Aids und die subtile Kontrolle der Lüste

Aids-Prävention, weitgehend auch von schwulen Männern zum eigenen Schutz ‚erfunden‘, hat viele positive Folgen. Und Aids-Prävention hat sich zum mächtigen Instrument der ‚Kontrolle der Lüste‘ entwickelt. Brauchen, wollen wir das eigentlich so noch?

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In direkter Reaktion auf die sich stark ausweitende und unsere Existenz als Schwule bedrohende Aids-Krise haben u.a. schwule Männer einst ’safer sex‘ erfunden. Dieses Konzept erwies sich bald als erfolgreich und wurde auch von staatlichen Stellen aufgegriffen, in Public Health Kampagnen eingebunden und promotet. Mit weitreichenden Folgen – positiven, aber auch hinterfragenswerten.

Schwuler Sex lag einst – vor Aids (und auch als Ergebnis der 1970er Schwulenbewegungen; spätestens seit der Strafrechtsreform; und für Schwule über 18 Jahren) – weitgehend außerhalb staatlicher Regulierung und Kontrolle. ‚Wir‘ hatten unseren Freiraum, den viele auch leidlich nutzen, experimentierten, ausprobierten. Begriffe wie ‚Subkultur‘ brachten diese dezidierte Ferne von Mainstream wie auch staatlicher Kontrolle und Regulierung auch sprachlich zum Ausdruck.

Dann kam die Aids-Krise. Durch Aids, Konzepte wie safer sex und deren bereitwillige Übernahme durch staatliche wie nichtstaatliche Stellen wurden viele positive Erfolge erzielt (wie eine weitgehend niedrige Rate an HIV-Neuinfektionen, gemessen an ursprünglichen Horror-Prognosen). Doch ein Preis dieser Erfolge war: schwuler Sex befand sich plötzlich weit in Reichweite staatlicher Regelung und Kontrolle. Nein, er ‚befand‘ sich nicht etwa überraschend dort, wir selbst hatten ihn – ob aus eigenem Überlebens-Interesse, in ‚Notwehr‘ oder als ‚Diktat der Vernunft‘ – dorthin manövriert.

Inzwischen ist schwuler Sex ein weitgehend staatlich normiertes Feld. Was ist ‚gut‘ (sprich: ‚gesund‘, ‚Neuinfektionen vermeidend‘ etc.)? Dies wird definiert durch staatliche Agenturen und durch (meist) von staatlichen Stellen bezahlte Nichtregierungsorganisationen. Was ist ’nicht gut‘ (sprich: ‚Infektionen riskierend‘, ‚ungesund‘)? Auch dies wird von ihnen definiert – und bei Bedarf skandalisiert (siehe Debatten um ‚Bareback‘ etc., aber auch stillschweigend nicht diskutierte Verbote von bestimmten ‚zu expliziten‘ Broschüren). Diese Kontrolle – mal war und ist sie mehr subtil (wie in Form von Botschaften des ‚guten Sex‘), mal ganz direkt (wie in Form von Verboten von Broschüren, Verhindern oder Verzögern von Kampagnen oder Skandalisieren von Personen und Verhaltensweisen). Aber immer ist sie da, die Kontrolle schwuler Lüste.

Inzwischen ist weitgehend akzeptiert, dass es ‚externe Stellen‘ gibt, die definieren, was an Sex ‚gut für uns‘ ist (anstatt dass wir das selbst machen). Nichts mehr mit ungeregeltem Experimentieren. Nichts mehr mit ‚hemmungslos‘, mit ‚fallen lassen‘, mit ‚Aufhebung von Gesetzen und Verboten‘.

Die externen politischen und sozialen Regelsysteme des schwulen Sex – wir haben sie längst akzeptiert, und an sie gewöhnt. Einschließlich ihrer Sanktions-Mechanismen.

Und wir haben lange nicht hinterfragt, ob das, was einst angesichts der Aids-Krise zu unserem Schutz gut für uns war, auch heute noch in unserem Interesse ist.

