Therapiefreiheit : Therapieumstellung, um Versorungs-Kosten zu senken ? Das wirft Fragen auf …

In Großbritannien wird die Zusammenstellung der antiretroviralen Therapie zukünftig auch von Kosten-Gesichtspunkten bestimmt (siehe ondamaris 29.08.2012: Einschränkung der Auswahl der ART-Medikamente – erste Untersuchung) Die vorgelegte Studie aus London zeigt ein Spannungsfeld in der Gesundheitsversorgung auf, in dem auch wir Positive uns mehr und mehr bewegen.

Auf der einen Seite sollen die Kosten von HIV-Therapien eine Akzeptanz durch die Versichertengemeinschaft behalten, und auf der anderen Seite soll gleichzeitig eine Auswahl von guten Therapien durch behandelnde Ärzte und Patienten erfolgen. Jede Anforderung für sich ist schon eine Herausforderung. Beide Ziele zusammen verfolgt, haben ein gewisses Konfliktpotential, welches einer Diskussion unter den Beteiligten bedarf.

Es ergeben sich für mich Fragestellungen aus diesem Versuch, die Kosten der Versorgung zu senken, die einer weitergehenden Diskussion bedürfen:

  • Wie wirkt sich eine solche Behandlungsvorgabe auf das Arzt – Patienten Verhältnis aus? Wird das Vertrauen in die für mich als Patienten „richtige“ Entscheidungen des Arztes gestört?

Im NHS sind die Ärzte Angestellte des NHS und damit viel leichter zu lenken als zum Beispiel ein niedergelassener Schwerpunktarzt in Deutschland. Dieses Faktum spricht für eine Belastung des Vertrauensverhältnisses. Es scheint auch so zu sein, das „aufgeklärte“ Patientengruppen wie weiße, homosexuelle Männer eher nicht einem Therapiewechsel unterzogen wurden.

Was ist mit den untersuchten 69 Fällen von „anderen“ (nicht von den Kosten getriebenen) Gründen? Waren das wirklich in allen Fällen medizinische Gründe, die für den Wechsel sprachen, oder hat man es sich einfach gemacht und einfach diese „medizinischen“ Gründe nur vorgeschoben, um eine Diskussion mit dem Patienten zu umgehen? Hier könnte nur eine zweite unabhängige Studie zu jedem Wechselfall etwas Licht ins Dunkel bringen.

  • Wenn mein Arzt mit mir offen und ehrlich die Kostenfrage anspricht und keinerlei wesentliche medizinische Gründe gegen einen Wechsel des PI zu ATV sprechen, würde ich da als verantwortungsbewusster Patient meine Zustimmung geben?

Je offener und transparenter Kostenfragen mit Patienten besprochen werden, desto besser können diese in die gesamte Therapieplanung mit eingehen (diese besteht ja nicht nur aus Kostenerwägungen). Voraussetzung für den Erfolg ist der aufgeklärte Patient (wie auch bei der rein medizinischen gemeinsamen Therapieplanung).

Hier wäre es hilfreich, wenn jeder Patient sich zusätzlich einen unabhängigen Rat von dritter Seite einholen könnte. (Der behandelnde Arzt ist ja als Angestellter des NHS nicht als gänzlich unabhängig anzusehen. – Ist der HIV-Behandler im deutschen Gesundheitssystem immer unabhängig?)

  • Ist es eine gute Idee, den Pharmafirmen durch große Abnahmemengen erhebliche Rabatte abzutrotzen?

Grundsätzlich verändert sich durch den zentralen Einkauf der Medikamente und die Erhöhung der bisherigen Menge eines bestimmten PIs die Verhandlungsposition zu Gunsten der Einkäufer (Versicherte; Steuerzahler). Der Beschaffungsprozess kann sogar in vielen Bereichen transparent geführt werden (aber nicht in allen).

Ein potentieller Kostenvorteil ist aber nur real umzusetzen, wenn man die Therapiefreiheit von Arzt und Patient einschränkt.

  • Soll man sich als HIV Positiver grundsätzlich solchen Modellen verweigern, da diese immer die Therapiefreiheit einschränken? Oder beteiligt man sich aktiv an der Entwicklung solcher Gedankenmodelle?

Eine aktive, fordernde und gestaltende Mitarbeit durch Positive (GIPA!) an solchen Überlegungen erlaubt frühzeitige, weiterreichende Einflussnahme. Diese Beteiligung kann auch zur vollständigen Ablehnung einer angedachten Kostensenkungsmöglichkeit durch die Positiven führen.

