Präventionsgedanken 2: weniger Patentrezepte

Abstinenz, Repression – alles keine zweckdienlichen Wege in der HIV-Prävention. Aber – wohin könnte sich Prävention weiter entwickeln? Welche Fragen stehen im Raum?

Weniger Patentrezepte

Heutige Präventionsbotschaften haben oft einen universellen Ansatz – eine auf alle Situationen und Zielgruppen anwendbare ‚Patentlösung‘ (von „Aids geht alle an“ über „immer mit“ bis „raus bevor’s kommt“).
In der persönlichen Situation und Einschätzung von potentiellen Gefährdungen und Risiken hilft das oftmals wenig, wird praxisfremd. Und nicht (effizient) in eigenes Handeln umgesetzt.

Können Präventionsbotschaften noch mehr als bisher auf die individuelle Situation abgestellt werden, auch um ein persönliches Risikomanagement zu ermöglichen? Wie weit können dabei unterschiedliche Infektionsrisiken und ihre Wahrnehmung deutlicher thematisiert werden?
Dies reicht von
Fehleinschätzungen von Infektionsrisiken (Beispiel Analverkehr / Risiko Darmschleimhaut) bis zur deutlich gesenkten Infektiosität bei erfolgreicher antiretroviraler Therapie, und sollte Verharmlosungen wie Übertreibungen vermeiden, aber auch konkrete lebbare Handlungsmöglichkeiten (z.B. für serodiskordante Paare) umfassen.
Nicht nur sagen, was nicht geht, sondern auch was (und unter welchen Umständen) geht.


Eine Veränderung der Botschaften in der Prävention könnte auch beinhalten, dass häufigere / regelmäßige Untersuchungen auf sexuell übertragbare Infektionen auch der eigenen Gesunderhaltung dienen.
Der früher in Großstadt-Szenen teilweise selbstverständliche „schwule
Gesundheits-Check“ ist weitgehend in Vergessenheit geraten.
Gesundheitsvorsorge, einschließlich Untersuchungen auf sexuell übertragbare Krankheiten, sollten dabei auch kostengünstig und niedrigschwellig möglich sein. Hierbei dürften sich Reduzierungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes (z.B. bei Beratung und Untersuchung in Gesundheitsämtern) eher als schädlich erweisen.

HIV ist nicht überall gleich
Wenn, wie das RKI feststellt, großstädtische Ballungsräume den Schwerpunkt der HIV-Epidemie in Deutschland bilden – brauchen wir dann auch eine stärkere Fokussierung der Mittel auf diese Räume? Und vielleicht in diesen Ballungsräumen auch neue Ansätze wie den in San Francisco geplanten ‚HIV-Präventions- Direktor‚?
Muss sich Prävention stärker den jeweiligen Gegebenheiten des jeweiligen Ballungsraums anpassen (was in München funktioniert, muss in Berlin noch lange nicht ebenso funktionieren)?

Die Sichtbarkeit von HIV
HIV und Aids sind heute aus den verschiedensten Gründen wesentlich weniger sichtbar als noch vor einigen Jahren.
Statt im (auch eigenen) Alltag, auf der Straße (Aids- Aktivismus) und in den eigenen Subkulturen (positive und erkrankte Bekannte etc) findet die Auseinandersetzung mit Aids heute weitgehend in der Arztpraxis statt.

Diese geringere Sichtbarkeit ist nicht nur ein Phänomen äußerer Wahrnehmbarkeit, sondern hat auch Wirkungen auf Verhalten.
Ein Beispiel ist das Serosorting (das in der Realität wohl doch oft eher ‚Seroguessing‚ ist – ein Vermuten (nicht Wissen) des HIV-Status des momentanen Partners): neuere Studien zeigen, dass besonders Schwule, die keine oder nur geringe Nähe zu HIV-Positiven haben, mit einer wohl naiv zu nennenden Arglosigkeit erwarten, dass alle Positiven ihren Serostatus vor sexuellen Handlungen offen legen (während Schwule, die größere Nähe zu Positiven haben, der Mitteilung des Serostatus keine besondere Bedeutung beimessen).
Wenn ein Partner nichts sagt, wird der eigene Serostatus auch bei ihm vermutet, entsprechendes (oft unsafes) Verhalten für möglich gehalten.

Die mangelnde Sichtbarkeit von HIV und HIV-Positiven berührt auch einen weiteren Punkt. Etwa ein Drittel aller Aids-Todesfälle seien heutzutage evtl. auf ein zu spätes Erkennen der eigenen HIV-Infektion zurückzuführen, schreibt das RKI. Todesfälle, die bei rechtzeitigem Erkennen der eigenen Infektion und entsprechender Behandlung evtl. vermeidbar wären.

Können in einer wieder stärkeren Sichtbarkeit von HIV und Aids neue Ansatzpunkte für die Prävention liegen? Z.B. in einer stärkeren Fokussierung? Oder in stärkerer Sichtbarkeit, Wahrnehmbarkeit HIV-positiver Menschen?
Und sind zusätzliche, klarere Informationen erforderlich, gerichtet sowohl an Ärzte als auch in die jeweiligen Szenen (z.B. über das eventuelle Erkennen einer eigenen Infektion)?

Überhaupt, die Ärzteschaft. Immer mehr rückt sie in den Mittelpunkt des Geschehens, der Arzt wird zum zentralen Ansprechpartner. Sollte er dann auch vermehrt Präventionsbotschaften vermitteln, informieren und beraten?
Oder führt die zunehmende Medikalisierung nicht gerade jetzt schon zu zusätzlichen Problemen?

Die HIV-Prävention muss und wird sich angesichts veränderter Rahmenbedingungen weiter entwickeln. Können und wollen neben Präventions-Experten, Politikern, Medizinern auch Menschen mit HIV und Aids sich als ‚Experten in eigener Sache‘ in die weitere Entwicklung einbringen?



5 Gedanken zu „Präventionsgedanken 2: weniger Patentrezepte“

  1. Wenig beachtet bisher wird Psychologie: warum ist jemand unter welchen Umständen bereit, einen Risikokontakt einzugehen, obwohl er sich des Risikos bewusst ist und dieses ggf. eigentlich nicht eingehen will. Das ist für mein Empfinden bisher zu wenig erforscht. Wieviel man daraus jedoch praktisch ableiten kann ist eine andere Frage.

  2. @ norbert:
    guter hinweis, danke! zwar kenne ich einige arbeiten aus der verhaltensforschung, aber direkt zu psychologischen fragen auch nicht. wäre sicher ein feld, auf dem vielleicht auch handlungs-hinweise und anregungen für die prävention zu erhoffen wären.
    lg ulli

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