Im folgenden angesichts der großen Bedeutung der Rede und der Aktualität des Themas (zumal hins. des EKAF-Beschlusses und der Reaktionen) auch hier dokumentiert eine Rede, die Maya Czajka, Vorstandsmitglied der Deutschen Aids-Hilfe, anlässlich eines Parlamentarischen Abends am 14. Februar 2008 in Berlin gehalten hat:
„Betroffene zu Beteiligten machen“
Rede von Maya Czajka,Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe e.V.
anlässlich des Parlamentarischen Abends zum Thema
„Erfolge in der klinischen Forschung im Bereich HIV/AIDS: Die Dualität von Prävention und Forschung“
Parlamentarische Gesellschaft Berlin, 14. Februar 2008 (Es gilt das gesprochene Wort.)
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Caspers-Merk,
sehr geehrter Herr Friedrich,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde!
Ich danke Ihnen, Herr Baars ganz herzlich, dass Sie unserer Einladung nach Berlin gefolgt sind und uns diese engagierten Eindrücke aus der journalistischen Perspektive eines professionellen Beobachters, der auch persönlich beteiligt ist, gegeben haben.
Ihnen, Herr Prof. Dr. Brockmeyer und Herr Prof. Dr. Rockstroh danke ich für Ihre allgemeinen und wissenschaftlichen Impulse.
Ich bin im Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe neben der Sexindustrie auch für den Themenbereich „sexuelle Gesundheit“ zuständig. Mit dem Thema meines Referates, das mir mehr oder weniger in den Mund gelegt wurde, bin ich nicht ganz glücklich, weil die Betroffenenrhetorik häufig zu Stigmatisierungen führt und Betroffene eben nicht beteiligt. Und eigentlich war es ja auch – vor 25 Jahren eher so: Betroffene haben sich selbst zu Beteiligten gemacht – und daran hat sich bis heute im Wesentlichen nichts geändert.
Das Thema unseres heutigen Abends – die Dualität von Prävention und Forschung – ist aktueller denn je:
Wie wichtig es nämlich ist, dass die von einer HIV-Infektion bedrohten und betroffenen Menschen und ihre Communities beteiligt sind, zeigt beispielhaft die kontroverse Diskussion über die Auslegung eines Interviews mit dem HIV-Spezialisten Dr. Hans Jäger im Focus im Dezember 2007 sowie eine Stellungnahme, die die Schweizer Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen am 30. Januar veröffentlicht hat.
Ich werde im Verlauf meines Vortrages diese Kommission noch häufiger erwähnen und Sie dann aber nicht mehr mit diesem langen Titel, sondern nur noch mit dem Kürzel EKAF behelligen.
Die EKAF also kam in ihrer Stellungnahme zu dem Ergebnis, dass – unter bestimmten, von ihr klar definierten Bedingungen – „eine HIV-infizierte Person unter funktionierender antiretroviraler Therapie das HI-Virus nicht über Sexualkontakte weitergibt“.
Damit keine Missverständnisse entstehen oder jemand denkt, er oder sie habe sich gerade verhört, sage ich es noch einmal und etwas pointierter:
Der ungeschützte vaginale Sexualkontakt mit einer HIV+ getesteten Person, die unter erfolgreicher ART steht, ist weniger infektiös als geschützter vaginaler Sex mit einer HIV+ Person mit nachweisbarer Viruslast.
Noch einmal ganz deutlich: die folgenden drei Bedingungen müssen gleichzeitig erfüllt sein:
Die ART wird vom Patienten konsequent eingehalten und durch den behandelnden Arzt regelmäßig kontrolliert.
Die Viruslast unter dieser Therapie liegt seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze.
Es bestehen keine Infektionen mit anderen sexuell übertragbaren Erregern.
Die Reaktionen der Medien, aber auch einzelner Mitgliedsorganisationen und Präventionsprojekte unseres Verbandes sowie von Medizinern und Gesundheitspolitikern, reichen von „Tabubruch“, „blankem Entsetzen“ „Gefühl der Erleichterung“, „Normalisierung“, „Entstigmatisierung“ bis hin zu der Einschätzung, dass man mit dieser vielleicht vorschnellen und international noch nicht abgestimmten Botschaft der HIV-Prävention einen Bärendienst erwiesen hätte.