Mehr noch: einige Schwule haben diese Kontroll-Mechanismen als selbstverständlich akzeptiert – und internalisiert. Und so fällt es den Strukturen zunehmend leichter, bei einer sich abschwächenden wahrgenommenen Bedrohung durch HIV als ‚Ersatz‘ andere Stressoren zu präsentieren, von Syphilis bis Hepatitis C. Eine Fremd-Kontrolle, die auch bereitwillig akzeptiert wird, statt ein ‚Zurück zum selbst-kontrollierten Zustand‘ zu fordern, zu wagen – oder gar selbst zu gehen.

Michel Foucault, offen schwuler und 1984 an den Folgen von Aids gestorbener französischer Philosoph,  hätte diese Situation vielleicht mit seiner Formulierung von der „fehlgeleiteten Philantropie“ beschrieben: In anderem Kontext (Umgangs mit Geisteskranken) sprach Foucault von Wissenschaften, deren Anwendung einst aufgeklärt und human schienen, sich aber letztlich als subtile und heimtückische neue Formen sozialer Kontrolle erwiesen hätten …

Dabei wäre heute anderes denkbar.

Hier verbirgt sich die Frage nach Möglichkeiten der ‚Überwindung von Aids‘ und seiner Folgen für uns. Wie können schwule Männer etwas von dem, was infolge von Aids die Situation Schwuler negativ beeinflusste, einschränkte, fremd-bestimmte, regulierte, wie können wir das überwinden? Wie können Schwule ein Stück dieser (vielleicht notwendigerweise) aufgegebenen Freiheit (z.B. Freiheit von Regulierung, staatlichen Eingriffen) wieder gewinnen?.

James Miller bezeichnet in seiner Biographie „Die Leidenschaft des Michel Foucault“ den Philosophen als „in seinem radikalen Zugang zum Körper und einen Lüsten eigentlich eine Art Visionär“. Und Miller spricht von der

„Möglichkeit … daß hetero- und homosexuelle Männer und Frauen in der Zukunft … jene Art von körperlicher Experimentation, die ein integraler Bestandteil seines philosophischen Unternehmens war, wieder aufnehmen werden.“

Miller schrieb dies 1993, nur wenige Jahre nach dem Tod Michel Foucaults ( der an den Folgen von Aids gestorben war), geradezu visionär mit dem expliziten Zusatz, diese Möglichkeit ergäbe sich wieder

„nachdem die Bedrohung durch Aids zurückgegangen sein wird“.

Die reale Bedrohung durch HIV und Aids ist – gemessen an Horror-Szenarien der ersten Aids-Jahre – in Deutschland und West-Europa längst deutlich zurück gegangen.

Und doch, es gibt immer noch interessierte Stellen, die Horror-Gemälde an die Wand werfen – aber warum? Auf Basis einer realen Gefahr? Oder vielmehr z.B. um ihre einst durch Aids errungene Macht weiterhin aufrecht zu erhalten?

Hören wir auf Sie? Lassen wir uns weiter Angst-Gemälde vorhalten, internalisieren sie gar? Oder befreien wir uns, holen uns ein Stück Autonomie über uns, unsere Körper, unsere Leben zurück?

