HIV und Sex: soll ich es sagen oder schweigen? – Gedanken einer HIV-positiven Frau

„Wie können wir HIV-positive Frauen mit dem Geheimnis „HIV-positiv“ umgehen, ohne auf Sex zu verzichten?“, fragt Saskia Schreiner, und ergänzt „Unser Leben ist stressig genug, daher sollte etwas, das Spaß und Befriedung bereitet nicht noch zusätzlich kompliziert sein.“

Doch – unkompliziert ist das Leben mit HIV nicht …

Der Text erschien zuerst im „Rainbow Magazin“ der Aids-Hilfe Stuttgart (Ausgabe 66 Frühjahr 2011).

HIV und Sex: soll ich es sagen oder schweigen? – Gedanken einer HIV-positiven Frau

Saskia Schreiner (Pseudonym)

Ich weiß nicht, wie es anderen ging. Als ich im sonnigen Monat August 2010 auf dem Weg zur Arbeit am Kiosk vorbeikam und bei einem flüchtigen Blick auf die Zeitungsständer die Schlagzeilen der Bild-Zeitung zum Prozess gegen die No-Angels-Sängerin Nadja Benaissa las „HIV – Sex – Haft“, hat mich das nicht unberührt gelassen. Beim Lesen der Schlagzeilen oder der ausführlichen Berichte in der Stuttgarter Zeitung über die Details des Sexuallebens von Nadja Benaissa kam in mir eine bedrückte Stimmung auf, mehr noch, ich solidarisierte mich mit der Angeklagten und fühlte mich ebenfalls kriminalisiert. Warum ist das so?

Soll ich es sagen oder lieber schweigen?

HIV ist ein Tabu-Thema und wer als HIV-Infizierte ein sexuell erfülltes Leben lebt, hat gleich mehrere Probleme, vor allem dann, wenn man sich bewusst dafür entscheidet, die HIV-Infektion nicht öffentlich zu machen. Mir hat man vor 24 Jahren, im Alter von 28, die Diagnose HIV mitgeteilt. Ich habe mich dafür entschieden, meine Infektion nicht öffentlich zu machen. Die Hauptbeweggründe waren und sind vor allem beruflich bedingt, die Angst vor Diskriminierung am Arbeitsplatz und bei der Arbeitssuche, aber auch Angst vor Diskriminierung im alltäglichen Leben. Das Geheimnis für sich zu behalten, ist einfacher gesagt als getan, vor allem im Privatleben und in Partnerschaften. Nadjas Leben, zumindest wie es in der Presse wiedergegeben wurde, zeigt, wie schwierig es ist, als HIV-Infizierte etwas Normalität ins Leben zu bringen. Nicht nur ihr geht es so, sondern auch den vielen Infizierten hier in Deutschland und in aller Welt.

Ich frage mich: Was können wir HIV-positive Hetero-Frauen aus dem Prozess lernen? Wie können wir mit dem Geheimnis „HIV-positiv“ umgehen, ohne auf Sex zu verzichten? Unser Leben ist stressig genug, daher sollte etwas, das Spaß und Befriedung bereitet nicht noch zusätzlich kompliziert sein. Das ist es aber, denn HIV und Sex sind nicht voneinander zu trennen. Das zeigt der Prozess gegen Nadja sehr deutlich; die Bild-Zeitung hat das Tabu-Thema im Sommerloch schonungslos medial umgesetzt.

Ich finde es sehr mutig und authentisch, wie Nadja ihre Beziehungen und ihr Sexualleben beschreibt. Sie beschreibt damit erst mal nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich wird der Sachverhalt dadurch, dass sie weiß, dass sie HIV-positiv ist.

Nadja macht Mut über ein tabuisiertes Thema zu sprechen

Nach meiner HIV-Diagnose – das war in den 1980er Jahren, als Politiker wie Herr Gauweiler kundtaten, dass man HIV-Positive „wegschließen“ müsste – habe ich mir natürlich die Frage gestellt, ob Sexualität in einem Leben mit HIV überhaupt Platz hat. Ich habe mich dafür entschieden.