Die Debatte zeigt dabei sehr anschaulich, dass Prävention keine Sache ist, die sich nebenbei aus Forschungserkenntnissen selbst generiert.
Deshalb beschäftigen sich DAH und BZgA seit z.T. über 25 Jahren so intensiv mit dem Thema Prävention.
Emotional gesehen, hätten wir als DAH uns sicher eine andere Form der Veröffentlichung des EKAF- Papiers gewünscht. Uns wäre es in gewisser Weise lieber gewesen, uns in Bezug auf eine Modifikation und Differenzierung der eingeübten Präventionsbotschaften nicht bewegen zu müssen.
Die mit der Thematik notwendige Auseinandersetzung und die öffentliche Diskussion ist nämlich – für uns – genau wie für alle anderen Akteure – schwierig, kompliziert und von vielen Unwägbarkeiten begleitet.
Rational gesehen aber begrüßen wir die Veröffentlichung der EKAF jedoch sehr und freuen uns ausdrücklich über die Bewegung, die nun in die Präventionsdebatte kommt.
Denn: was tabuisiert ist, kann nicht gestaltet werden!
Die Auseinandersetzung um die EKAF-Stellungnahme stellt insofern einen Paradigmenwechsel in der Beurteilung einer chronischen Infektionserkrankung dar, als erstmals öffentlich und eindrücklich klargestellt wird, dass die bisherige Risikoeinschätzung in der Gesellschaft über die Ansteckungsgefahr, die von HIV-Infizierten ausgeht, eher Mythos als Realität ist.
Die häufig genug eher hysterisch und völlig überzogen geäußerten Ängste haben in den letzten 25 Jahren zu einer noch immer ungebrochenen Stigmatisierung von Menschen mit HIV in allen Lebensbereichen geführt.
Herr Baars hat uns in seinem Vortrag dafür Beispiele aus der Arbeitswelt gegeben, und die DAH und ihre Mitgliedsorganisationen könnten die von ihm begonnene Liste sehr lang werden lassen…
Sie würde reichen über die Erlebnisse vieler HIV+ Menschen im Umgang mit Behörden und Institutionen, über Erfahrungen bei Fortbildungen in den Arbeitsagenturen, über solche mit etwa Zahnärzten und Chirurgen sowie natürlich auch hin zu den Erfahrungen, die Menschen mit HIV massenweise machen, wenn sie sich bei der Anbahnung von Sexualkontakten und/oder Beziehungen als positiv outen.
Die Stellungnahme der EKAF bedeutet nun vordergründig zuerst einmal eine wesentliche Erleichterung und Ent-Ängstigung von Menschen, die in diskordanten Partnerschaften leben.
Sowohl für den HIV-negativen Part, weil die Ängste vor Ansteckung auf ein wesentlich realistischeres Maß reduziert werden können, aber auch für den HIV-positiven Part, der in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle massive Ängste hat, den/die HIV-negative(n) Partner(in) anzustecken.
Nicht zu unterschätzen sein dürfte jedoch der indirekte Effekt sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene als hoffentlich auch auf die Justiz.
Diese drei Aspekte waren maßgebliche Motivation für die Erarbeitung der EKAF-Stellungnahme.
Die EKAF hat sich in ihrer Diskussion um die Implementierung der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse in ihre praktische Arbeit von dem ethischen Grundsatz leiten lassen, Menschen an den Stellen zu entlasten, an denen sie verantwortlich entlastet werden können.
Und ganz genau dies wird die DAH auch tun.
Nach dem bisherigen Stand der Forschung und der Diskussion gelten allerdings die bisherigen Präventionsbotschaften, die aufgrund ihrer Einfachheit so erfolgreich sind – für die Sexualkontakte weiter, die eben genau nicht unter den von mir oben genannten und zuvor von der EKAF definierten Bedingungen stattfinden.
Wir werden uns entsprechend schon bald für Deutschland dazu äußern, in welchen Situationen wir in der Prävention unsere Botschaften modifizieren müssen – ähnlich wie die Schweizer Kolleginnen und Kollegen es getan haben und wir werden – im Verein mit dem Kompetenznetzwerk, dem RKI, der BZgA und Behandler/innen in der übernächsten Woche bei einem Arbeitstreffen wahrscheinlich separate und sehr differenzierte Botschaften für Oralverkehr, Vaginalverkehr und Analverkehr zu diskutieren haben…
Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass die DAH heute noch keine abschließende Position zu diesem Thema veröffentlichen wird.