Guter Posi, böser Posi – Folgen der Biomedikalisierung der Prävention

Guter Posi, böser Posi

Folgen der Biomedikalisierung der Prävention

ein Gast-Kommentar von Phil. C. Langer

Es waren mitunter zwei miteinander zusammenhängende Themen, die vor zwei Jahren auf der Welt-AIDS-Konferenz in Mexiko im Mittelpunkt vielfältiger und kontroverser Diskussionen standen. Während unter dem Schlagwort der „Kombinationsprävention“ eine effektive Zusammenführung von Ansätzen thematisiert wurde, die sowohl auf Veränderungen des Verhaltens und der Verhältnisse als auch auf biomedizinische Interventionsinstrumente zielten, wurden letztere anhand der männlichen Beschneidung als Möglichkeit, die Übertragungswahrscheinlichkeit von HIV beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr signifikant zu vermindern, unter die Lupe genommen. Wer nun eine Fortsetzung dieser Diskussionen auf der diesjährigen Welt-AIDS-Konferenz in Wien erwartet hatte, wurde enttäuscht. Von Beschneidung war nur mehr am Rande die Rede, wenn es darum ging, die damals geäußerten sozial- und kulturwissenschaftlichen Bedenken bezüglich der Akzeptanz und der Folgen als „bewiesenermaßen“ gegenstandslos ad acta zu legen. Und auch die Frage, wie die unterschiedlichen Präventionsansätze synergetisch zusammenwirken können, schien überholt zu sein. So wurde in mehreren Vorträgen die Bedeutung antiretroviraler Medikament als neue „magic bullet“ der Prävention auf eine einfache Formel gebracht: ART ist Prävention – oder vielmehr: Eine erfolgreiche Prävention ist letztlich nur durch die ART möglich.

Die Fokussierung auf die ART als privilegiertes Instrument zur Bekämpfung der globalen Pandemie bezieht sich natürlich auf die Erkenntnis, dass die HIV-Übertragungswahrscheinlichkeit von der Viruslast abhängt, die auch in der bekannten EKAF-Stellungnahme ausgeführt wird. Davon ausgehende mathematische Modelle legen in diesem Sinn eine umfassende Therapisierung aller Infizierten nahe. Am Beispiel von Südafrika etwa kommen Grulich et al. zum Ergebnis, dass eine universelle jährliche HIV-Testung aller Menschen über 15 Jahre in Verbindung mit einem sofortigen Beginn der ART nach der Diagnose zu einem absehbaren Ende der Epidemie führen würde: „Die Übertragung kann auf ein niedriges Niveau reduziert werden und die Epidemie kann über eine stetige Abnahme hin zur vollständigen Elimination eintreten, wenn diejenigen, die eine ART erhalten älter werden und sterben.“ (1) In Wien wurden diese statistischen Berechnungen fortgeführt. Die unbehandelte Positiven tauchen darin indes nur mehr als ein kollektives „Reservoir“ der Viruslast auf, das es auszurotten gilt. In der abstrahierten Kollektivierung schien dabei das konkrete Subjekt, der einzelne mit HIV und Aids lebende Mensch, zu verschwinden. Damit erhält die emanzipatorische Forderung nach universellem Zugang zur Therapie eine bedenkliche Schlagseite, sofern sie sich auch als nach universelle Behandlungsforderung verstehen lässt.

Die angedeutete Entwicklung wird in den Sozialwissenschaften als Biomedikalisierung bezeichnet (2). Der Begriff beschreibt einen Prozess, in dem nichtmedizinische Probleme als medizinische Probleme definiert und behandelt werden. Die damit einhergehende Ausweitung der medizinischen Deutungs- und Handlungsmacht auf psychosoziale und soziokulturelle Phänomene betrifft weite Lebens- und Erfahrungsbereiche auch jenseits von HIV und Aids: Zu den oft angeführten Beispielen gehören die extensive medikamentöse Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS) bei Kindern, die monokausale Erklärung depressiver Störungen durch ein biochemisches Ungleichgewicht im Hirn, wodurch psychotherapeutische Möglichkeiten zu bloßen Begleitverfahren degradiert werden, und die pharmaindustriellen Möglichkeiten zur Behebung erektiler Dysfunktion, für die Viagra® steht, der die aktuell unter dem Schlagwort „Neuroenhancement“ laufende Diskussion um den Einsatz amphetaminhaltiger Medikamente zur Leistungssteigerung ohne medizinische Indikation.

