HIV vor Gericht eine Rolle spielt, folgende Prinzipien gelten:

1. Bei sexuellen Begegnungen gilt das Prinzip der geteilten Verantwortung.

HIV-Prävention bedeutet in unserem Verständnis, dass alle Beteiligten lernen müssen, sich nicht auf andere zu verlassen, sondern den Schutz vor HIV in die eigene Hand zu nehmen. Daraus folgt für uns zum Beispiel, dass von Menschen mit HIV bei Gelegenheitskontakten oder am Beginn neuer Beziehungen nicht gefordert werden kann, ihre Infektion offenzulegen – wohl aber, dass sie ihre Verantwortung für den Schutz vor einer HIV-Übertragung wahrnehmen wie ihre Partner/innen auch.

Wir gehen dabei vom Prinzip der geteilten Verantwortung aus. Eine einseitige Zuschreibung von Verantwortung an Menschen mit HIV ist nicht nur ethisch unhaltbar, sondern auch kontraproduktiv für die Verhütung von HIV-Übertragungen (siehe Einleitung).

Geteilte Verantwortung heißt für uns, dass wir die Partner/innen in sexuellen Begegnungen – ob HIV-positiv getestet, ungetestet oder HIV-negativ getestet – grundsätzlich „auf gleicher Augenhöhe“ sehen, als freie und gleichberechtigte Menschen, die auf der Grundlage von Informationen und Kommunikation gemeinsame Entscheidungen treffen oder den Schutz vor einer Übertragung in die eigene Hand nehmen können.

Es kann allerdings Fälle geben, wo diese gleiche Augenhöhe nicht gegeben ist, zum Beispiel, wenn ein Partner/eine Partnerin aufgrund von Alkohol- und Drogenkonsum nur noch eingeschränkt handlungsfähig ist, bei Abhängigkeiten, Zwang oder verminderten kognitiven Fähigkeiten. In solchen Fällen kommt dem Gegenüber in der überlegenen Position eine größere Verantwortung zu. Wir sehen daher die Einzelne/den Einzelnen nie allein mit ihrer/seiner Verantwortung, sondern immer auch die Mitverantwortung der anderen (bzw. für die anderen).

2. Auch HIV-Positive haben das Recht auf Unvoreingenommenheit.

Viele juristische Auseinandersetzungen um (potenzielle) HIV-Übertragungen finden im Kontext enttäuschter Beziehungswünsche statt. Richter sind auch hier gefordert, Menschen mit HIV unvoreingenommen zu begegnen, ihnen also nicht per se weniger Glaubwürdigkeit beizumessen als Nichtinfizierten. Dazu gehört gegebenenfalls auch, sich vom medial gezeichneten Bild der „verantwortungslosen Positiven“ freizumachen. Wichtig ist, dass sich Öffentlichkeit und Justiz nicht vor den Karren von „Beziehungsabrechnungen“ spannen lassen.

3. Im Spannungsfeld zwischen Recht und Prävention ist ein differenziertes und sensibles Vorgehen nötig.

Die DAH beschäftigt sich mit dem Thema Recht und HIV vor allem aus zwei Perspektiven:
• aus der Perspektive der Menschenrechte
• aus der Perspektive der Prävention.

HIV-Prävention im Sinne von „New Public Health“ will Menschen zum selbstbestimmten und verantwortungsvollen Umgang mit HIV und Aids befähigen. Die deutsche Linie der HIV- und Aidsbekämpfung ist gerade deshalb so erfolgreich, weil sie von der Mündigkeit und Verantwortung jedes einzelnen Menschen ausgeht. Und weil sie z. B. dafür sorgt, dass HIV-Positive nicht stigmatisiert werden, sondern ihre schwierige Situation im Umgang mit dem „gesellschaftlichen Makel“ HIV anerkennt.

Wenn (potenzielle) HIV-Übertragungen juristisch aufgearbeitet werden, müssen Justiz und Medien daher differenziert und sensibel vorgehen – und sollten mögliche Folgen für die Prävention beachten. „Mediale Treibjagden“ auf angeblich verantwortungslose HIV-Positive z. B. verschärfen das Stigma HIV und dürften es Menschen mit HIV eher erschweren, ihren HIV-Status offenzulegen und damit ihren Partner(inne)n einen verantwortungsvollen Umgang mit der Infektion zu ermöglichen.

