London: adieu Therapiefreiheit ?

Therapiefreiheit adieu ? HIV-Positive in London stehen vor größeren Veränderungen: standardmäßig bekommen sie als Erst-Therapie zukünftig aufgrund einer Rabatt-Vereinbarung bestimmte Medikamente.

HIV-Positive, die eine antiretrovirale Therapie beginnen, erhalten in London seit April 2011 bevorzugt Abacavir plus 3TC (als Kombination vermarktet unter dem Handelsnamen Kivexa®) plus Efavirenz (vermarktet als Sustiva®). Bisher wurde als Erst-Therapie bevorzugt Tenofovir plus FTC plus Efavirenz (vermarktet unter dem Handelsnamen Atripla®) eingesetzt. Die Umstellung bedeutet für die Positiven auch zwei Pillen pro Tag statt einer Pille pro Tag.

Weitere Änderung: Positive, die eine Proteasehemmer-basierte Therapie beginnen oder zu ihr wechseln, erhalten bevorzugt Atazanavir (Handelsname Reyataz®).

Beide Veränderungen basieren auf einer Rabatt-Vereinbarung, die das ‚London HIV Consortium‘ (LHC) mit Arzneimittel-Herstellern geschlossen hat. Das LHC vertritt die Mehrzahl der Londoner Krankenhäuser und ‚primary care trusts‘ (PCT, Behandlungszentren des National Health Service). Da in London 47% der britischen Positiven die in Behandlung sind leben, hat das LHC eine entsprechend große Verhandlungsmacht und kann umfangreiche Rabatt-Vereinbarungen erzielen (25% unter Listenpreis).

Ein 'primary care trust' in Großbritannien (hier: Jericho Health Center, Oxford; Foto: Kaishu Tai)
Ein 'primary care trust' in Großbritannien (hier: Jericho Health Center, Oxford; Foto: Kaishu Tai)

Die Neuregelung gilt seit April 2011 (und bis April 2013) – für alle HIV-Positivem, die erstmals eine antiretrovirale Therapie beginnen, oder die zu einer Second-Line – Therapie mit einem Proteasehemmer wechseln.

Die Neuregelung steht im Einklang mit der aktuellen (3 Jahre alten) britischen HIV-Therapierichtlinie; zudem soll laut einem Bericht von ‚hiv treatment update‘ kein Positiver gezwungen werden, ein Medikament mit signifikanten Nebenwirkungen oder Einschränkungen der Lebensqualität zu nehmen. Zudem ist kein Medikament prinzipiell von der Verordnung ausgeschlossen.

Allerdings besteht für Medikamente  mit höheren Kosten (wie Raltegravir, Handelsname Isentress®) nur eingeschränkter Zugang. So heißt es seitens des NHS eindeutig

„Reserve use of the more expensive drugs (raltegravir) to agreed clinical indications“.

Und – ebenfalls Kosten-motiviert – zum Einsatz von Proteasehemmern

„Use of least expensive PI (atazanavir) where is it is clinically appropriate“.

Beteiligte in Großbritannien äußern Bedenken gegenüber der Neuregelung – u.a. hinsichtlich potentieller Nebenwirkungen, sind doch immer wieder Berichte über möglicherweise erhöhte Risiken von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Abacavir sowie Bedenken hinsichtlich des Ausmaßes der Wirksamkeit von Abacavir bei Positiven mit hoher Viruslast laut geworden.

Hintergrund der Maßnahme ist auch zunehmender Kostendruck im britischen Gesundheitswesen. So sollen aufgrund der höheren HIV-Prävalenz allein 19% der gesamten (!) Ausgaben des National Health Service (NHS) im Großraum London auf Aids-Medikamente entfallen. Entsprechend groß ist die Bedeutung  von Einsparmöglichkeiten hier für das Gesamt-Budget des NHS.

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„Bevorzugte Erst- und Zweit-Therapie“ – das bedeutet im Klartext auch: sowohl Arzt als auch HIV-Positiver haben nicht mehr die freie Wahl der Therapie (wie in Deutschland). Zudem bringt die Neuregelung klar zum Ausdruck, dass Entscheidungskriterium nicht mehr einzig die medizinischen Erfordernisse und Situation des Patienten sind, sondern vor allem auch Kosten-Aspekte.

 

Immer weiter dringt die Gesundheits-Ökonomie vor – statt eines eindeutigen Primats der medizinischen Situation und Bedürfnisse des Patienten.

Bisher haben wir in Deutschland Therapiefreiheit. Dies bedeutet: allein der Arzt entscheidet, und allein aufgrund seiner fachlichen Kompetenz, welche Behandlungsmethode er frei wählt und dem Patienten vorschlägt. Eine Freiheit, die auch in unserem Interesse als HIV-Positive ist – und die wir zu schätzen lernen und verteidigen sollten.

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weitere Informationen:
hiv treatment update april 2010: HIV drug prescribing in London: changes from this month
i-base 23.03.2011: Changes to HIV drug prescribing in London
London Specialised Commissioning (NHS) April 2011: Improving the cost of ARVs in London – Summary of ARV prescribing messages for London (pdf)
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