Piraten und die Aidshilfen: 1. gemeinsame Sache ? – Allmende und Gemeingut

Fast neun Prozent der Wähler/innnen-Stimmen, 15 Sitze im Abgeordnetenhaus – der Erfolg der ‚Piraten‘ bei der Berliner Wahl 2011 hat viele (wenn auch nicht alle) Parteien, Journalisten, politischen Beobachter überrascht. Von konsternierten Blicken über Irritation bis Häme, die Reaktionen bleiben bisher oftmals an der Oberfläche. Parteien registrieren bisher kaum die Gefahr des Verlusts ihrer Kern-Themen (wie Bürgerrechte), das Aufkommen neuen Bewusstseins oder neuer Methoden politischer Arbeit, wundern sich höchstens über Aktivierung bisheriger Nicht-Wähler. Tiefergehende Analysen und Betrachtungen zu dem, was hinter dem Erfolg der Piraten stehen könnte, sind hingegen im politischen Raum noch eher selten. („Dass die Piraten einen eigenen originären Politikansatz haben könnten, scheint niemand in Betracht zu ziehen“, bemerkt treffend Michael Seemann auf ctrl-verlust).

Die Piraten (einzig) als mono-thematische Nerd-Partei oder als „one hit wonder“ abzutun könnte sich schon bald als kurzsichtig erweisen, hieße ihr Potential, die mögliche Bedeutung ihrer Ideen und Projekte zu verkennen (und zwar unabhängig davon, wie sich ihr konkretes politisches Schicksal erweist) – und Chancen zu vertun.

Aber – was hat der derzeitige Erfolg der Piraten mit Aidshilfe zu tun?
Vielleicht mehr, als auf den ersten Blick offensichtlich scheint.

Denn – Chancen durch die Piraten könnten sich m.E. auch für Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe ergeben.
Gibt es Gemeinsamkeiten in Ideen und Zielen zwischen Aids-Bewegung(en) und den Piraten?
Können Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe vielleicht auch von den Piraten lernen?

Ein Kommentar in zwei Teilen – heute Teil 1: „gemeinsame Sache ? Allmende und Gemeingut“, Teil 2 „Von Piraten lernen ? – Transparenz und Partizipation“ folgt in den kommenden Tagen am Montag, 10.10.2011.

Piraten und die Aidshilfen

1. gemeinsame Piraten-Sache ? – Allmende und Gemeingut

Die Piraten sind eine vergleichsweise junge Bewegung und Partei (und doch derzeit die Mitglieder-stärkste der nicht im Bundestag vertretenen Parteien). Entstanden 2006 aus einer Anti-Copyright-Bewegung (daher stammt auch ursprünglich der Name der Partei), werden sie heute immer noch überwiegend als „Internet- und Nerd-Partei“ wahrgenommen (Nerd = ‚internet-Freak‘). Tatsächlich jedoch haben sie inzwischen ihr Parteiprogramm auf beträchtlich breitere Füße gestellt (wenn auch ihre Haltungen und Forderungen z.B. in Bereichen wie Gesundheit oder Soziales immer noch nur in Ansätzen zu erkennen sind).

Dies sollte jedoch nicht daran hindern, nach potentiellen Gemeinsamkeiten zu spüren. Denn – diese zeichnen sich durchaus ab, und zwar in Kern-Feldern. Aus einem einfachen Grund: ein, wenn nicht das Kern-Element der politischen Identität der Piraten ist die Auseinandersetzung mit der Frage, was soll der Allgemeinheit gehören, was soll privat(wirtschaftlich) organisiert, gar geschützt sein. Grund-Thema der Politik der Piraten ist die Auseinandersetzung mit Allmende (Gemeinschafts- oder Genossenschafts-Besitz), mit Commons, mit Gemeingütern.

Dies aber ist ein Thema, das Aidshilfe nicht unbekannt sein dürfte. Debatten, die Aidshilfen führen, gehen oft um Begriffe wie ‚Daseinsfürsorge‘, ‚Gemeinwohl‘, um Solidargemeinschaft oder Individualisierung von ‚Risiken‘ und ‚Vorsorge‘. Auch hinter diesen Begriffen steckt u.a. die Frage, was ist Gemeingut, was darf / soll privatisiert werden, was kann wie optimal im Sinne der Interessen und Bedürfnisse der Gemeinschaft gestaltet werden?