Seit einigen Jahren wird von unterschiedlicher Seite auf eine umfassende Biomedikalisierung von HIV und Aids hingewiesen, die vielfältige Einflüsse der Biomedizin in Bereichen begründet, die außerhalb der rein medizinischen Behandlung der HIV-Infektion und ihrer physischen Folgen liegen – also zum Beispiel in der Psychologie, der Politik, im Recht oder der Prävention. Die aktuelle präventive Bedeutung der ART, auch im Hinblick auf ihre Nutzung als PEP und PrEP, sowie der Beschneidung, des HIV-Tests, aber auch die Neuverhandlung der Rolle von Ärzten, die über die Behandlung hinaus Deutungshoheit auch in der Prävention erlangen, sind Ausdruck dieser Biomedikalisierung. Unabhängig von den unbestrittenen Perspektiven, die sich durch die ART auch für die Prävention, nicht zuletzt als Beitrag zur Destigmatisierung von Positivsein und zur Integration von Positiven in Arbeit ergeben, gibt es doch auch „Nebenwirkungen“ dieser Biomedikalisierung für HIV-Positive, die thematisiert werden sollten.

Denn folgt man der argumentativen Linie, die unter Berufung auf ein festgesetztes, gesamtgesellschaftliches Allgemeingut von den mathematischen Modellen zur antiretroviralen Elimination der identifizierten „Reservoirs“ von Nichtbehandelten führt, so werden moralische Zuschreibungen erkennbar, die zwischen „guten“ und „bösen“ Positiven unterscheiden. So ist letztlich die umfassende Testung aller möglichen oder wahrscheinlichen Infizierten Voraussetzung ihrer umfassenden Behandlung. Wie aber ist dies mit dem Prinzip der Freiwilligkeit der Testentscheidung zu vereinen? Führt dies nicht zur Einführung des in den USA bereits bestehenden Opt-Out-Modells, demzufolge die HIV-Testung im Kontext ärztlicher Routineuntersuchungen mit gemacht wird, sofern kein expliziter Widerspruch erfolgt? Wie erscheint dabei ein Mensch, der sich trotz erkannter Risikokontakte nicht testen lassen will, obwohl es für Viele psychologisch durchaus wichtig sein kann, sich längere Zeit mehr oder weniger bewusst mit der möglichen Infektion auseinanderzusetzen, bevor sie durch die Diagnose „objektiv“ und „manifest“ wird.

Im Sinne der präventiven Durchmedikalisierung des „Reservoirs“ würde sich auch die Frage eines „richtigen“ Therapiebeginns – und damit der eigenen Entscheidung dazu – erübrigen: Die ART wäre sofort und für alle, unabhängig von dem gesundheitlichen Zustand und der Bereitschaft des Einzelnen durchzusetzen. Was aber wäre zu tun, wenn ein Mensch mit bekannter HIV-Infektion die Therapie nicht beginnen möchte? Wie weit geht man, die Freiheit des Einzelnen angesichts des ökonomisch und kollektivhygienisch definierten Allgemeinwohls einzuschränken? In diesem Sinn führen scheinbar wertfrei vorgebrachte Argumente der biomedizinischen Prävention schnell zu einer vermeintlich „objektiven“ Alternativlosigkeit der Implementierung, die dann indes moralische Bewertungen subjektiven Verhaltens mit sich bringt und sich in juristische Fragen übersetzen lässt.

Im Anschluss an den französischen Philosophen Michel Foucault kann man dies als Ausdruck der modernen Bio-Macht eines neoliberalen Staates verstehen, die einst gesellschaftlich definierte Bereiche wie Gesundheit/Krankheit in den Zuständigkeitsbereich des Individuums verlagert und zu einem Problem der individuellen Selbstsorge und Eigenverantwortlichkeit macht: „Das Spezifikum der neoliberalen Rationalität liegt in der anvisierten Kongruenz zwischen einem verantwortlich-moralischen und einem rational-kalkulierenden Subjekt. Sie zielt auf die Konstruktion verantwortlicher Subjekte, deren moralische Qualität sich darüber bestimmt, dass sie die Kosten und Nutzen eines bestimmten Handelns in Abgrenzung zu möglichen Handlungsalternativen rational kalkulieren. Da die Wahl der Handlungsoptionen als Ausdruck eines freien Willens auf der Basis einer selbstbestimmten Entscheidung erscheint, sind die Folgen des Handelns dem Subjekt allein zuzurechnen und von ihm selbst zu verantworten.“ (3)

