Chemielaborant: Kündigung wegen HIV bleibt bestehen – Berufung erfolglos (akt.5)

Niederlage in der Berufungsverhandlung: die Kündigung eines Chemielaboranten wegen seiner HIV-Infektion bleibt bestehen. Eine Diskriminierung bestehe nicht.

Sebastian F. konnte sich auch in zweiter Instanz nicht durchsetzen. Vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg wurde am 13. Januar 2012 in der Berufungsverhandlung  seine Kündigung wegen HIV-Infektion verhandelt – das Urteil: die Kündigung war rechtens, sie bleibt bestehen, eine Diskriminierung wegen seiner HIV-Infektion sei nicht feststellbar. Auch eine Entschädigung stehe ihm nicht zu, unabhängig von der Frage der Anwendbarkeit des AGG. Es müsse dem Arbeitgeber möglich sein, für die Herstellung von Medikamenten allgemein den Einsatz erkrankter Arbeitnehmer auszuschließen.
Eine Revision beim Bundesarbeitsgericht ist allerdings zugelassen.

Im Mittelpunkt der Argumentation: das „mögliche Restrisiko“, das eine Kündigung rechtfertige. Die Frage, ob das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz AGG hier Anwendung finde, wurde nicht konkret thematisiert – auch weil eine HIV-Infektion im AGG nicht explizit genannt wird.

Dies erfuhr ondamaris von einem Prozessbeobachter.

Der 24-jähriger Chemielaborant wurde von seinem Arbeitgeber fristlos gekündigt, wegen seiner HIV-Infektion. Zudem erhielt er ein sofortiges Hausverbot. Man habe das Wohl der eigenen Kunden zu berücksichtigen, so damals der Arbeitgeber, ein Pharmaunternehmen. In erster Instanz verlor der Chemielaborant vor dem Berliner Arbeitsgericht im Juli 2011 – dies erklärte die Kündigung für rechtens. Das Arbeitsgericht stellte damals u.a. fest:

„Der Arbeitgeber habe den Kläger zudem nicht wegen einer Behinderung diskriminiert und müsse daher auch eine Entschädigung nicht zahlen. Die bloße HIV-Infektion führe nicht zu einer Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit und stelle daher keine Behinderung im Rechtssinne dar.“
„Die Tatbestandsvoraussetzung für den geltend gemachten Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG“ sei „nicht erfüllt“.

Tino Henn, Vorstand der Deutschen Aids-Hilfe, betonte hingegen im Vorfeld der heutigen Verhandlung

„Die Deutsche AIDS-Hilfe unterstützt Sebastian F. dabei. Dazu sagt Vorstandsmitglied Tino Henn: „Menschen mit HIV wegen ihrer Infektion zu entlassen ist ein schwerer Fall von Diskriminierung. Wir hoffen sehr, dass das Gericht in der zweiten Instanz klarstellt: HIV ist kein Kündigungsgrund! Da das Kündigungsschutzgesetz in der Probezeit nicht greift, brauchen wir hier die klare Aussage des Gerichts, dass Menschen mit HIV durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz geschützt sind. Ansonsten könnten sich skandalöse Urteile wie dieses wiederholen.“

Am heutigen Freitag, 13.1.2012 erfolgte nun die Verhandlung in der Berufungsverhandlung vor dem Landesarbeitsgericht Berlin. Vertreten wurde Sebastian F. darin wie in der ersten Instanz durch Rechtsanwalt Jörg-André Harnisch und das ‚Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung e.V.‘ (BUG), das als Beistand auftrat (Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Aktenzeichen 6 Sa 2159/11).

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Aktualisierungen
13.01.2012, 14:20: In der Pressemitteilung des Landesarbeitsgerichts heißt es

„Das Landesarbeitsgericht hat die Kündigung für rechtswirksam gehalten. Die Kündigung sei nicht willkürlich und verstoße deshalb nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Dem Arbeitgeber könne nicht verwehrt werden, für die Medikamentenherstellung allgemein den Einsatz erkrankter Arbeitnehmer auszuschließen. Die Entscheidung, einen dauerhaft mit dem HI-Virus infizierten Arbeitnehmer zu entlassen, sei auf dieser Grundlage nicht zu beanstanden. Da das Arbeitsverhältnis das Kündigungsschutzgesetz keine Anwendung finde, komme es auf die soziale Rechtfertigung der Kündigung nicht an.
Dem Arbeitnehmer stehe auch eine Entschädigung nach dem AGG nicht zu. Dabei könne dahinstehen, ob die bloße HIV-Infektion eine Behinderung im Sinne des AGG darstelle und ob der Arbeitnehmer im Vergleich zu anderen erkrankten Arbeitnehmern ungleich behandelt worden sei. Denn eine – einmal angenommene – Ungleichbehandlung des Arbeitnehmers sei wegen des Interesses des Arbeitgebers, jedwede Beeinträchtigung der Medikamentenherstellung durch erkrankte Arbeitnehmer auszuschließen, gerechtfertigt.“