Gemeingüter – ein Thema, dessen Bedeutung gerade in der politischen Auseinandersetzung der nächsten Jahre steigen dürfte. Ein Thema, das weit mehr betrifft als Internet und Urheberrechte: Ist Wasser ein Gemeingut? Eines, das von der Allgemeinheit zu ihrem besten Nutzen und niedrigsten Kosten organisiert werden soll? Oder soll die Wasser-Versorgung privaten Gewinninteressen überlassen werden? Ist Gesundheit, die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten, ein Gemeingut? Sollen lebensnotwendige Medikamente jedem Menschen zur Verfügung stehen? Oder sollen Patentrechte auf Wirksubstanzen sowie Profite privatwirtschaftlicher Pharmaindustrie wichtiger sein als menschliches Leben und breite Verfügbarkeit lebenswichtiger Medikamente?

Michael Seemann kommentiert auf ctrl-verlust: „Infrastrukturen, die Zugang und Teilhabe ermöglichen, müssen gestärkt und ausgebaut werden und gehören diskriminierungsfrei allen angeboten“. Und die Frage liegt nahe – warum nur Infrastrukturen, warum nicht auch Gesundheit, kulturelle teilhabe etc.?

Gemeinwohl, Gemeingüter – ein Themenkomplex, der derzeit bei den Piraten vielleicht noch sehr auf Internet, Urheberrechte und digitale Welten fokussiert wird. Aidshilfe hingegen kennt den Gedanken aus Fragen wie dem Gesundheitsbegriff, der Struktur und Aufgabe des Sozialstaats oder der Verfügbarkeit von Medikamenten.

Beiden gemeinsam aber ist die grundsätzliche Frage: was ist im Interesse der Allgemeinheit? Was sollte von, für und durch die Gemeinschaft gestaltet und geregelt werden?

Gemeingüter – das ist die Frage, was soll der Allgemeinheit dienen, zu welchen Bedingungen, und von wem gestaltet?
Gemeingüter – das ist die Frage, wollen wir wesentliche Grundlagen unserer zukünftigen Lebensgestaltung (ob das Internet oder z.B. die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten) weitgehend privatwirtschaftlichen Gewinn-Interessen und Monopolisierungs-Tendenzen überlassen, oder sie zum größtmöglichen Wohl aller, der Gemeinschaft gestalten?

Gemeingüter – diese Frage wird eines der großen Meta-Themen der kommenden Jahre sein. Ein Thema, bei dem sich Aidshilfen und Piraten (wie auch einige (bisher wenige) andere Parteien) viel zu sagen hätten. Ansätze, die beide Sichtweisen in Berührung bringen, gibt es bereits (wie etwa Projekte, die den Gedanken der Commons, der Gemeingüter auf die Welt der Medikamente übertragen).

Gemeingüter – ein zukünftiges Meta-Thema politischer Debatten.
Ein Thema mit zahlreichen Berührungspunkten.
Ein Thema, bei dem gemeinsame Ziele und Aktionen denkbar wären.
Ein Thema, das durch zielgerichteten Dialog und Zusammenarbeit in seiner Wahrnehmung und Bedeutung in der Öffentlichkeit gestärkt werden könnte.

Methadon-Therapie: muss Krankenkasse zahlen – oder nicht?

Die Krankenversicherung muss nicht für die Methadon-Behandlung eines Drogengebrauchers aufkommen, urteilt das Landgericht Nürnberg-Fürth.

Ein Drogengebraucher genießt für die Methadon-Behandlung keinen Versicherungsschutz seiner Krankenkasse. Schließlich nehme er seine Abhängigkeit bewusst in Kauf. So urteilte Ende 2008 das Landgericht Nürnberg-Fürth. Die Krankenversicherung müsse die Kosten für eine Methadon-Behandlung nicht übernehmen.

Auf ein entsprechendes jüngst publiziertes Urteil weist die Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht des Deutschen Anwaltsvereins hin:

„Wer seine Abhängigkeit von Heroin bewusst in Kauf nehme, führe den Versicherungsfall der möglichen späteren Methadon-Behandlung vorsätzlich herbei. In solchen Fällen müsse die Krankenkasse nicht zahlen.“

Das Urteil gilt für eine Private Krankenversicherung.