Therapiefreiheit : Einschränkung der Auswahl der ART-Medikamente – erste Untersuchung

Der ART-Wechsel von 402 Patienten in London wurde in einer kleinen Studie ausgewertet. Für London gibt es derzeit aus Kostensenkungsbemühungen eine Einschränkung in der Therapiefreiheit für Ärzte und Patienten. Es wurde untersucht, wie viele Menschen aus Kostengründen ihre ART gewechselt haben.

In London wohnen ca. 47% der HIV-Positiven Großbritanniens, die in Behandlung sind.

Die Gesundheitsversorgung ist in diesem Land sehr stark durch den nationalen Gesundheitsdienst NHS – National Health Service – geprägt. Die Kosten für den NHS werden aus Steuermitteln gedeckt und nicht wie in Deutschland durch Sozialabgaben.

Entscheidungen über eine durch den NHS festgelegte HIV-Therapieform wirken sich also ggf. erheblich auf die Kosten des Dienstes aus.

Man hat sich für London im Mai 2011 entschlossen nur aus Kostengründen eine Vorgabe für die Verwendung des Protease Inhibitors (PI) Atazanavir (ATV) an die HIV-Behandler auszugeben (siehe ondamaris 18.05.2011: London: adieu Therapiefreiheit ? ). Danach sollen, wenn im Einzelfall keine besonderen medizinischen Umstände dagegen sprechen, möglichst viele Patienten eine erste Therapie mit Atazanavir beginnen. Auch bereits laufende Therapien sollen möglichst umgestellt werden auf Atazanavir. Hiervon erwartet man im Laufe von 2 Jahren eine Einsparung von ca. 8 Millionen GBP (ca. 10 Millionen €). Erreicht wurde diese Einsparmöglichkeit durch einen höheren Einkaufsrabatt bei der Pharmafirma, die ATV herstellt.

Das ist also schon heute der Stand der Dinge im Reich der Königin von England.

Da die Briten aber auch Evaluationen und eine gewisse Transparenz lieben, hat man gleich einige Untersuchungen zu diesem Kostensenkungsversuch mit aufgelegt. Einschränkungen in der Auswahl der Medikamente aus Kostengründen gehören bei anderen Krankheitsbildern zum Alltag, waren bei HIV jedoch bisher noch nicht zur Anwendung gekommen.

Es wurde nun bei der BHIVA 2012 18th Annual Conference eine erste kleine Studie präsentiert, die die kurzfristigen Ergebnisse zu dieser Sparmaßnahme untersucht.

Betrachtet wurden die aufgetretenen 402 Fälle eines Wechsels in der Therapie zwischen April 2011 und Januar 2012 in London.

In der Olympiastadt waren 2444 Menschen in einer ART während diesem Zeitraum. Davon haben 402 Personen ihre Therapiezusammensetzung während der 9 Monate geändert – und die wurden dann genauer unter die Lupe genommen.

Übersicht Studie
Übersicht Studie

201 Patienten wechselten ihren PI–Bestandteil in der Therapie. Ein Teil wechselte von der bisherigen Einnahme von ATV weg zu einem anderen PI (21 Personen), der andere Teil (180 Personen) nahm bisher nicht ATV als PI und wäre daher für die vorgesehene Maßnahme potentiell geeignet. Es wurden dann aber nur 153 Patienten auf ATV umgestellt.

In der Untersuchung wurde unterschieden, ob diese Umstellung aus Kostengründen erfolgt ist (in 84 Fällen) oder ob andere Gründe (z.B. Unverträglichkeit des bisherigen PI) maßgeblich waren – wie in den verbleibenden 69 Fällen.

Zusätzlich wurde abgefragt, wie viele Patienten innerhalb von 3 Monaten die Einnahme von ATV wieder abgebrochen haben. In beiden Gruppen waren dies rund 15% der Patienten.

Was ist das Ergebnis der Untersuchung?

  • Der Wechsel zu ATV rein aus Kostengründen führt nicht zu einer erhöhten kurzfristigen Unverträglichkeit von ATV in dieser Gruppe gegenüber der Gruppe die ATV aus anderen (vorwiegend medizinischen) Gründen eingenommen hat. In beiden Fällen beträgt die Abbruchrate ca. 15%.
  • Die Wechsler sind überproportional häufig Schwarze und Heterosexuell. (Das führt mich zu der Vermutung, dass diese Gruppe sich leichter in einen Wechsel „hineindrängen“ lässt.)
  • Die Studienverfasser verweisen zwar auf statistische Korrekturfaktoren für diesen Effekt und behaupten daher, dass es keine Abweichungen zur Gesamtgruppe gibt; weil es sich aber um eine sehr kleine Zahl von untersuchten Fällen handelt, scheint mir hier die Statistik zu weit ausgelegt worden zu sein. Ich würde lieber nur die absoluten Fälle und ihre augenscheinliche Tendenz betrachten wollen. Dann erkennt man schnell, wer besonders häufig einen Wechsel zu ATV hin gemacht hat.
Studienergebnisse
Studienergebnisse
  • Die Studie ist nur eine kurze Momentaufnahme mit einer sehr geringen Zahl von Fällen und kann nichts aussagen über die langfristigen Effekte der Maßnahme. Es könnte immerhin sein, dass es sich aus medizinischer Sicht erweist, dass die kosteninduzierten ATV – Wechsel zu schlechteren Ergebnissen im virologischen Bereich führt.

