HIV & Strafrecht – rollback zur ‚alten Schule‘?

Zunehmend stehen in Europa HIV-Positive vor Gericht, die wegen HIV-Infektion angeklagt werden.

In der Schweiz erfolgte jüngst ein Freispruch in HIV-Prozess, mit einem bemerkenswerten Urteil – der Beklagte wurde freigesprochen, da er die safer-sex-Regeln eingehalten hatte.

Leider ist das erfreuliche Urteil aus der Schweiz derzeit im europäischen Kontext die Ausnahme. Schon seit längerem häufen sich Fälle, in denen juristisch gegen Positive vorgegangen wird. Auch in jüngster Zeit wieder:

In Kleve wurde ein 37jähriger HIV-Infizierter Mitte Dezember 2007 vom Landgericht wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt, weil er einem 24jährigen Lover seine HIV-Infektion verschwieg. Dieser ist inzwischen auch HIV-infiziert, wobei nicht geklärt werden konnte, bei wem er sich infiziert hat. Ursprünglich lautete die Anklage auf versuchten Totschlag.

Ein pädophiler Sex-Tourist steht in Kiel vor Gericht. Neben dem Missbrauch Minderjähriger (in Kambodscha) wird ihm auch versuchte gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Er habe eine HIV-Infektion der Kinder billigend in Kauf genommen.

In Frankreich wird einem 25jährigen HIV-infizierten Schwulen vor Gericht vorgeworfen, bewusst die mögliche Infektion mehrerer Sex-Partner in Kauf genommen zu haben. Erstmals in Frankreich kommen phylogenetische Untersuchungen zur Anwendung – um den ‚Verursacher‘ ausfindig zu machen.

In London haben Richter Anfang Dezember 2007 geurteilt, wenn ein HIV-Positiver seinen HIV-Status vor dem Sex nicht erkläre, könne dies bei der Strafbemessung relevant sein. Britische Strafrechts-Experten sehen in dem Urteil eine Fortsetzung des Trends von Richtern (in Großbritannien), die nicht-Offenlegung des eigenen HIV-Status als ‚völlig unentschuldbare Handlung‘ zu betrachten.

Trotz des erfreulichen und erfreulich überlegt begründeten Schweizer Urteils, in Europa scheinen die ‚juristischen‘ Zeichen der Zeit eher auf höherer Strafverfolgung und zunehmendem juristischen Druck gegen Positive zu stehen.

Steht hinter dieser Tendenz zu mehr ‚law and order‘ nicht letztlich auch der Gedanke, wieder zu einer Aids-Bekämpfung ‚alter Schule‘ zurück zu kehren?
‚Alte Schule‘, das hieß ‚controll and containment‘, Infektionsquellen identifizieren und stillegen. ‚Neue Schule‘ hingegen ist seit den 1980er Jahren vielmehr eine Politik von ‚inclusion and cooperation‘ – eine Politik, die Betroffene ohne Diskriminierung einbindet und die bisher deutliche Erfolge produziert hat. Eine Politik, die nicht unüberlegt aufgegeben werden sollte.
So bleibt zu hoffen, dass das Schweizer Urteil ‚Schule macht‘.

weitere Informationen:
Mit Justitia gegen Positive?
Strafrecht gegen unsafen Sex – ein Blick über die Grenzen
UNAIDS über HIV und Strafrecht
Infektionsrisiko unter HAART – widersprüchliche Signale
HIV/Aids: repressive Maßnahmen behindern Prävention

zu phylogenetischen Tests:
HIV vor Gericht 1 – alles eine Frage der Abstammung
HIV vor Gericht 2 – Ist Abstammung wirklich alles?
HIV-Abstammung allein nicht genug vor Gericht

8 Gedanken zu „HIV & Strafrecht – rollback zur ‚alten Schule‘?“

  1. Es ist wohl oftmals auch die Bequemlichkeit der (deutschen) Richter, die zu diesen ’schlichten‘ Urteilen führt.

    Um so mehr sind die Schweizer Richter dafür zu loben, dass sie nicht nur auf ein paar Textbausteine aus anderen Urteilen zurück gegriffen, sondern sich vielmehr sachkundig gemacht haben.