4. Das veränderte Leben mit HIV erfordert eine veränderte Rechtsprechung.

Die bisherige Rechtsprechung orientierte sich an einem Bild von HIV, das mit hohen Übertragungswahrscheinlichkeiten (zum Beispiel beim Sex ohne Kondom), schnellem Siechtum und Tod verbunden war. Die HIV-Infektion ist aber inzwischen zu einer behandelbaren chronischen Erkrankung geworden. Wer sich heute mit HIV infiziert, kann bei rechtzeitiger Diagnose und Behandlung mit einer annähernd normalen Lebenserwartung rechnen.

Außerdem kann durch eine antiretrovirale Therapie die Übertragungswahrscheinlichkeit wirksam gesenkt werden. Solche Veränderungen müssen stärker in die Rechtsprechung einfließen. Galt bisher das Einbringen eines Kondoms in die sexuelle Kommunikation als ausreichender Beweis, eine HIV-Übertragung verhindern zu wollen, stellt sich die Frage, ob die korrekt angewendete „Viruslastmethode“ heute nicht gleichermaßen bewertet werden müsste, bietet sie doch eine vergleichbare Sicherheit (vgl. hierzu das DAH-Positionspapier „HIV-Therapie und Prävention“ vom April 2009).

Berlin, im August 2010

Silke Eggers, Karl Lemmen, Marianne Rademacher, Holger Sweers, Stefan Timmermanns

6 Gedanken zu „zur Diskussion gestellt: „HIV und Strafrecht: Vier Prinzipien““

  1. na dann…1…2…3…los!

    als erstes stolpere ich über die reihenfolge.
    aber ich geh erst mal ins stille kämmerlein lesen und komme dann wieder, direkt auf dem dah- blog.

  2. ich sag mal, es gehören immer zwei bei einer ansteckung, der eine der weiß das er positiv ist, der andere denkt, wenn der ja kein kondom benutzt, ist der ja negativ, der würde mir das ja sagen

  3. „…stellt sich die Frage, ob die korrekt angewendete „Viruslastmethode“ heute nicht gleichermaßen bewertet werden müsste,…“

    „Müsste“??? Sie MUSS gleichermaßen bewertet werden, da Sex unter EKAF-Bedingungen sogar als noch saferer gilt als Kondom-Sex mit nachweisbarer Viruslast!

    Sex unter EKAF-Bedingungen IST Safer Sex und kann daher nicht anders bewertet werden!

    Ich würde auch warnen von „Viruslastmethode“ zu sprechen, weil dieses Wort doch sehr an die für die Schwangerschaftsverhütung sehr unsichere Knaus-Ogino-Methode erinnert.

    Sogar die österreichische Justiz behandelt inzwischen EKAF-Sex genauso wie Kondomsex als Safer Sex und sieht von Strafverfolgung ab, wenn diese Bedingungen vorliegen!! (z.B.: http://www.ondamaris.de/?p=21273 )

    Also, lasst mal eure Arschmuskeln locker und formuliert im Interesse der Positiven die Forderung etwas offensiver!!

    Ansonsten finde ich das Papier gut!

  4. ein solches papier unter „insidern i.e. uns die hiv positiven, die community und experten“ zu diskutieren ist ja schön und gut, eine ganz andere qualität hat der verlauf über den inhalt wenn er mit „denjenigen mit denen wir zusammenleben und die einen einfluß auf unseren alltag, unsere lebensqualität haben“, diskutiert.

    insofern halte ich von solchen „bauchpinseleien immer weniger. wir erklimmen ungeahnte intellektuelle höhen, erfreuen uns ob unserer fähigkeit einer besonders gut formulierten ausdrucksweise, echauffieren uns in unseren veranstaltungen über die gesellschaft und die steine die man uns immer wieder in den weg legt, aber schaffen es nicht bzw wollen nicht auf diejenigen zuzugehen die unseren alltag zu dem machen – gemacht haben wie er sich uns heute präsentiert. falls der inhalt meines posting unverständlich erscheint . . .