Vorab aber erlaube ich mir, hier einige grundsätzliche Gedanken zur Debatte zu äußern:
Die aufgeregten und teilweise sehr persönlich geführten Auseinandersetzungen um die Stellungnahme der EKAF zeigen einmal mehr, in welchem Spannungsfeld sich Prävention befindet:
Sie folgt der Public-Health-Logik:
Ihr Ziel ist die Reduktion (oder Stabilisierung) der Zahl von Neuinfektionen. Sie ist nicht am Einzelschicksal interessiert und sie muss individuelle Neuinfektionen in Kauf nehmen.
Sie kann – will sie erfolgreich sein – auch gar keiner anderen Logik folgen.
Die aktuelle Diskussion der EKAF-Empfehlung und der ihr zugrunde liegenden wissenschaftlichen Arbeiten wird jedoch von einem Blick auf das Einzelschicksal diktiert: Jede Neuninfektion MUSS verhindert werden!
Präventionsbotschaften, die auf dieser Haltung der 100%igen Risikoreduktion basieren, sind jedoch aus leicht nachvollziehbaren Gründen auf der Populationsbasis von vorneherein zum Scheitern verurteilt:
Auf HIV bezogen hieße eine 100-Botschaft schlicht: Keinen Kontakt zwischen Häuten, Schleimhäuten oder gar Körperflüssigkeiten – mit anderen Worten: gar keinen Sex mehr! Oder nur in einem Ganzkörperkondom.
Beides hält dem Leben nicht stand.
Die Public-Health-Sicht und die Sicht auf das Individuum bedingen zugegebenermaßen ein unauflösliches ethisches Dilemma, das sich zwar – wie schon gesagt – nicht auflösen, sich jedoch dahingehend „verkleinern“ lässt, als dass das vertretbare Restrisiko diskutiert und vereinbart werden muss.
In diesem Sinne hat die DAH stets ihre Präventionsbotschaften entwickelt und diese NIEMALS als 100% sicher (safe) definiert, sondern IMMER als safer (also risikominimierend).
Und rückblickend haben sich die noch vor wenigen Jahren aufs heftigste attackierten – weil Vielen viel zu laschen (sprich: verantwortungslosen) – Präventionsbotschaften der Deutschen als erheblich effektiver, lebensnäher und umsetzbarer erwiesen, als die deutlich restriktiveren Ansätze wie „No lips under the hips“ oder die Abstinenz-Kampagne der amerikanischen Bundesregierung) etwa. Selbst wenn (oder gerade weil?) wir in Deutschland in unseren Präventionsbotschaften ein höheres Maß an Restrisiko akzeptiert haben, hat sich über die Jahre herausgestellt, dass wir besser als die allermeisten Industrienationen in der Lage waren, die Prävalenz auf einem sehr niedrigen Niveau zu halten.
Der aktuelle Diskurs zeigt auch, wie schwierig es ist, Prävention, Entstigmatisierung und Antidiskriminierung zusammen zu bekommen.
Antidiskriminierung aber ist eine wesentliche Voraussetzung für gelingende Prävention (bzw. für nicht gelungene, wie die Entwicklung in Osteuropa sowohl im Bereich HIV und Aids, als auch im Bereich der Drogenpolitik zeigt).
Damit unsere Prävention in Deutschland weiterhin glaubwürdig ist, müssen wir mit dem wissenschaftlichen Fortschritt und ihren neuen Erkenntnissen mithalten: Wie immer in der Forschung zeigt sich auch im Feld von HIV/AIDS, dass Forscher und Wissenschaftler die gleichen Ergebnisse zum Teil sehr unterschiedlich interpretieren:
Persönliche Überzeugungen, der politische Kontext, gesellschaftliche, wissenschaftliche Tabus, der (wissenschaftliche) Mainstream als solcher, der Grad der Abweichung der Ergebnisse bzw. der Interpretation der Autoren vom Mainstream etc. markieren wesentliche Aspekte dabei.