13.01.2012, 17:00: Die deutsche Aids-Hilfe (DAH) bedauert das Urteil und betont, sie wolle erreichen, „dass künftig auch Menschen mit chronischen Erkrankungen durch das AGG vor Diskriminierung geschützt werden.“

14.01.2012, 09:40: der Berliner Fachanwalt für Arbeitsrecht Wolf Reuter kommentiert in seinem Blog

„Das LAG hat dem Bundesarbeitsgericht (Revision zugelassen) eine harte Nuss mit auf den Weg gegeben. Nach der Pressemitteilung kann man eigentlich dahinstehen lassen, ob die HI-Infektion als Behinderung anzusehen wäre (anders vielleicht als die Hepatitis oder Herpesinfektion). Denn das LAG hat in einer intellektuell wirklich scharfen Weise scheinbar darauf abgestellt, ob die angenommene Diskriminierungssituation wirklich eine „andere“ Behandlung des Betroffenen darstellt – verglichen mit (unterstellt) nicht behinderten Arbeitnehmern. Der Arbeitgeber schließt nämlich jede Person von der spezifischen Arbeit aus, die einen Infekt hat, ohne Rücksicht darauf, ob er die Qualität einer Behinderung hat. Übersetzt könnte man auch sagen: Der Laborrauswurf trifft behinderte und nichtbehinderte Mitarbeiter mit einer Infektion gleichermaßen.
Dann liegt auch keine Diskriminierung vor.
Ob das eine geniale Lösung ist und der Realität gerecht wird, soll nun natürlich noch Erfurt entscheiden.“

15.01.2012, 12:00: Arbeitsrechts-Experte Prof. Markus Stoffels von der Universität Osnabrück weist im ‚beck-blog‘ darauf hin, es sei

„nicht sicher, ob die bloße (symptomlose) HIV-Infektion eine Behinderung im Sinne des AGG darstellt. Für eine ausgebrochene AIDS-Erkrankung wird man das wohl bejahen können. Das LAG lässt diese Frage sowie diejenige, ob der im Vergleich zu anderen erkrankten Arbeitnehmern ungleich behandelt worden ist, dahingestellt. Denn eine – einmal angenommene – Ungleichbehandlung des Arbeitnehmers sei wegen des Interesses des Arbeitgebers, jedwede Beeinträchtigung der Medikamentenherstellung durch erkrankte Arbeitnehmer auszuschließen, gerechtfertigt.“

Und Rechtsanwalt A. Martin weist in seinem Blog trotz der „Besonderheit des Falles“ darauf hin

„Zumindest ist eine Kündigung wegen HIV innerhalb der Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes (hier findet es aber wegen der Probezeit keine Anwendung) als personenbedingte Kündigung in der Regel nicht zulässig, da im Grunde von der HIV – Infektion kein Risiko für Dritte ausgeht und auch die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers nicht eingeschränkt ist.“

17.01.2012, 09:00: Juraforum zieht den ( verkürzten ? ) Schluss „Pharmaunternehmen müssen HIV-Infizierte Arbeitnehmer nicht weiter beschäftigen“.

18.01.2012, 09:00: haufe.de titelt zu dem Urteil „Kündigung von Assistent mit Aids-Infektion in der Probezeit = rechtens“, kommentiert dazu allerdings

„Die Frage, ob eine HIV-Infektion (ohne dass die Krankheit ausgebrochen ist) einen personenbedingten Kündigungsgrund darstellen kann, hat das BAG bisher noch nicht entschieden. Dies wird man grundsätzlich verneinen müssen, es sei denn, aus der Tätigkeit des Arbeitnehmers ergibt sich – wie im obigen Fall – eine Gefahr der Infektion anderer Arbeitnehmer oder Dritter (z. B. HIV-infizierte Krankenschwester).“