    http://bfriends.brigitte.de/foren/sex-und-verhuetung/131902-praevention-aufklaerung-strafrecht-im-kontext-zu-hiv.html

  5. Ich unterstuetze den Inhalt dieses Papiers. Nur wer eine mehrfach bestaetigte positive HIV Diagnose hat, kennt seinen HIV Status. Safer Sex mit jemand, der von seiner HIV Infektion nichts weiss ist gefaherlicher als ungeschuetzter Sex mit jemand der eine wirksame HIV Therapie einnimmt. Wenn wir von verantwortungsbewusstem Umgang sprechen, muesste dann jeder der keinen regelmaessigen HIV Test durchfuehrt und sexuell aktiv ist, strafrechtlich verfolgt werden. Wir muessen in der HIV Praevention umdenken: Kondome zum Schutz vor einer HIV Uebertragung sind bei Sex unter HIV-negativen Paaren angebracht, oder bei Partnern die eine nachweisbare Viruslast haben. Menschen mit HIV, die eine wirksame HIV Therapie einnehmen, koennen zur HIV Praevention eher auf das Kondom verzichten als andere.

  6. Hallo ihr alle 😉
    Nun, ich bin der Meinung, dass es schon Pflicht sein sollte , einen anderen Menschen darüber in Kenntis zu setzen, dass man positiv ist .Zumindest dann, wenn man nicht auf der Ausübung von „safer Sex“ besteht.
    Schließlich ist es doch sogar selbstverständlich, einen Mitmenschen darüber aufzuklären, wann man Grippe oder Tuberkulose hat.
    Sicher, diese Krankheiten sind „leichter“ sprich durch die Luft übertragbar.
    Nun, dann nehmen wir als Beispiel eben den Genitalpilz oder eine , nur über Blut übertragbare Hepatitis.
    Ich denke es „gehört“ sich einfach so; es hat etwas mit dem Respekt meinem Sexualpartner gegenüber zu tun, mit Menschlichkeit und dem Nichtbeharren auf Engstirnigkeiten. So frei nach dem Motto: „Naja, DU! hättest ja schließlich auch ein Kondom benutzen können“
    Es geht hier ja eben nicht „nur“ um einen Scheidenpilz oder um eine andere Geschlechtskrankheit,(obwohl es bei selbigen sicherlich ganz selbstverständlich gefordert würde, sie mitzuteilen), sondern um eine Krankheit, die unbehandelt zum Tode führt.
    Wie es nun“durchgesetzt“ werden, die Einhaltung dieser Regel kontrolliert oder gar bestraft werden sollte, steht auf einem ganz anderen Blatt.
    Sicherlich ist es nicht von Nutzen, Menschen, die es-aus welchem Grund auch immer-verabsäumt haben, ihren Sexualprtner über die Infektion aufzuklären, mit Gefängnis zu bestrafen.
    Dennoch sollte von Seiten der AIDS Hilfe die Aufklärung des Partners propagiert werden.
    Durch Poster, Plakate und Brogüren müsste der moralische Druck erhöht werden, es zu offenbaren.
    Sozusagen als Akt der Menschlichkeit unterstützung finden, in den Augen der AIDS-Hilfe.
    Ansonsten sehe ich die Gefahr, dass die Stigmatisierung noch zunehmen wird, vielleicht aus Angst , vielleicht aus dem Gedanken heraus:“ Wenn „die“ so locker darüber hinweggehen, wenn ein Positiver die Leute ansteckt, können „die“ auch nicht mit meiner Unterstützung rechnen“
    Ich wäre also dafür, Menschen, die es unterlassen haben, ihren Sexualpartner über die Infektion zu unterrichten und dennoch nicht auf „safer“ Sex bestanden haben, nicht rechtlich zu belangen, andererseits ein ganz klares Zeichen zu setzen, dass man solch ein Verhalten in keiner Weise unterstützt.

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