Hier spielen Menschen mit HIV/AIDS bzw. die AIDS-Hilfe eine wichtige Rolle: Nicht nur, dass sie aus ihren Perspektiven die Ergebnisse valide interpretieren können und müssen, sie bereichern die wissenschaftliche Debatte mit ihren Perspektiven und tragen so dazu bei, dass Bodenhaftung in die Debatte kommt.
Gerade die in die praktische Anwendung gehende Interpretation von Ergebnissen aus der Transmissionsforschung, der Therapieforschung und der Epidemiologie sind ohne die Expertise derjenigen, die es direkt betrifft, kaum wirklich sinnvoll möglich.
Auch nach 25 Jahren HIV/AIDS und einer vergleichsweise sehr deutlichen Kommunikation über Sexualität und Sexualpraktiken scheinen nämlich selbst altgediente Forscher und HIV-Spezialisten immer noch nicht begriffen zu haben, wie Sexualität funktioniert – was zu aus unserer Sicht manchmal absurden Studienplanungen und Interpretationen von Ergebnissen beiträgt.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel:
Es ist derzeit nahezu unmöglich, belastbare Aussagen zum passiven Analverkehr zu treffen. Den Forschern scheint (noch) nicht klar zu sein, wie das anatomisch vonstatten geht. So hat die jüngste zu diesem Thema veröffentlichte Studie von der Viruslast in den Sekreten des Zwölffingerdarms auf die Ansteckungswahrscheinlichkeit beim Analverkehr geschlossen – eine der Absurditäten, von denen vorhin die Rede war.
Beispiel mit Zwölffingerdarm!!!
Vor fast 20 Jahren – 1989 auf der IV. Welt-AIDS-Konferenz in Montreal – haben sich erstmals HIV-Patienten erfolgreich in die Forschung eingemischt. ACT UP und andere Aktivistengruppen aus den USA hatten die Konferenz gestürmt und mit ihrer National AIDS Research Agenda erstmals massiv Einfluss auf die HIV-Forschung genommen, die bis dahin weder ein klares Ziel noch eine klare Struktur oder gar übergreifende Fragestellungen gehabt hat.
Heute darf man sagen: Die aktuelle HIV-Forschung wäre ohne die kontinuierliche und mit hoher Expertise erfolgte und erfolgende Einmischung der Selbsthilfe in die Forschung nicht denkbar.
So werden Patientenvertreter im Rahmen der Medikamentenzulassung in den USA und der EU mittlerweile angehört. Sie haben in der Vergangenheit – damals, als noch jedes neue Medikament sofort und direkt Leben rettete – erfolgreich Lobbyarbeit dafür betrieben, den Zulassungsprozess zu verkürzen sie betreiben inzwischen erfolgreich Lobbyarbeit dafür, den Zulassungsprozess wieder zu entschleunigen und fordern mehr und längere Studien um die Risiko-Nutzen-Relation neuer Substanzen besser einschätzen zu können.
Sie haben die Forschung an Lipodystrophie initiiert, haben dafür Sorge getragen, dass im HIV-Bereich keine Placebo-kontrollierten Medikamentenstudien mehr durchgeführt werden, und sie versuchen seit Jahren die Forschung zu Therapiestrategien zu beleben.
Sowohl in der Grundlagenforschung (etwa an der Frage, wie die so genannten „Elite-Controller“ – das sind Menschen mit HIV, die auch nach 20 und mehr Jahren keinerlei Zeichen einer Krankheitsprogression zeigen – es schaffen, trotz HIV-Infektion und ohne Medikamenteneinnahme nicht an HIV zu erkranken und eben keinen Immundefekt zu entwickeln), als auch in der klinischen Forschung und auch in der Impfstoffforschung haben Menschen mit HIV und ihre Vertreter Einfluss auf die Forschungsfragen genommen.
Und nicht zu vergessen: Sie haben sich selbst für die Forschung zur Verfügung gestellt!
Um diese Motivationen allerdings aufrechterhalten zu können, ist neben der Partizipation auch die Transparenz der Forschung für Menschen mit HIV/AIDS notwendig und wichtig:
Deshalb führt die DAH im Rahmen des Kompetenznetzes HIV/AIDS ein Projekt durch, das den Dialog zwischen Wissenschaftlern und Menschen mit HIV und AIDS ermöglicht.