In den zurückliegenden 24 Jahren meines Lebens mit HIV und Sex gab es viele Situationen, die für mich und meine Partner nicht problemfrei waren. Ähnlich wie Nadja musste auch ich lernen, was es heißt, HIV und Sex als Normalität des eigenen Lebens zu akzeptieren. Ein Entkommen gibt es nicht. Bei diesem Thema ist man völlig auf sich selbst gestellt. Ich selbst habe lange gebraucht, für mich einen ’gehbaren’ Weg zu finden. Auch heute muss ich mir immer wieder Zeit für das Thema „HIV und Sex“ nehmen, denn Vorbilder gibt es hierzu kaum. Hinzu kommt, dass auch ich in einer Familie aufgewachsen bin, die nicht über Sex redet und über HIV schon gar nicht.

Meine Reaktion auf die Prozessschlagzeilen um Nadja hat mir gezeigt, wie verletzlich ich bin. Die Schwäche, die ich empfinde, die Opferhaltung, in die ich hineinrutsche, versuche ich in Stärke umzuwandeln, indem ich darüber schreibe. Schreiben ist für mich umso wichtiger, weil ich meine Krankheit geheimhalte und nicht über HIV sprechen kann – bis auf wenige Ausnahmen. Vor kurzem habe ich einer Freundin erzählt, dass ich HIV-positiv bin, denn sie fragte immer wieder nach: „Da ist doch irgendetwas, das dich belastet?“ Irgendwann, als wir zusammen im Auto saßen, habe ich es ihr gesagt. Ich weiß, dass mein Geheimnis bei ihr gut aufgehoben ist.

Als ’Nebenwirkung’ meiner allgemeinen Geheimhaltung habe ich eine gewisse Sprachlosigkeit zum Thema HIV und AIDS entwickelt. Hinzu kommt meine Erfahrung, dass es nicht einfach ist, mit Partnern über dieses Thema zu sprechen. In der Regel wird es kurz angesprochen, dann wird schnell das Thema gewechselt.

Der Medienrummel um Nadja hat mich bewogen, einige Erfahrungen aus meinem Leben mit HIV und Sex zu Papier zu bringen. Wichtig ist mir, daß wir den Mut haben, darüber außerhalb der Gerichtsräume zu sprechen und dabei eine Kultur entwickeln, die das Thema enttabuisiert. Das hilft uns selbst und darüber hinaus auch anderen.

Kurz zusammengefasst die Kerngedanken, die mir im Umgang mit HIV und Sex wichtig sind:

– Jede Beziehung und partnerschaftliche Situation ist anders. Daher gibt es keine Vorgehensweise, über HIV und Sex zu sprechen, die für alle und grundlegend richtig ist.

– Das Thema „HIV und Sex“ hat bei mir auch nach über 20 Jahren immer noch eine Stress-Komponente. Es liegt an mir, den Stress möglichst gering zu halten. Nur ich kann dafür sorgen. Nicht zu übersehen ist, dass Beziehungen – egal welcher Art – auch ohne HIV nicht stressfrei sind. In vielen Partnerschaften existiert eine gewisse Sprachlosigkeit beim Thema Sex; es fällt schwer, eigene sexuelle Wünsche zu äußern. Daher mag es hilfreich sein, wenn wir als Frauen mit HIV uns austauschen und gegenseitig unterstützen.
Da ich nicht bei der ersten sexuellen Begegnung weiß, ob dies der Partner fürs Leben ist, ob die sexuelle Beziehung ein „one-night-stand“ bleibt oder sich mehr aus dem Abend zu zweit entwickelt, liegt es an der Situation und der Person, ob ich es über die Lippen bringe und mich entscheide zu sagen „Ich bin HIV-positiv“.
Wenn ich es nicht sage, erwächst es häufig aus dem Gedanken „Was geschieht, wenn mein Partner mein Geheimnis kennt? Was ist, wenn er es anderen erzählt?“ Diese Angst ist real, denn vor Diskriminierung im Freundeskreis, in der Verwandtschaft und am Arbeitsplatz ist keine/r sicher.