Paradoxerweise ermöglicht die Zuweisung individueller Handlungsverantwortung es dem Staat aber nicht nur, sich aus seiner Verantwortung zurückzuziehen, sondern eröffnet ihm auch neue strategische Möglichkeiten der Kontrollausübung, was in der Diskussion um die Anwendung des Strafrechts auf mögliche Infektionssituationen erkennbar wird. Der HIV-Positive erscheint als „Risikofaktor“, den es mithilfe juristischer (oder ökonomischer) Instrumente zu sanktionieren gilt; so hat es etwa rechtskräftige Verurteilungen von HIV-Positiven wegen ungeschützten Geschlechtsverkehrs gegeben – selbst wenn dieser einvernehmlich oder ohne signifikantes Übertragungsrisiko vollzogen worden ist –, und es liegen auch Berichte vor, wonach Krankenkassen versucht haben, (vermeintliche) HIV-Überträger in Regress zu nehmen. Hinzu kommt eine der für die strukturelle Prävention fatalen Folgen einer Schwächung des sense of community durch eben jene Differenzierung zwischen „guten“ und „bösen“ HIV-Positiven: zwischen denjenigen also, die sich „richtig“ – also: rational, moralisch, verantwortlich, präventionsgerecht, safe(r) – verhalten, und denjenigen, die sich „falsch“ – also: den Präventionsnormen widersprechend, unverantwortlich, unmoralisch, „gemeinschaftsschädigend“ – verhalten.

Vielleicht sollten wir – statt dieses Spiel moralischer Zuschreibungen mitzumachen – doch noch einmal an die Diskussion in Mexiko anknüpfen und die Frage stellen, welchen spezifischen Ort biomedizinische Ansätze und Instrumente im Kontext einer umfassenderen „Kombinationsprävention“ haben kann und wo ihre Grenzen liegen. In diesem Sinne ginge es dann nicht zuletzt darum, die Herstellung eines politischen und gesellschaftlichen Rahmens sowie individueller psychosozialer und ökonomischer Ressourcen als unverzichtbare Voraussetzung eines eigenverantworteten, gesundheitsbewussten Verhaltens zu verstehen. Und hier ist sicherlich noch genug zu tun.

Referenzen:
(1) Granich et al. (2008). Universal voluntary HIV testing with immediate antiretroviral therapy as a strategy for elimination of HIV transmission: a mathematical model. Lancet Online vom 26. November 2008.
(2) Kippax, S., & Holt, M. (2009). The State of Social and Political Science Research Related to HIV: A Report for the International AIDS Society.
(3) Lemke, T. (2007). Gouvernementalität und Biopolitik. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Dieser Artikel erschien zuerst in ‚Projekt Information Juli / August 2010‘
Vielen Dank an Phil C. Langer und Projekt Information für die Genehmigung der Übernahme!

Homosexualität als Verbrechen – die Situation von Schwulen und Lesben im Iran

Nach kurzen Jahren mit beginnender homosexueller Emanzipation ist die Lage schwuler Männer und lesbischer Frauen im Iran seit Amtsantritt des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad zunehmend von staatlicher Verfolgung und Lebensgefahr geprägt. Die heute in Kalifornien lebende Iranerin Janet Afary berichtet in Lettre über die Situation Homosexueller im Iran.

Janet Afary ist Iranerin, studierte in Teheran Linguistik, ging 1978 ins Exil in die USA. Sie promovierte über die iranische Revolution von 1906 und lehrt derzeit an der University of California. Afary ist Mitarbeiterin von The Nation und Guardian.

Afary befasst sich in ihrem Artikel in Lettre International Nr. 88 neben Themen wie „Frauen, Reformen, Menschenrechtsdiskurs“, der „Politik der Geburtenkontrolle“ und „Heiratskonventionen und sexuelles Erwachen“ auch in zwei ausführlichen Kapiteln mit der Situation männlicher und weiblicher Homosexueller im Iran: „“Diskurs über die Rechte von Homosexuellen“ sowie „“Staatliche Verfolgung sexueller Transgression“.