Wir sind zudem an Entscheidungen über künftige Forschungsprojekte beteiligt, damit diese auch einen Nutzen für die Betroffenen haben können.
Zudem hat die DAH ein Projekt initiiert, das die Möglichkeiten und Grenzen von Prävention in der Arztpraxis erforscht.
Dem Kompetenznetz HIV/AIDS wird von seinem internationalen Gutachtergremium bescheinigt, dass man ihm wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse verdankt, die wegweisend für Innovationen in Prävention, Diagnostik und Therapie sind.
Entsprechend freuen wir uns selbstverständlich über den Zuwendungsbescheid des Bundesforschungsministeriums für eine weitere Unterstützung des Hauptprojekts – der Kohortenstudie – bis 2010.
Allerdings muss aus unserer Sicht kritisch angemerkt werden, dass die Bundesregierung die Erfahrungen anderer großer Kohortenstudien außer Acht zu lassen scheint: Eine solche Kohorte wie die unseres Kompetenznetzes – die einen so hohen Output verspricht wie kaum eine andere HIV-Kohorte weltweit – kann das nur leisten, weil sie von ihrer Struktur (Daten, die prospektiv erhoben werden und Biomaterialien, die ebenfalls prospektiv erhoben werden) her in der Lage ist, die „Erkenntnislöcher“ abzudecken, die aus historischen Gründen in den meisten älteren Kohorten naturgemäß bestehen bleiben müssen.
Was vor 10 oder 20 Jahren kein Gegenstand der Forschung oder der Projektionen war – etwa weil seinerzeit niemand damit gerechnet hat, dass Menschen mit HIV 30 Jahre und mehr mit Therapie leben können und eine nahezu normale Lebenswartung haben – ist in die meisten älteren Kohorten im Nachhinein nicht einzubauen.
Solch riesige Datenmengen, wie sie in der Kompetenznetzkohorte erhoben werden, stellen naturgemäß hohe Anforderungen an alle Beteiligten und selbstverständlich auch an die Geldgeber.
Aus anderen Kohorten ist jedoch bekannt, dass der Vorlauf – d.h., die Zeit, die vergeht, bis die Kohorte „rundläuft“ und die notwendigen Fehler gemacht worden sind, mehrere Jahre beträgt.
Insofern hat die zu knappe Finanzierung der Kompetenznetzkohorte und der zu kurze Atem des BMF eine wesentliche Reduktion des möglichen wissenschaftlichen Outputs der Kohorte verursacht, die auch auf der Ebene der mit HIV lebenden Menschen direkt Konsequenzen zeitigen wird.
Nicht heute oder morgen, aber wir werden in einigen Jahren genauso schmerzhaft an diese vergeudeten Chancen erinnert werden, wie wir heute schmerzhaft an die Limits der älteren und alten Kohorten stoßen.
Hier würden wir uns mehr Weitblick und langen Atem wünschen – sprich: eine solidere Finanzierung der Kompetenznetzkohorte, die die jüngst erfolgte, sehr drastische Reduktion der Patientenzahl um die Hälfte wieder aufhebt.
Neben den bereits geäußerten Kümmernissen sind wir allerdings auch besorgt darüber, dass dem Forschungsverbund weitere deutliche Einschnitte bevorstehen: Neben der Kohorte sind im Kompetenznetz Forschungsgruppen zusammengeschlossen, die für eine Belebung der deutschen HIV-Forschung und für eine bessere Verschneidung der Grundlagen- mit der klinischen Forschung sorgen.
Mit der derzeitigen Finanzierung wird nicht nur die Kohorte drastisch in ihren Möglichkeiten beschnitten, darüber hinaus fallen über 20 inhaltliche Forschergruppen aus der Förderung heraus.
Die Deutsche AIDS-Hilfe wird sich dessen ungeachtet zusammen mit dem Patientenbeirat weiterhin dafür einsetzen, dass zentrale Fragen auf der Tagesordnung bleiben: wie z.B.:
• Wann ist der richtige Startzeitpunkt für eine Therapie?
• Welche Medikamentenkombination ist in welchen Situationen die Günstigste für mich?
• Wann sollte eine Therapie umgestellt werden und auf welche Kombinationen?
• Kann ich frühzeitig einen Zugang zu Therapie haben usw.