In der Gesetzlichen Krankenversicherung werden die Kosten einer Substitutions-Behandlung mit Methadon übernommen – auf Antrag:

„Die Kosten der Methadonbehandlung werden bei entsprechender medizinischer Indikationsstellung vom substitutionsberechtigten Arzt durch die gesetzliche Krankenkasse übernommen. Dies klärt der Arzt mit Ihnen beim ersten Untersuchungs-/ Vorstellungstermin in der Substitutionspraxis. Danach wird der Antrag zur Kostenübernahme vom behandelnden Arzt bei der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung (KV) gestellt. Erst mit der Erteilung des Genehmigungsbescheides durch die KV werden die Kosten von der Krankenkasse übernommen.“ (midames – Münchner Informationssystem Drogen Alkohol Medikamente Eßstörungen Sucht)

In der Privaten Krankenversicherung können die Kosten für eine Methadon-Therapie auch weiterhin aus Kulanz vom Versicherer übernommen werden..

Es verwundert, warum der Deutsche Anwaltsverein jetzt auf dieses Urteil hinweist OHNE den Hinweis, dass es für die private Krankenversicherung gilt –  und eine Debatte anstößt.

In der Private Krankenversicherung gilt zunächst Vertragsfreiheit – ein Grund mehr, sich diesen Schritt genau zu überlegen. Der Fall der Methadon-Behandlung zeigt mögliche Konsequenzen …

Viel wichtiger aber ist die Frage nach Konsequenzen, wenn sich der Grundgedanke dieses Urteils auch generell durchsetzen sollte.
Denn – welcher Gedanke steht hinter diesem Urteil? Wieder der des Schuldprinzips. Wer für ein gesundheitliches Problem selbst verantwortlich ist, für den solle die Krankenversicherung auch nicht aufkommen, so diese Denkweise.

Eine gefährliche Denkweise, die an den Grundfesten unseres Versicherungssystems kratzt – nämlich dem der Solidargemeinschaft. Alle Versicherten stehen gemeinsam für alle Probleme aller ein. Durch die Verteilung der Kosten auf alle muss niemand existentielle Probleme aufgrund eines gesundheitlichen Problems befürchten – egal aus welchem Grund.

Wer dieses Prinzip aushöhlt – besonders, indem er das Schuldprinzip einführt -, legt damit die Axt an eines der Grundprinzipien unserer Gesellschaft, gefährdet den sozialen Frieden.

HIV-Positive sollten hellhörig werden: wer so denkt, wird irgendwann auch die Frage stellen, wie weit jemand für seine HIV-Infektion „selbst schuld“ sei – und die Übernahme Behandlungskosten durch die Gesetzliche Krankenversicherung in Frage stellen.

Danke an L. und das Forum für den Hinweis!.

weitere Informationen:
Landgericht Nürnberg-Fürth 11. Dezember 2008 (AZ: 8 O 3170/07) (publiziert u.a. in VersR Heft 20, 5. Juli 2009)
Ärzte-Zeitung 17.07.2009: PKV muss nicht aufkommen für die Methadonbehandlung
Deutscher Anwaltverein 28.08.2009: Krankenkasse muss Methadon-Behandlung nicht zahlen
Deutsches Ärzteblatt 28.08.2009: Urteil: Krankenkasse muss Methadon-Behandlung nicht zahlen
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Positive Begegnungen 2009 – Eröffnungs-Rede von Tino Henn

Im Folgenden als Dokumentation die Rede von Tino Henn, Vorstandsmitglied der deutschen Aids-Hilfe, anlässlich der Eröffnung der ‚Positiven Begegnungen 2009.

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer,
liebe Freundinnen und Freunde,

im Namen des Vorstands der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. heiße ich Sie herzlich willkommen zu den Positiven Begegnungen 2009.

„Positive Begegnungen“ – der Name dieser Konferenz zum Leben mit HIV, der größten Selbsthilfekonferenz in Europa, ist Programm: HIV-Positive begegnen anderen Menschen mit HIV, und sie begegnen ihrer sozialen Umwelt. Es geht bei dieser Veranstaltung darum, sich auszutauschen, sich selbst und andere zu hinterfragen und gemeinsam Strategien zu entwickeln, um ein möglichst gutes Leben mit HIV zu ermöglichen. Dazu gehört – getreu unserem Konzept der Strukturellen Prävention – ganz zentral, Strukturen zu verändern, die uns behindern, diskriminieren und stigmatisieren.