Lettre88

Afary folgt in ihrer Analyse stellenweise Gedanken des französischen (1984 an den Folgen von Aids verstorbenen) Philosophen Michel Foucault, z.B. dem Gedanken (aus „Sexualität und Wahrheit“), die „wahrhafte Explosion des Diskurses“ über Sexualität im Europa des 17. Jahrhunderts habe stattgefunden auf der Basis eines „funktionierenden Apparats zur Erzeugung eines noch umfangreicheren Diskurses der Sexualität, dessen Ökonomie er zu beeinflussen trachtete“. Diese Darstellung Foucaults auf den heutigen Iran anwendend, beschriebt sie die Situation von Frauen und Homosexuellen im Iran.

In ihrem „Diskurs über die Rechte von Homosexuellen“ im Iran berichtet  Afary zunächst besonders über die Bedeutung der nur zwei Jahre (vom Dezember 2004 bis 2006) existierenden bahnbrechenden Publikation und Website ‚MAHA: The First Iranian GLBT E-Magazine“. Die mutige Rolle MAHAs werde deutlich an frühen Aussagen wie

„Wir leben in einer Gesellschaft, in der Pädophilie legal ist und durch die Scharia begründet wird, während eine freie und freiwillige sexuelle Beziehung zwischen zwei homosexuellen Erwachsenen als Verbrechen gilt.“

MAHA habe nicht nur das Verhalten des klerikalen Iran kritisiert, sondern auch das der säkularen Intellektuellen und Künstler:

„Würden, wenn ein/e Künstler/in oder jede/r andere wegen des ‚Verbrechens‘ der Homosexualität in Haft käme, iranische Künstler und Linke sich öffentlich zu seiner/ihrer Verteidigung äußern? Die definitive Antwort lautet: Nein!“

Allerdings habe MAHA auch betont, „es gebe unter den verschiedenen NGOs und politischen oppositionellen Gruppen eine eine größere Toleranz für moderne Homosexuellenrechte.“

MAHA sei nach nur zwei Jahren Bestehen eingestellt worden – vor allem aus Furcht vor Verhaftung und Hinrichtung der Mitarbeiter. Organisationen aus dem Exil (wie Cheraq oder Iranian Queer Organisation) würden sich bemühen, die Arbeit fortzusetzen. Im Iran selbst hingegen habe sich die Situatiuon ab 2005 deutlich verschärft:

„Der Krieg gegen die Homosexualität und eine offen zur Schau getragene homosexuelle Lebensweise eskalierte nach der Wahl des basidsch [basidsch: Abteilung bzw. Mitglieder der iranischen Revolutionsgarde, d.Verf.] Ahmadinedschad zum Präsidenten.“

Seit Ahmadinedschad würden basidsch als Agents Provocateurs eingesetzt, um Homosexuelle mit verdeckten Aktionen zu ‚enttarnen‘ und festzunehmen. Die heutige Verfolgung ginge noch über das Procedere der Scharia hinaus: während diese ein Geständnis oder Zeugenaussagen in flagranti verlange, würden Behörden heute nach medizinischen Beweisen der Penetration suchen. Lägen derartige Beweise vor, werde die Todesstrafe verkündet.

„Da die Hinrichtung von Männern aufgrund des Vorwurfs der Homosexualität international für Empörung gesorgt hat, tendiert der Staat dazu, ihn mit Anklagen wie Vergewaltigung und Pädophilie zu verbinden. Die Anwendung dieser Taktik hat den Status der Homosexuellengemeinde im Iran untergraben und die Sympathien der Öffentlichkeit vermindert.“

Die iranische Gesellschaft befinde sich in einem Umbruch-Prozess, was sexuelles Verhalten angehe. Der Staat weigere sich jedoch hartnäckig, seinen Widerstand gegen Reformen aufzugeben. „Familienwerte“ oder „unmoralisches sexuelles Verhalten“ seien inzwischen zu Reizthemen zum Ausbau der Macht der Neokonservativen geworden.

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weitere Informationen:
Janet Afary
„Sexualökonomie im Iran –
über Bevölkerungspolitik, weibliche Emanzipation und Homosexualität“
Lettre International Nr. 88
(Text-Auszug)