• Hinzu kommen eine Fülle von Fragen psychosozialer Natur oder Fragen zu den Übertragungswegen
Für den diesen zuletzt genannten Aspekt will ich Ihnen ein Beispiel geben:
Die bereits zu Beginn thematisierte Stellungnahme der EKAF zur Übertragungswahrscheinlichkeit beim ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einem/einer HIV-Positiven bezieht sich auf heterosexuellen, vaginalen Geschlechtsverkehr. Für hetero- bzw. homosexuellen Analverkehr – der ja per se infektiöser ist, als Vaginalverkehr – gibt es keine Aussagen.
Unsere eigenen Recherchen haben ergeben, dass man dazu zwar Aussagen treffen kann, diese aber aufgrund der vorliegenden Datenlage sehr unklar und komplex sind.
Ein internes Beratergremium hat den Vorschlag gemacht, diese Frage im Kompetenznetz zu beforschen, und zwar sowohl im Rahmen einer in die Kohorte implementierten Beobachtungsstudie, als auch über eine diese Beobachtungsstudie begleitende weiterführende Grundlagenforschung etwa zu Viruslast im Analkanal. Sie erinnern sich an das Zwölffingerdarm-Phänomen zu Beginn meines Vortrages…
Daten dazu wären in etwa einem, eineinhalb Jahren zu generieren und sehr wohl geeignet, die derzeit laufende Debatte an der Stelle ihrer größten wissenschaftlichen Unschärfe zu verbessern.
Denjenigen von Ihnen, die jetzt sämtliche Felle der Prävention davon schwimmen sehen kann ich beruhigend versichern:
Die BZgA und DAH sind sich einig:
Auf der Kampagnen-Ebene werden wir an unseren bisherigen Safer-Sex-Botschaften festhalten.
Nur: die neuen Forschungserkenntnisse gestalten unsere vereinten Präventionsbemühungen komplexer und eben auch schwieriger. Wir werden daher unsere Botschaften gerade in der Individualkommunikation erweitern müssen.
Unseren Zielgruppen im Zeitalter des Internets Erkenntnisse vorenthalten, ist sowieso unmöglich.
Unabhängig von der Fragestellung, ob es ethisch überhaupt vertretbar wäre, unseren Zielgruppen neue wissenschaftliche Erkenntnisse vorzuenthalten – etwa weil wir befürchteten, sie könnten nicht verantwortlich genug mit diesen Feststellungen umgehen:
Ein kleiner Teil unserer Zielgruppen bastelt sich seine eigenen Risikominimierungstrategien – und zwar unabhängig von den Präventionsbemühungen von DAH und BZgA und ein noch kleinerer Teil sicherlich auch leider jenseits von Sinn und Verstand (oder anders formuliert: teilweise durchaus mutwillig und wissentlich, fast immer jedoch begleitet von fatalen Fehleinschätzungen).
Und das, meine Damen und Herren, nennt man dort, wo ich herkomme: das Leben!
Und auch hier gilt: Was verschwiegen oder tabuisiert wird, kann nicht gestaltet werden.
Die „Präventions-Erweiterungsbotschaften“ aus der Schweiz werden derzeit aus allen möglichen anderen als unseren Quellen gespeist und mit haufenweise „stiller Post“-Effekte weiter getragen, verfremdet und verfälscht.
Die DAH muss daher neue Erkenntnisse sowohl im Internet als auch in ihrer Beratungs- und Aufklärungsarbeit vor Ort rasch aufgreifen und sie zielgruppengerecht kommunizieren.
Auch dies bedeutet für uns, uns und unsere Zielgruppen zu beteiligen.
Im Moment entwickeln wir in Zusammenarbeit mit der BZgA und dem Bundesgesundheitsministerium unsere erste bundesweite HIV-Präventions- und Gesundheitskampagne für Männer, die Sex mit Männern haben.
Der Slogan der Kampagne heißt „Ich weiß was ich tu“.
Diese Kampagne werden wir Ihnen bald vorstellen. Sie wird den von mir kurz geschilderten Veränderungen und Herausforderungen Rechnung tragen und partizipativ angelegt sein: Unsere Kampagne wird HIV-Positive gleichwertig neben HIV-Negativen und Männern, die ihren Serostatus nicht kennen, in die Prävention einbeziehen.