London: adieu Therapiefreiheit ?

Therapiefreiheit adieu ? HIV-Positive in London stehen vor größeren Veränderungen: standardmäßig bekommen sie als Erst-Therapie zukünftig aufgrund einer Rabatt-Vereinbarung bestimmte Medikamente.

HIV-Positive, die eine antiretrovirale Therapie beginnen, erhalten in London seit April 2011 bevorzugt Abacavir plus 3TC (als Kombination vermarktet unter dem Handelsnamen Kivexa®) plus Efavirenz (vermarktet als Sustiva®). Bisher wurde als Erst-Therapie bevorzugt Tenofovir plus FTC plus Efavirenz (vermarktet unter dem Handelsnamen Atripla®) eingesetzt. Die Umstellung bedeutet für die Positiven auch zwei Pillen pro Tag statt einer Pille pro Tag.

Weitere Änderung: Positive, die eine Proteasehemmer-basierte Therapie beginnen oder zu ihr wechseln, erhalten bevorzugt Atazanavir (Handelsname Reyataz®).

Beide Veränderungen basieren auf einer Rabatt-Vereinbarung, die das ‚London HIV Consortium‘ (LHC) mit Arzneimittel-Herstellern geschlossen hat. Das LHC vertritt die Mehrzahl der Londoner Krankenhäuser und ‚primary care trusts‘ (PCT, Behandlungszentren des National Health Service). Da in London 47% der britischen Positiven die in Behandlung sind leben, hat das LHC eine entsprechend große Verhandlungsmacht und kann umfangreiche Rabatt-Vereinbarungen erzielen (25% unter Listenpreis).

Ein 'primary care trust' in Großbritannien (hier: Jericho Health Center, Oxford; Foto: Kaishu Tai)
Ein 'primary care trust' in Großbritannien (hier: Jericho Health Center, Oxford; Foto: Kaishu Tai)

Die Neuregelung gilt seit April 2011 (und bis April 2013) – für alle HIV-Positivem, die erstmals eine antiretrovirale Therapie beginnen, oder die zu einer Second-Line – Therapie mit einem Proteasehemmer wechseln.

Die Neuregelung steht im Einklang mit der aktuellen (3 Jahre alten) britischen HIV-Therapierichtlinie; zudem soll laut einem Bericht von ‚hiv treatment update‘ kein Positiver gezwungen werden, ein Medikament mit signifikanten Nebenwirkungen oder Einschränkungen der Lebensqualität zu nehmen. Zudem ist kein Medikament prinzipiell von der Verordnung ausgeschlossen.

Allerdings besteht für Medikamente  mit höheren Kosten (wie Raltegravir, Handelsname Isentress®) nur eingeschränkter Zugang. So heißt es seitens des NHS eindeutig

„Reserve use of the more expensive drugs (raltegravir) to agreed clinical indications“.

Und – ebenfalls Kosten-motiviert – zum Einsatz von Proteasehemmern

„Use of least expensive PI (atazanavir) where is it is clinically appropriate“.

Beteiligte in Großbritannien äußern Bedenken gegenüber der Neuregelung – u.a. hinsichtlich potentieller Nebenwirkungen, sind doch immer wieder Berichte über möglicherweise erhöhte Risiken von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Abacavir sowie Bedenken hinsichtlich des Ausmaßes der Wirksamkeit von Abacavir bei Positiven mit hoher Viruslast laut geworden.

Hintergrund der Maßnahme ist auch zunehmender Kostendruck im britischen Gesundheitswesen. So sollen aufgrund der höheren HIV-Prävalenz allein 19% der gesamten (!) Ausgaben des National Health Service (NHS) im Großraum London auf Aids-Medikamente entfallen. Entsprechend groß ist die Bedeutung  von Einsparmöglichkeiten hier für das Gesamt-Budget des NHS.

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„Bevorzugte Erst- und Zweit-Therapie“ – das bedeutet im Klartext auch: sowohl Arzt als auch HIV-Positiver haben nicht mehr die freie Wahl der Therapie (wie in Deutschland). Zudem bringt die Neuregelung klar zum Ausdruck, dass Entscheidungskriterium nicht mehr einzig die medizinischen Erfordernisse und Situation des Patienten sind, sondern vor allem auch Kosten-Aspekte.