Was brauchen wir dafür? An erster Stelle Mut. Zum Beispiel den Mut, das Leben mit HIV und anderen „versteckten Behinderungen“ in die Öffentlichkeit zu tragen – etwa ins Stuttgarter Rathaus, mitten in die Schwabenmetropole. Lassen Sie mich an dieser Stelle der Stuttgarter Stadtverwaltung für ihre Gastfreundschaft unseren herzlichen Dank aussprechen und zugleich die Bürgermeisterin der Stadt Stuttgart des Referats für Soziales, Jugend und Gesundheit Frau Gabriele Müller Trimbusch herzlich willkommen heißen!

Mut gehört dazu, meine Damen und Herren – das war schon das Motto des zweiten Europäischen Positiventreffens, das 1988 in München stattfand. Mut, offen als Positiver auf die Straße zu gehen. Mut, Diskriminierung zu benennen und etwas dagegen zu tun.

Lassen Sie mich kurz auf zwei Themen eingehen, mit denen wir uns auf dieser Konferenz beschäftigen wollen, um gemeinsam und mit neuem Mut für unsere Interessen einzutreten: die Einschränkungen für HIV-Positive im Erwerbsleben und die soziale Sicherung für Menschen mit HIV und Aids.

Meine Damen und Herren, die Medikamente gegen HIV ermöglichen es vielen Positiven, über Jahre und Jahrzehnte gut mit dem Virus zu leben. Dennoch wird die Infektion häufig zum Problem für Beruf und Karriere. Da stellen sich Fragen wie „Erzähle ich meinem Arbeitgeber und den Kollegen davon?“, „Muss ich Nachteile befürchten?“, „Werden mich die Kollegen meiden oder sogar mobben?“ oder auf den ersten Blick nicht so präsente Fragen wie „Was passiert, wenn mich mein Arbeitgeber zu einem Auslandsaufenthalt zum Beispiel nach China schicken will, wo Menschen mit HIV, wie in einigen anderen Ländern auch, kaum ein Arbeitsvisum und manchmal gar keine Einreiseerlaubnis bekommen?“.

Sie sehen, es braucht viel Kraft, Selbstbewusstsein und Kreativität, um sich am Arbeitsplatz zu outen und sich dagegen zu wehren, ins Abseits geschoben zu werden. Und es braucht Arbeitsagenturen, Jobcenter, Arbeitgeber und Arbeitsmediziner, die mit gutem Beispiel vorangehen. Die für Menschen mit HIV und anderen chronischen Krankheiten oder Behinderungen diskriminierungsfreie Bedingungen schaffen. Es braucht Menschen und Organisationen, die weiterhin dafür kämpfen, dass Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Menschen mit HIV und Aids weltweit abgeschafft werden.

Ein Arbeitgeber, der mit gutem Beispiel vorangeht, ist die Daimler AG, und deshalb freue ich mich sehr, Herrn Dr. Norbert Otten, Leiter Politische Aussagen und Public Policy, heute als unseren Gast begrüßen zu können. Wir danken der Daimler AG für die eben überreichte Spende von 5000,- €.

Bereits 1991 hat das Unternehmen erstmals eine Richtlinie zur Nicht-Diskriminierung infizierter Mitarbeiter verabschiedet. Im Jahr 2005 wurde eine konzernweite Richtlinie eingeführt, in der sich das Unternehmen gegen die Diskriminierung von Menschen mit HIV und Aids ausspricht, Betroffenen Vertraulichkeit zusichert und sich für Präventionsmaßnahmen einsetzt. HIV/Aids wird bei der Daimler AG als chronische Krankheit behandelt. Ein Beispiel, das hoffentlich Schule macht – dafür setzen wir uns ein.