Es hat sich nämlich längst gezeigt, wie weitsichtig wir schon vor 25 Jahren waren: Das Modell der Verbindung von Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention unter Einbindungen der von HIV Betroffenen und Bedrohten gilt bis heute international als wegweisend und maßgeblich für die deutschen, vergleichsweise niedrigen HIV-Infektionszahlen.
Vor allem HIV-positive schwule Männer haben sich seit den 1980er Jahren an der Prävention beteiligt. Auch Frauen und Männer zum Beispiel mit Migrationshintergrund, drogengebrauchende Menschen oder Anbieterinnen und Anbieter sexueller Dienstleistungen sind seit Jahren Akteure in der Prävention: in unseren Mitgliedsorganisationen und Präventionsprojekten vor Ort, in unseren Netzwerken, als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unserer Bundesgeschäftsstelle in Berlin oder als Ehrenamtlerinnen in den Vorständen und der Vor-Ort-Arbeit.
Bei dieser Erfolgsgeschichte fragt man sich völlig zu Recht, wieso die HIV-Zahlen steigen. Und auch völlig zu Recht dürfen Sie von mir dazu eine Stellungnahme erwarten:
Ich will die aktuellen HIV-Zahlen nicht beschönigen: Es ist richtig, dass der Großteil des Anstiegs der HIV-Neudiagnosen bei schwulen und bisexuellen Männern zu verzeichnen ist. Und es ist leider auch wahr, dass es seit 2001 einen kontinuierlichen Anstieg der Diagnosezahlen in dieser Gruppe gibt.
Wir müssen allerdings die Diagnosen von den Infektionen unterscheiden und damit die oft behauptete Dramatik der Entwicklung relativieren:
Ca. 50 Prozent der Neudiagnosen sind Neuinfektionen, die zu 50 Prozent von Menschen „gesetzt“ werden, die sich in der ersten, hochansteckenden Phase ihrer HIV-Infektion befinden, in der ein HIV-Antikörpertest – nicht der Viruslasttest, der normalerweise in einer solchen, ersten Beratungssituation noch gar nicht gemacht wird! – in aller Regel noch negativ ausfällt.
Die restlichen 50 Prozent sind Infektionen, die zum Teil schon Jahre zurückliegen oder z.B. auf verbesserte Diagnose- und Meldeverfahren und unsere Testkampagnen zurückzuführen ist.
Daher führen die Aidshilfen Testkampagnen bei schwulen Männern durch und bieten seit kurzem auch Schnelltests an, um auch die zu erreichen, die nicht zum Arzt oder ins Gesundheitsamt gehen. Solche Kampagnen wollen wir ausbauen. Wir werden auch den Weg intensivieren, zunehmend über andere sexuell übertragbare Krankheiten (STDs) aufzuklären, denn wir wissen, dass das Vorliegen von STDs (z.B. Syphilis, Herpes) die Übertragung von HIV fördert.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass eine erhöhte Inanspruchnahme von HIV-Tests – etwa im Rahmen von lokalen so genannten Testkampagnen oder im Rahmen der bereits erwähnten MSM-Kampagne „Ich weiß was ich tu“ wahrscheinlich auch erst einmal zu einem Anstieg der Neudiagnosen führen werden, weil diese Kampagnen – wie sich international zeigt – in der Lage sind, die Dunkelziffer in den von HIV am intensivsten betroffenen Szenen schwuler Männer zu reduzieren.
Dessen ungeachtet: Die Menschen haben wieder mehr Sex und weniger Angst vor HIV und AIDS bzw. sie haben (manchmal risikobehaftete) Mechanismen entwickelt, trotz dieser Angst ihre Sexualität zu leben.
Dies ist auch ein Erfolg der klinischen Forschung und der hochwirksamen Therapie.
Die Krankheit Aids wandelt sich von der akuten, tödlichen Bedrohung hin zu einer mehr oder weniger schweren, chronischen Erkrankung.
Um sie zu bekämpfen und um die Ausbreitung des HI-Virus zu stoppen nutzen wir die neuen Forschungserkenntnisse und Therapiestrategien für unsere Präventionsprogramme.