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weitere Informationen:
Berliner Morgenpost 13.01.2012: Diskriminierung – Chemielaborant klagt gegen Entlassung wegen HIV
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg
Arbeistgericht Berlin 05.08.2011: Arbeitsgericht Berlin weist Klage gegen Kündigung wegen HIV-Infektion ab
Deutsche Aids-Hilfe 29.11.2011: Kündigung wegen HIV – Berliner Chemielaborant muss in der Berufung Recht bekommen!
Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung e.V. (BUG): Hintergrundinformationen Berufung Sebastian F. (pdf)
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg: Pressemitteilung Nr. 05/12 vom 13.01.2012 – „Kündigung eines Arbeitnehmers mit HIV-Infektion“
queer.de 13.01.2012: Urteil in Berlin: HIV-Infektion ist Kündigungsgrund
DAH 13.01.2012: Menschen mit HIV brauchen einen gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung!
Reuter Arbeitsrecht 13.01.2012: HIV ist kein Kündigungsschutz
beck-blog Prof. Markus Stoffels 14.01.2012: Kündigung eines Arbeitnehmers mit HIV-Infektion
RA A. Martin 14.01.2012: LAG Berlin-Brandenburg: Kündigung wegen HIV-Infektion in Probezeit zulässig!
Juraforum 16.01.2012: Pharmaunternehmen müssen HIV-Infizierte Arbeitnehmer nicht weiter beschäftigen
haufe.de 17.01.2012: LAG-Urteil: Kündigung von Assistent mit Aids-Infektion in der Probezeit = rechtens
Financial Times 24.01.2012: Urteil der Woche: Kündigung wegen HIV-Infektion
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6 Gedanken zu „Chemielaborant: Kündigung wegen HIV bleibt bestehen – Berufung erfolglos (akt.5)“

  1. ehrlich gesagt verstehe ich überhaupt nicht, worin das „Restrisko“ bei der Medikamentenherstellung liegen könnte.

    Irgendwie zweifle ich an der Kompetenz der Richter in medizinischen Fragen.

  2. Inwieweit war eigentlich die DAH an dieser Sache beteiligt? Rechtsbeistand oder Einfluss bei der Strategie?

  3. Wenn in Berufung gegangen wurde um zu prüfen ob eine Diskriminierung vorlag, hat das Gericht eindeutig versagt. Es war nie die Frage, so habe ich es verstanden, ob eine Kündigung in der Probezeit rechtens ist sondern ob die Begründung – die sich der Arbeitgeber hätte sparen können – Diskriminierend ist.
    Auch wen HIV nicht explizit im AGG erwähnt wird bedeutet das noch lange nicht, dass der Grund wegen HIV keine Diskriminierung darstellt. Eine Kündigung wegen einer Warze auf der Stirn (steht auch nicht im AGG und ist auch keine Behinderung) würde aber sofort als Diskriminierung anerkannt. Es ist dirkriminierend was deutsche Gerichte urteilen, wie sie sich um das eigendliche Thema drücken und es umgehen.
    Entweder hat es der Anwalt nicht verstanden das eigentliche Anliegen rüber zu bringen oder es lag an der Ignoranz des Richters der kein wirkliches Interesse hatte sich mit damit zu beschäftigen.

  4. dem ersten teil von diego stimme ich zu. auch mach meiner auffassung ging es um kündigung WEGEN hiv – und das ist in meinen augen diskriminierend.

    was die kompetenz des anwaltes betrifft, fachanwalt für „Internationales Kaufrecht – Wirtschaftsrecht – (Wirtschafts-) Strafrecht – Marken- und Domainrecht – Recht der USA“ da habe ich auch so meine zweifel.

    da sollte man schon einen experten i.e. anwalt in sache hiv + recht zu rate ziehen. und davon gibt es einen und/oder zwei. dies ist übrigens die gleiche choose wie bei NB. sie hat in meinen augen ein wald und wiesen anwalt zu rate gezogen, der sich in vielen ausgekannt haben mag aber nicht was hiv betrifft. das es letztendlich ihre entscheidung war, ist natürlich ihre eigene enstcheidung gewesen.

    bzgl des roll – back, dieses gefühl habe ich schon seit einiger zeit ulli. die richterlichen urteile bundesweit in sachen hiv sind da zu unterschiedlich. da fehlt eine klare linie. und da von der regierung – lauthals „da geht s lang“ lärmberger – keine klare richtungsvorgabe kommt wie z.b. in österreich, kann man dies durchaus so auslegen das der poltik – justiz nichts an einer entspannung liegt. ob man daraus eine haltung gegenüber menschen mit hiv sehen – verstehen – kann? ja durchaus . . im sinne einer abwertung von menschen mit hiv im kontext zu ihrem verhalten mit einer infizierung mit dem hivirus als ergebnis. die politk hält sich ja merkwürdig zurück. außer den üblichen praktikanten im gesundheitsministerium die ihre nasen in die kameras zum WAT halten kommt da nichts.

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