Mut und Engagement, meine Damen und Herren, brauchen wir auch für das zweite von mir genannte Thema, das uns immer drängender beschäftigt: Die soziale Sicherung von Menschen mit HIV hat sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert. Hierzu trugen und tragen viele Faktoren bei. Zum Beispiel:
die Einführung von Hartz IV,
die Verschlechterungen bei den Erwerbsminderungsrenten,
die sehr niedrigen Rentenerhöhungen,
die Streichung bisher gewährten Mehrbedarfs.
Die Gesundheitsreformen, die Änderungen im SGB, besonders das Hartz-IV-Gesetz und dessen Folgen, haben besonders für sowieso schon niedrige Einkommensbereiche wie Bezieher von Hartz IV und von Grundsicherung negative Auswirkungen. Mit großer Sorge, häufig auch mit Wut und Empörung, beobachten wir diese Veränderungen. Der Sozialstaat gerät immer stärker unter Druck. Die Folge: überall in Deutschland lebt ein nennenswerter Anteil der Menschen mit HIV in Armut oder nahe an der Armutsgrenze. Die Deutsche AIDS-Hilfe wird sich daher verstärkt dafür einsetzen, dass sich Sozialleistungen endlich am realen Bedarf orientieren und nicht noch weiter gekürzt werden. Wir appellieren an die Politikerinnen und Politiker und an das Bundesministerium für Gesundheit und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die Weichen für einen sozialen Schutz von Menschen mit HIV oder anderen chronischen Erkrankungen zu stellen. Bei den diesjährigen, aber auch den zukünftigen Wahlen werden wie sie an ihren Taten messen.
Ohne das jahrzehntelange Engagement von vielen Einzelnen stünden wir jetzt nicht hier, wären wir nicht so weit. Jeder, der sich engagiert und mitmacht, ist Vorbild für andere innerhalb der Community. Und die Selbsthilfebewegung von Menschen mit HIV und Aids, die selbstbestimmt und selbstverantwortlich handeln, ist oft Vorbild für andere. Darauf können wir stolz sein, und darauf sind wir auch weiterhin angewiesen. Denn nur so und nur gemeinsam können wir die Herausforderungen, die auf uns zukommen, meistern. Und davon wird es auch in Zukunft mehr als genug geben.

Ich danke allen, die an der Vorbereitung dieser Konferenz mitgewirkt haben: der Vorbereitungsgruppe, den Helferinnen und Helfern in Stuttgart, unserem Ehrenmitglied Laura Halding-Hoppenheit, der AIDS-Hilfe Stuttgart, den Küchenkräften und nicht zuletzt den Kolleginnen und Kollegen in der Bundesgeschäftsstelle in Berlin.

Meine Damen und Herren, liebe Freunde, ich wünsche uns allen, dass wir miteinander ins Gespräch kommen, Ideen entwickeln, Dinge anstoßen und mit Mut, Entschlossenheit und Kraft nach Hause zurückkehren. Mögen die Positiven Begegnungen uns viele positive Begegnungen bringen!

Schuld und Vertrauen

Mit der Verabschiedung des Pflegegesetzes durch das Bundeskabinett ist auch die Einführung des Schuldprinzips in der Krankenversicherung weiter voran geschritten.

Der Bundestag hat am 14. März 2008 nach zweistündiger Debatte das Pflegegesetz (genauer: ‚Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung‘) verabschiedet. Von vielen unbemerkt, ist dabei auch ein Passus mit umgesetzt worden, der zukünftig weitreichende Änderungen in der Krankenversicherung nach sich ziehen könnte: das Schuldprinzip ist eingeführt worden.

Zukünftig sollen Ärzte den Krankenkassen melden, wenn ein Patient eine Erkrankung hat, die eine Folge einer Schönheitsoperation, einer Tätowierung oder eines Piercings ist. In diesen Fällen soll der Patient dann an den Kosten beteiligt werden; die für die Kostenbeteiligung erforderliche gesetzliche Regelung ist bereits seit April vergangenen Jahres in Kraft. Die neuen Auskunftspflicht soll sogar gelten, wenn sich der Patient den gesundheitlichen Schaden selbst zugefügt hat.

Bisher gilt zwischen Arzt und Patient ein sehr weit reichendes Vertrauensverhältnis. Ärzte dürfen Informationen, die ihnen ein Patient anvertraut, nur in absoluten Ausnahmefällen an Dritte weitergeben – nämlich, wenn dies zum Schutz eines „höherwertigen Rechtsgutes“ notwendig ist, wie die Berufsordnung der Ärzte es (in §9(2)) definiert.

Alle drei Oppositionsfraktionen hatten Änderungsanträge (auch zur Frage der Schweigepflicht) eingebracht. Die jetzige Änderung wird das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten nachhaltig negativ verändern, befürchten Kritiker. Der Arzt werde zum Handlanger der Krankenkassen, die ärztliche Schweigepflicht werde torpediert.