Und dies geht gut und erfolgreich eben nur mit der Beteiligung der bedrohten und betroffenen Menschen und nicht gegen sie, denn schlussendlich entscheidet sich im gelebten Leben, ob eine Präventionsbotschaft umgesetzt, gelebt und langfristig wirksam werden kann.
Diese Maxime bleibt aus unserer Sicht solange nötig, bis entweder eine Impfung oder die Heilung in Sicht sind.
Wenn wir uns jetzt die Zeitspanne vergegenwärtigen, die wir quasi „bedienen“ müssen, wenn wir Menschen in Bezug auf ihr sexuelles Leben begleiten bzw. beraten, dann sprechen also über ein Intervall, das ein ganzes sexuelles Leben umfasst. Und auch und gerade hier besteht dringender Forschungsbedarf:
Wir wissen nämlich nicht, wie es sich mit der realen Schutzwirkung unserer Präventionsbotschaften über einen Zeitraum von 30, 40 oder mehr Jahren verhält:
Die Präventionsbotschaften von DAH und BZgA sind untersucht und gut geeignet, das Pro-Kontakt-Risiko zu minimieren – wie gesagt: zu minimieren, nicht auszuschließen.
100prozentige Sicherheit gibt es nicht!
Was aber tun wir mit dem gut bekannten statistischen Phänomen des kumulativen Risikos, das begründet annehmen lässt, dass die ohnehin „nur“ relative Schutzwirkung über die Zeit nachlässt.
Es erreichen uns zunehmend Berichte, wonach sich Menschen, die glaubhaft versichern, sich trotz der 100prozentigen Befolgung der Safer-Sex-Botschaften mit HIV angesteckt zu haben.
Dies sind Phänomene, die derzeit in der Forschung leider (noch) nicht adressiert werden. Dem jedoch mit immer mehr desselben zu begegnen, ist nicht verantwortungsvoll, sondern im Gegenteil: es ist kurzsichtig.
Wir benötigen unbedingt zusätzliche Risikominimierungsstrategien, um der Herausforderung der HIV-Infektion langfristig so erfolgreich begegnen zu können, wie DAH und BZgA dies in den letzten 25 Jahren tun konnten.
Derzeit ist das Kondom (noch) der Goldstandard der HIV-Prävention.
Wie jedoch bei der HIV-Therapie längst und mehrfach geschehen, verändert sich dieser Goldstandard, wenn effektivere und mit weniger Nebenwirkungen behaftete Therapiemöglichkeiten vorhanden sind.
Gleiches sollte auch für die Prävention gelten – wobei Nebenwirkungen in diesem Sinne auch Anwendungshürden etwa auf der Verhaltensebene oder auch Anwendungsfehler sind.
Es gibt daher keinen Grund, vor Botschaften zurückzuschrecken, die die Kondom-Maßgabe zu ergänzen in der Lage sind und/oder ohne Kondom eine mindestens genauso hohe Schutzwirkung erreichen, als die Anwendung eines Kondoms – also besser sind, als der derzeitige Status Quo.
Das Prinzip der Beteiligung der Community ist Teil der Lösung und Teil eines verantwortlichen Umgangs mit der Infektion und nicht, wie immer noch manche meinen, Teil des Problems.
Die Beteiligung wird für uns auch in Zukunft einer der entscheidenden Erfolgsfaktoren in den Veränderungsprozessen bleiben: Mit HIV infizierte und von dem Virus besonders bedrohte Menschen zu informieren, sie in ihrem Selbstbewusstsein und ihren Handlungskompetenzen zu stärken, ihnen Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen und ihnen Lösungs-Strategien für eine gelingende Risikominimierung aufzuzeigen, dies wird auch in den kommenden Jahren unsere Aufgabe sein.
In diesem Sinne freut sich die Deutsche AIDS-Hilfe auf die weitere enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Ihnen allen.
Uns allen wünsche ich heute Abend – vielleicht auch erst nach der Stärkung durch das Büfett – erkenntnisreiche Begegnungen und interessante Gespräche.
Von unserer Seite dazu beitragen werden meine Vorstandskollegin Frau Urban, Mitglieder unseres Delegiertenrates, der Geschäftsführer der Bundesgeschäftsstelle und unsere Referentinnen und Referenten.
Und selbstverständlich stehe auch ich Ihnen gleich für Gespräche zur Verfügung.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns: guten Appetit