Ein weiterer Gedanke, der dazu führt, es zu verschweigen, ist: „Was tue ich, wenn die Person, mit der ich Sex haben möchte, sich von mir abwendet, wenn ich ihr sage, dass ich HIV-positiv bin?“ Das tut weh und in einer Stimmung emotionaler Nähe und Sehnsucht kann es passieren, dass man das existierende Risiko verdrängt. Was passiert dann? Spätestens am nächsten Morgen beim Aufwachen beginnt ein Tag voller Sorge und Panik. Es kostet sehr viel Kraft, diese belastenden Situationen auszuhalten.

Ein weiterer Gedanke bestimmt manchmal das Vorgehen: „Meine Viruslast ist so gering, da bin ich als Frau auf der sicheren Seite und werde wohl kaum den Partner anstecken.“ So kann ungeschützter Geschlechtsverkehr begründet werden, jedoch mit den gleichen Sorgen und Ängsten am nächsten Tag.

– Manchmal denke ich auch: „Warum muss ich die ganze Verantwortung und Belastung tragen, mich und den anderen zu schützen? Ist nicht die andere Person für das eigene Tun verantwortlich, wenn sie nicht auf ein Kondom besteht?“

– Wenn möglichst wenig Personen von meiner Infektion erfahren sollen und ich mir das belastende Für und Wider beim kuscheligen Beisammensein ersparen möchte, dann genieße ich Sex, vor allem Schmusen, oralen Sex, lecken, knutschen etc. – und da können locker mal zwei Stunden tollster Zweisamkeit vergehen. Wenn es zum Geschlechtsverkehr kommt, habe ich das Kondom bei der Hand. Wenn ich hier proaktiv vorgehe, habe ich bisher keinen Mann erlebt, der das nicht akzeptiert, wenn auch zähneknirschend. Das ist für mich die einfachste und stressärmste Variante von Sex mit HIV, denn sie verhindert – so die aktuelle Gesetzeslage -, dass ich mich wegen Körperverletzung und Ansteckung strafbar mache.

– Meine Erfahrung ist, dass es auch in mehrjährigen eheähnlichen Partnerschaften nicht einfach ist, mit Männern über das Thema HIV und Sex zu sprechen. Immer muss ich das Thema vorbringen, muss ich einschätzen, wann eine Situation passt, um etwas, das mich bewegt oder bedrückt, anzusprechen.

Solange HIV und AIDS tabuisiert und kriminalisiert wird, wird sich zu diesem Thema wohl kaum jemand offen äußern – auch ich werde es nicht tun. Wie Nadja habe auch ich über Sex und das Risiko einer Infektion mit meinem Arzt immer wieder besprochen, nicht aber mit allen meinen Partnern. Ich habe medizinische Studien gelesen, bin zu Vorträgen zu diesem Thema gegangen und bin froh um die Angebote der AIDS-Hilfe und AIDS-Stiftung. Die Verantwortung für mein eigenes Handeln nimmt mir aber niemand ab und die Gesellschaft, in der ich lebe, ist, wie sie ist.

Für HIV-Positive ist das Thema „HIV und Sex“ Teil ihres Lebens. Wie der Prozess gegen Nadja zeigt, ist dies für Nichtbetroffene beziehungsweise diejenigen, die ihren HIV-Status nicht kennen, keineswegs der Fall.

Ich habe einige Wünsche an alle Beteiligten und die Gesellschaft:

  • Ich wünsche mir, dass Betroffene – einschließlich der Ärzte, Selbsthilfeorganisationen etc. – offener und unverkrampfter über HIV und Sex reden, sich austauschen und wenn möglich auch gegenseitig unterstützen. Dadurch gewinnen wir an Selbstbewusstsein und Lebensqualität.
  • Um dem Thema die Irrationalität zu nehmen, ist mehr Forschung, Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit erforderlich.
  • Eine HIV-Infektion führt aufgrund vieler Vorurteile eher zu Schweigen und zur Isolation als zu Offenheit. Unsere Gesellschaft braucht mehr Offenheit im Umgang mit HIV-Infizierten und tabuisierten Themen wie Sex und HIV. Darüber zu reden und zu schreiben ist eine Möglichkeit das Schweigen und die Isolation aufzubrechen.
  • Ich wünsche mir, irgendwann einmal nicht mehr den Druck zu verspüren, über ein Thema wie dieses unter einem Pseudonym zu schreiben.