  2. @ Stefan:
    ach – ich bin mir da nicht so sicher, ob da anlass zu richterschelte ist.
    man könnte zb auch fragen, wie weit aidshilfe, bzga & co denn überhaupt aktivitäten haben, das justizwesen adäquat über neue entwicklungen im hiv-bereich zu informieren

    das schweizer urteil ist tatsächlich auch unter diesem aspekt bemerkenswert

  3. Mag sein… ich schimpfe halt gerne auf Richter, bzw Juristen ganz allgemein. Vielleicht weil ich täglich mit ihnen zu tun habe…

    Zu Deinem Hinweis auf die Rechtsprechung in UK: Beziehst Du Dich nur auf den von dir verlinkten Artikel, oder hast Du noch andere Erkenntnisse? Der Urteilsfall dort ist ja sehr speziell (und offenbart geistige Abgründe bei beiden Beteiligten). Ich sprach heute mit Freunden in London und diese sagten mir, das sie einen Trend zu einem generellen Offenlegungsverlangen seitens der Gerichte nicht feststellen könnten.
    Im Gegenteil: Das Ermittlungsbedürfnis britischer Richter ist ja häufig ausgeprägter als bei uns und die Urteile zeugen nicht selten von einer höchst ausdifferenzierten tatsächlichen und rechtlichen Beurteilung. Andererseits gibt es dort auch, tradition has it, machmal sehr gefestigte Rechtsprechungstendenzen.

  4. @ Stefan:
    die einschätzung zur rechtsprechung in uk stammt aus dem nam-artikel (zitat am ende des artikels).
    allerdings gab es ja in uk in den letzten monaten schon einige urteile gegen positive, die von einer eher restriktiven beurteilung der situtation geprägt schienen.

    tatsächlich ist dort das ermittlungsbedürfnis wohl größer. ua.a aufgrund des anderen rechtssystems (case law)

    interessant zu lesen, dass deine freunde eine andere einschätzung der situation haben

  5. Die mir bekannt gewordenen Urteile betrafen, wenn ich mich recht erinnere, jeweils „spezial gelagerte Sonderfälle“ in denen es zu ungeschütztem Sex gekommen ist. Auch der Fall, zu dem Dein Link führt ist, ja eher ungewöhnlich. Da ging es um jemanden, der seinen Sexpartner übel zugerichtet hatte, nachdem er erfuhr, dass dieser HIV+ ist. Das erstinstanzliche Gericht hatte auf eine lebenslängliche Haftstrafe erkannt, während das Appellationsgericht der Ansicht war, dass das Verschweigen der Infektion strafmildernd zu berücksichtigen sei. Darin sehe ich, und insofern wundere ich mich über die Wertung in der von Dir verlinkten Meldung, keine Verschärfung der Rechtsprechung gegen HIV-Positive.

    Es gibt auch Urteile, aber auch das nur aus der Erinnerung, in denen die englischen Gerichte (in Schottland und Nordirland kann das schon wieder anders sein), zu der Auffassung gekommen sind, dass es keinen Grund für einen Schuldspruch gäbe, wenn der HIV-Positive seinen Sexpartner vorher informiert und dieser anschließend ganz bewusst auf ’safer‘ verzichtet und damit die damit verbundenen Risiken eingeht.

    Und im Fall des Verschweigens des positiven Serostatus aber Beachtung der safer-sex-Regeln hat es in der letzten Zeit wohl keine Verurteilung eines Positiven gegeben. Aber, wie gesagt, das ist nicht recherchiert, sondern Hörensagen.

  6. @ Stefan:
    stimmt, es gab einige solcher fälle – zum teil habe ich hier darüber kurz geschrieben. die einschätzung habe ich aus dem artikle übernommen – in ermangelung der möglichkeit einer eigenen einschätzung. da das zitat aus dem artikel von einem dozenten der londoner uni stammte, hielt ich das für glaubwürdig. danke für deine ergänzenden und diesen eindruck korrigierenden hinweise!

  7. auf der homepage von SCHWULST, dem Magazin für Lesben und Schwule in Baden-Württemberg steht ein Fachbeitrag des Stuttgarter Rechtsanwalts Stefan Weidner zum Thema „HIV und Strafrecht“: http://www.schwulst.de/content/HIVimStrafrecht

    Leider ist dort die Zwickmühlensituation für HIV-Positive korrekt wiedergegeben.

    Da sollte jeder Positive doch am besten ein vorbereitetes Aufklärungsformular für Sexpartner griffbereit haben und in Sex erst anch Vorlage und Kopie des Personalausweises zusammen mit dem Aufklärungsformular einwilligen.

    Besser vielleicht noch mit Durchschlag für den unmündigen Lustgänger…??

  8. @ Michael:
    zwickmühle ist ein begriff, der mir für die vielen dilemmata, in die ein positiver bei diesen fragen gerät, fast noch ein zu milder ausdruck 😉
    danke für den hinweis auf den text!

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