Die Änderung zeigt, dass die derzeitige Gesundheitspolitik zunehmend das Ziel einer Solidargemeinschaft verlässt. Risiken werden von der Gemeinschaft auf den einzelnen verlagert. ‚Mehr Verantwortung übernehmen‘ lautet die euphemistische Bezeichnung für diesen Sozialabbau.
Der Gedanke, jeder habe für selbst verschuldete gesundheitliche Probleme selbst aufzukommen, mag zunächst verlockend erscheinen. Doch wie lange wird dieses „Schuldprinzip“ nur auf Schönheitsoperationen, Piercings und Tätowierungen beschränkt bleiben? Wann folgen Sportverletzungen, und warum ist eigentlich nicht jemand auch ’selbst Schuld‘ an einer sexuell erworbenen Infektion? Oder die Hepatitis- oder HIV-Infektion? Der ‚Fall Barmer‚ zeigt, dass diese Gedanken, so absurd sie heute erscheinen mögen, nicht sehr weit hergeholt sind.

Das Tor für weitere Änderungen ist breit geöffnet … und die nächste Gesundheitsreform kommt bestimmt …

Solidargemeinschaft statt ‚Schuld und Malus‘

Resolution des 123. Bundesweiten Positiventreffens:

Solidargemeinschaft statt „Schuld und Malus“

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 123. Bundesweiten Positiventreffens haben sich mit den Veränderungen des SGB V durch das geplante Pflegeweiterentwicklungsgesetz beschäftigt.

Der Absatz 2 des § 294a, SGB V soll folgende Fassung erhalten:

„(2) Liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass Versicherte sich eine Krankheit … durch eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing zugezogen haben (§ 52), sind die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte … verpflichtet, den Krankenkassen die erforderlichen Daten mitzuteilen.“

Das bedeutet für uns, dass Versicherte die Risiken, wie ästhetische Operationen oder das Anbringen von Piercings und Tätowierungen eingehen, die eventuell daraus entstehenden Kosten selbst zu tragen haben, da sie „schuldhaft“ diese Risiken freiwillig eingegangen sind. Hierzu sollen Ärztinnen und Ärzte Patientendaten an die Krankenkassen weitergeben müssen.

Wir meinen, dass eine Situation, in der Ärztinnen und Ärzte gezwungen sind, sensible Daten ihrer Patientinnen und Patienten an Krankenkassen weiterzugeben, einer Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht gleichkommt. Wir befürchten dadurch Verschlechterungen im vertrauensvollen Verhältnis von Patientinnen und Patienten zu ihren Behandlerinnen und Behandlern.
Ein vertrauensvolles Verhältnis ist jedoch gerade für chronisch Kranke von erheblicher Bedeutung.
Zudem ist fraglich, ob durch die hier zur Diskussion stehenden Fälle Folgekosten nach ästhetischen Operationen, Piercings oder Tätowierungen tatsächlich Kosten in nennenswerter Höhe eingespart werden können.

Geht es nicht vielmehr darum, das Schuldprinzip einzuführen? Der Einstieg in ein begrenztes „Schuldprinzip“ hat nur eine Türöffnerfunktion, um das bewährte Solidarprinzip „Einer trage des Anderen Last“ gänzlich auszuhöhlen.
Das Solidarprinzip erachten wir aber als einen Grundwert unserer Gesellschaft. Es zu gefährden heißt, den gesellschaftlichen Konsens der Republik zu gefährden und bedeutet die faktische Abschaffung des gleichen Rechts aller Bürgerinnen und Bürger auf Gesundheit.
Eine mögliche Ausweitung über die aufgezählten Risiken hinaus, die bereits debattiert wird (Stichworte: Ski- und allgemein Sportunfälle, Folgen des Rauchens und von Alkoholkonsum) machen über kurz oder lang jede und jeden zum „Schuldigen“. Mehr und mehr werden so die Kosten gesundheitlicher Risiken privatisiert.

Wir fordern daher die Mitglieder des Deutschen Bundestages auf, das Solidarprinzip in der Sozialversicherung beizubehalten und von der geplanten Änderung des SGB V abzusehen.

Um Kosten durch die Folgen der erwähnen Risiken zu minimieren, böte sich die Fixierung von Qualitätsstandards für ästhetische Operationen und das Anbringen von Piercings und Tätowierungen an.

Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 123. Bundesweiten Positiventreffens

Waldschlösschen, 16. November 2007

Krankheit und das Schuldprinzip

Ich bin schuld … dass ich krank bin…“, unter diesem leider langsam wahr werdenden Titel weist Kalle auf eine geplante Reform des Sozialgesetzbuchs hin.

Sozial-was???

In den Sozialgesetzbüchern ist das gesamte Sozialsystem der Bundesrepublik rechtlich geregelt, und das genannte Sozialgesetzbuch 5 (SGB V) regelt die gesetzliche Krankenversicherung (GKV).

Und mit einer klitzekleinen Änderung führt der Gesetzgeber wieder ein Stückchen Schuldprinzip in die GKV ein. Und durchlöchert nebenbei die ärztliche Schweigepflicht.
Was mit Tätowierungen anfängt, muss bei HIV noch lange nicht aufhören …

Überrascht?

Bei Kalle gibt’s mehr dazu zu lesen …

Nachtrag 17.10.: guter Artikel der ‚Zeit‘ dazu: Vom Sozialstaat zum Kontrollsystem (und danke Blogoff für den Hinweis)
Nachtrag 29.10.07: Pressemitteilung der BAG Selbsthilfe „Ärztliche Meldepflicht bei ’selbstverschuldeten Krankheiten‘ verstößt gegen Datenschutz“

Das Schuldprinzip in der Krankenversicherung

Am 1. April ist die lange diskutierte Gesundheits-Reform in Kraft getreten. Angesichts all der Berichte über Wahl-Tarife und Beitrags-Rückerstattungen ist ein kleines Detail kaum berichtet worden. Das Schuldprinzip ist in die Krankenversicherung eingeführt worden.

Ab dem 1. April dürfen wir uns nicht nur für Wahltarife entscheiden, mit verschiedenen Prämien, Selbstbehalten, Rückerstatttungen. Sondern die Kassen müssen auch nicht mehr aufkommen für Kosten in Folge von Piercings sowie Kosten nach unnötigen Schönheits- Operationen (das Gesundheitsministerium nennt das „Behandlung von Folgeerkrankungen aufgrund nicht notwendiger medizinischer Eingriffe“).

Wieder einmal ist das Tor weiter aufgemacht worden. Ein Tor, über dem als Überschrift stehen könnte „Das Schuldprinzip“.

Früher einmal war die Krankenversicherung nach dem Solidarprinzip gestaltet, wie beinahe die gesamte Sozialversicherung. Doch inzwischen greift zunehmend die Schuldfrage um sich – „ist der/die doch selbst schuld dran, was soll die Versicherten-Gemeinschaft dafür zahlen?“

Nun mag man/frau ja denken, „stimmt ja auch, was soll’s, hat ja selbst schuld., wer sich ein Piercing machen lässt (oder eine Schönheits-OP), und dann hinterher Probleme auftreten. Was soll ich mit meinen Krankenversicherungs- Beiträge dafür zahlen.“
Und schon ist man/frau in die populistische Falle der Entsolidarisierungs- Politik getappt.

Denn das könnte allerdings etwas kurz gedacht sein.
Vielleicht ist dann der nächste Ski-Unfall, der Sturz mit dem Motorrad demnächst auch nicht mehr versichert? Oder der die kleinen Problemchen, letztens, hingefallen als Sie so ein klein wenig beschwipst waren?
Und irgendwann dann auch die Behandlung der Raucher-Lunge, oder der HIV-Infektion? (schließlich, sie mussten ja nicht rauchen, und das mit dem Virus, das wussten sie doch vorher, dass das riskant ist…)

Das mag absurd erscheinen, nicht vorstellbar sein. Aber – mit Piercings und Schönheits-OPs ist ein Anfang (der ‚Selbst-Haftung‘) gemacht. Und das ‚Schuld-Prinzip‘ wird weiter ausgeweitet werden. Die so genannten ‚Risiko-Sportarten‘ sind bereits (nicht nur bei CDU-Politikern) in der Diskussion, könnten als nächste aus dem Versicherungsschutz der Krankenversicherungen ausgeschlossen werden.

Wollen wir das wirklich? Wollen wir ein derart immer mehr ent-solidarisiertes System?
Ein System, das Risiken wieder privatisiert? Für jeden und alles private Vorsorge-Versicherungen verlangt?
Oder nicht doch eine solidarische Krankenversicherung, die für alle Risiken der Gesundheit einsteht, und von allen für alle getragen wird?