 

Immer weiter dringt die Gesundheits-Ökonomie vor – statt eines eindeutigen Primats der medizinischen Situation und Bedürfnisse des Patienten.

Bisher haben wir in Deutschland Therapiefreiheit. Dies bedeutet: allein der Arzt entscheidet, und allein aufgrund seiner fachlichen Kompetenz, welche Behandlungsmethode er frei wählt und dem Patienten vorschlägt. Eine Freiheit, die auch in unserem Interesse als HIV-Positive ist – und die wir zu schätzen lernen und verteidigen sollten.

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weitere Informationen:
hiv treatment update april 2010: HIV drug prescribing in London: changes from this month
i-base 23.03.2011: Changes to HIV drug prescribing in London
London Specialised Commissioning (NHS) April 2011: Improving the cost of ARVs in London – Summary of ARV prescribing messages for London (pdf)
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USA: Zwang zu veralteten Aids- Medikamenten für Positive mit niedrigem Einkommen in South Carolina

HIV-Positive mit geringem Einkommen im Gesundheitsprogramm ‚Medicaid‘  müssen im US-Bundesstaat South Carolina zukünftig zunächst generische Aids-Medikamente der „ersten Generation“ wie AZT nehmen. Dies beschloss der Senat des Bundesstaats.

Menschen mit besonderer Bedürftigkeit erhalten in den USA Medizin-Leistungen über das staatliche Programm ‚Medicaid‘. Über 46 Millionen Bürger der USA erhalten Leistungen aus Medicaid.

Im US-Bundesstaat South Carolina sollen HIV-Positive, die Leistungen von Medicaid erhalten, zukünftig aus Kostengründen gezwungen werden, zunächst Aids-Medikamente der ‚ersten Generation‘ zu verwenden, die als Generika erhältlich sind. Hierzu gehören in den USA Didanosin (Handelsname Videx®), AZT (Handelsname Retrovir®) und Stavudin (Handelsname Zerit®). Erst wenn ein Arzt anschließend feststellt, dass generische Aids-Medikamente nicht ausreichend wirksam sind, darf er/sie die anderen (kostenintensiveren weil patentgeschützten) Aids-Medikamente verordnen.

Vergleichbare Regelungen sollen auch für Patienten mit Krebs oder psychischen Störungen gelten. Eine entsprechende Regelung, die ab 1. Juli 2011 Anwendung finden soll, beschloss der Senat des US-Bundesstaats South Carolina Anfang Mai 2011. Der Senat verspricht sich von der Neuregelung aufgrund einer Schätzung der US-Gesundheitsverwaltung jährliche Einsparungen in Höhe von 991.000 US-$. Da zukünftig mehr Aids-Medikamente aus dem Patentschutz fallen und auch als Generika erhältlich sein werden, dürften die Einsparungen zukünftig steigen.

Ob auch Faktoren wie verschiedene Nebenwirkungs-Spektren der Aids-Medikamente erster Generation im Vergleich mit denen mit späterer Zulassung oder die Lebensqualität der betroffenen HIV-Positiven in der Debatte eine Rolle spielten, ist nicht bekannt.

Didanosin und AZT gehören zu den ersten je zugelassenen Medikamenten gegen HIV. Didanosin wird wegen seiner Nebenwirkungen (mitochondriale Toxizität) üblicherweise in Europa nicht mehr in Erst-Therapien eingesetzt, sondern nur als Ausweich-Medikament genutzt. Auch AZT ist für seine Nebenwirkungen (u.a. ebenso mitochondriale Toxizität) bekannt. Stavudin (Handelsname Zerit®) soll in Europa aufgrund seiner Toxizität nur in antiretroviralen Therapien eingesetzt werden, wenn keine anderen Alternativen bestehen, teilte die europäische Arzneimittelbehörde EMA im Februar 2011 mit.

‚Medicaid‘ ist eine sozialhilfeartige Leistung. Es ist „ein Gesundheitsfürsorgeprogramm in den USA, das die Bundesstaaten organisieren und Bundesstaat und Bundesregierung paritätisch finanzieren. … Zielgruppe sind Personenkreise mit geringem Einkommen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen. Das Programm wird weitgehend aus Steuermitteln betrieben. Der Erhalt von Leistungen ist an eine Bedürftigkeitsprüfung geknüpft.“ (wikipedia)

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weitere Informationen:
Bloomberg 03.05.2011: Senate resumes debate on SC’s $5.8B spending plan
The Sun News 28.04.2011: Senators: Generic drugs can trim Medicaid costs
Go Upstate 27.04.2011: SC lawmakers halt access to brand-name drugs
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