Vielen Dank an ‚Saskia Schreiner‘ für den Text sowie an die Aids-Hilfe Stuttgart für die Genehmigung der Übernahme!

4 Gedanken zu „HIV und Sex: soll ich es sagen oder schweigen? – Gedanken einer HIV-positiven Frau“

  1. auf den punkt gebracht . . . das gleiche hat mich Jahrelang ebenfalls beschäftigt, nicht losgelassen . . .

    es spielt keine rolle ob man mann oder frau ist. in dem moment wo man man es einer partnerin erzähle dann ist idr dann ende gelände.

    schön das es noch jemand gibt der erkannt hat das HIV + SEX + TOD/STERBEN (das ist immer noch ein Tabu darüber zu reden bzw wird von Vielen immer noch mit HIV assoziiert) ne Bombe ist . . die alle übrigen Sprengstoffe wie n Glas Brause aussehen lassen . . .

  2. nur ganz kurz, denn eigentlich inspiriert mich dieser text zu mehr…

    das virus hatte nie diese macht über mich, dass ich aus scham und angst schweigen und/oder meine libido zurückstellen wollte oder musste. sprich: hiv ist mir beim sex nie im weg gestanden. zugegeben, anfangs suchte ich mir hiv-positive sexualpartner und erst nach ein paar jahren war ich frei unabhängig vom hiv-staus zu begehren. bei liebesbeziehungen wars mitunter etwas komplizierter und auch schmerzhaft. aber sex? ich musste all die jahre nie darauf verzichten, warum auch?

  3. als kleine ergänzung: ich spreche auch seit jahren in aller öffentlichkeit über kondomlosen sex und der juristischen folgen, die es für mich haben müsste. ich hätte gerne einen bundesgerichtsentscheid provoziert, das scheint aber gar nicht im interesse der justiz und anderen machtträgern zu sein, sonst wäre ich längst angeklagt.

  4. Ich habe die Diagnose HIV-positiv genau an meinem 17 . Geburtstag 1987 erhalten , war damals so ziemlich eine der ersten Frauen in Deutschland………..und habe mich von Anfang an entschlossen offen und ohne Tabus über dieses Thema zu sprechen. Natürlich habe ich irgendwann aufgehört , die Abfuhren , die daraus resultierten , egal ob in Bezug auf mögliche Partnerschaft oder einfach zwischenmenschlich gesehen , zu zählen……….Habe recht schnell eingesehen , das ich mich erst mal selbst wirklich so anerkennen und lieben muß , wie ich bin , mich als wertvollen Menschen zu sehen , der trotzdem ein Anrecht auf Liebe und Zärtlichkeit hat und bin das angegangen. Sicher waren einige sehr schmerzhafte Ereignisse diesbezüglich dabei , aber hab das immer zum Anlass genommen grade erst recht offen damit zu sein , und mich nicht von einer Gesellschaft an die Wand stellen zu lassen , nur weil die eben nichts oder nur das was in der Bild-Zeitung darüber steht, wissen……….Habe mit meiner gnadenlosen Ehrlichkeit immer wieder bei Menschen punkten können, die sich , neugierig geworden durch meine Art damit so offen umzugehen, damit beschäftigt haben und bis heute meinen Freundeskreis ausmachen , der mir treu zur Seite steht, auch langfristige , erfüllende Partnerschaften sind entstanden in denen das HIV irgendwann kaum mehr Thema war , da ich ein Mensch bin, der sich nicht von seinen Ängsten und Emotionen beherrschen läßt und sich selbst total verrückt macht, habe so 21 Jahre ohne Medikamente geschafft………
    Also , bitte habt Mut , traut Euch und steht zu Euch, wie Ihr seid . Genießt das Leben in vollen Zügen , legt Euch für die Ignoranten, Intoleranten und Dummen ein dickes Fell zu und kämpft um Euren Wert als Mensch………..Ich bin heute eine absolut glückliche ,dankbare , lebenslustige , tiefgründige Frau……….und das verdanke ich nicht zuletzt HIV……………

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