Ohne Karl Heinrich Ulrichs und seine Überlegungen zum dritten Geschlecht, dem der Homosexuellen oder Urninge, wäre Magnus Hirschfeld, der bekannteste Sexualwissenschaftler der Jahrhundertwende, wäre kaum denkbar gewesen, betont Bernd Aretz in einer Laudatio auf Ulrichs.
Karl Heinrich Ulrichs braucht eine Straße – findet die Initiative Schwule Juristen, und wird von vielen Personen dabei unterstützt. An zahlreichen Orten wird bereits dem frühen Pionier einer Emanzipation „mann-männlicher Liebe“ gedacht, bisher nicht in Berlin.
1997 wurde in Göttingen am Haus Markt 5 eine Gedenktafel für Karl Heinrich Ulrichs angebracht. Für die Einweihung der Göttinger Tafel hielt der Jurist Bernd Aretz 1997 folgende Laudatio:
Göttinger Laudationes: Karl Heinrich Ulrichs, Jurist
Rede anläßlich der Enthüllung einer Gedenktafel am 17.1.1997, Markt 5
„Karl Heinrich Ulrichs war von mittlerer Statur, von hoher Stirn, von der wenige, aber ziemlich lange Haare herabhingen, von ernstem und ausgeprägtem Gesichtsschnitt, mit perfekten Zügen, beschmückt mit einem kurzen und dünnen Bart, eher nüchtern, mit geringen Bedürfnissen und geistig angestrengt, gekleidet mit eher ärmlicher als bescheidener Kleidung, mit ruhigem würdevollen Gang, ohne Geziertheit, gestützt auf einen Stock, immer mit einigen Büchern, die er unter den Arm geklemmt hatte.“ So begann 1895 Marchese Nicolo Persichetti in Aquila in den Abruzzen seine Grabrede für den am 14. Juli gestorbenen geschätzten Freund.
Die Daten, der äußere Weg: Karl Heinrich Ulrichs wurde am 28. August 1825 in Aurich in Ostfriesland in eine bürgerliche, von Beamten und Pfarrern geprägte Familie geboren. Der frühe Tod des Vaters führte dazu, daß Ulrichs in einem Internat in der Nähe von Hildesheim und, von Verwandten aufgenommen, die Gymnasien in Detmold und in Celle besuchte. Das Studium führte ihn nach Göttingen. Die Universität bescheinigte 1846 unter anderem. „Der Studierende Ulrichs, welcher schon seit 5 Semestern nach der Aussage seiner Lehrer sehr fleißig seine Vorlesungen besucht, auch sonst Zeichen eines nicht gewöhnlichen Fleißes gegeben hat, steht in dem Rufe ein ordentlicher Mensch zu sein, hat auch von Seiten der Disziplin niemals Veranlassung zu Klagen gegeben“.
Er betrieb als Schwerpunkt die Juristerei, studierte aber als Mann von breitgefächerten Interessen auch Archäologie und Literaturwissenschaft. Wer darum weiß, wieviel Energien es heute immer noch jugendliche im coming out kostet, ihre Homosexualität zu entdecken und zuzulassen, wird erahnen können, welche Qualen ein Mann durchlitten haben muß, für den es keinerlei öffentliche Vorbilder oder Orte der umfassenden sozialen Begegnung gab. In einer gesellschaftlichen Situation, die manche von Ulrichs Freunden in den Selbstmord trieb, blieb Karl Heinrich Ulrichs handelndes Subjekt.
Wissenschaftliche Veröffentlichungen, insbesondere im öffentlichen Recht, wurden preisgekrönt, auch von der Universität Göttingen. Literarische und politische Texte von ihm sind erhalten, wie zum Beispiel das „Großdeutsche Programm“, in dem er zu Recht darauf hinwies, daß die deutsche Einheit nicht so gezimmert werden dürfe, daß einzelne sich darin nicht wohl fühlten. Er kämpfte für einen wechselseitigen Respekt gegenüber den kulturellen Leistungen der unterschiedlichen Volksgruppen.
In Göttingen konnte er auch dem geselligen Leben durchaus etwas abgewinnen. Er gab, teils selbstgeschriebene, Studentenlieder heraus. Und er tastete sich zu dem vor, was sein Hauptwerk werden sollte: die zwölfbändige Schrift „Forschungen über das Räthsel der mann‑männlichen Liebe“. Ulrichs wagte es als erster, das Unaussprechliche auszusprechen, den Sehnsüchten einen nicht negativ besetzten Namen zu geben, die mann‑männliche Liebe. Und er legte so zwischen 1864 und 1879 den Grundstein für eine nicht diskriminierende Forschung zu sexuellen Identitäten.
Magnus Hirschfeld, der bekannteste Sexualwissenschaftler der Jahrhundertwende, wäre ohne Ulrichs und seine Überlegungen zum dritten Geschlecht, dem der Homosexuellen oder Urninge, kaum denkbar gewesen. Ulrichs war ein radikaler Kämpfer für die Gleichberechtigung. Er korrespondierte mit Menschen in der ganzen Welt über das Empfinden und Leben homosexueller Männer, stand mit allen Größen der beginnenden Sexualwissenschaft in Kontakt. Er konzipierte die erste schwule Zeitschrift und entwarf schon die Satzungen für den Urningsbund. Eine Hülfskasse sollte eingerichtet werden, die großen politischen Entwürfe sollten mit der Politik des Machbaren vereint werden. Und diese Forderungen erhob er öffentlich.
Daß seine Karriere im Staatsdienst trotz der herausragenden fachlichen Qualitäten nur von kurzer Dauer war, versteht sich fast von selbst. Auch daß das freie deutsche Hochstift in Frankfurt, das auch heute noch das Goethe‑Haus betreibt, ihn wegen seiner Homosexualität hinauswarf, verwundert kaum. Verblüffender ist da eher schon, daß die beiden Haftstrafen in der Festungshaft zu Minden nicht seiner Homosexualität galten, sondern seinem öffentlichen Protest gegen die Annektionspolitik Preußens.
Ulrichs schlug sich nunmehr als Privatgelehrter, Journalist, Autor, Privatsekretär und Hauslehrer durch. Sein Lebensweg führte ihn über verschiedene deutsche Städte nach Italien, wo er in den letzten Jahren eine in aller Welt verbreitete Zeitschrift zur Wiederbelebung der lateinischen Sprache, Alaudae, herausgab. Göttingen darf sich glücklich schätzen, einen Mann aus seinen Reihen ehren zu dürfen, auf dessen Ehrentafel nicht nur Jurist hätte stehen können, sondern mit gleicher Berechtigung schwuler Bürgerrechtler oder Sexualwissenschaftler.
Wir verdanken ihm folgendes Bekenntnis zur Solidarität: „Die Vergewaltigten und Geschmähten kennen kein Recht der Vergewaltigung durch nackte Gewalt, noch ein Recht der Schmähung. Darum ist unsere Stellung überall auf Seite der Vergewaltigten oder Geschmähten: mögen sie heißen Pole, Jude, Hannoveraner, Katholik, oder sei es ein unschuldiges Geschöpf, das den Leuten anrüchig ist, weil es so sittenlos war, außerehelich geboren zu werd en, wie wir ja so unsittlich waren, mit der Urningsnatur ausgestattet zu werden, oder mag es eine arme „Gefallene“ sein, die der hochsittliche Barbarismus des 19. Jahrhunderts zu Akten der Verzweiflung treibt, zu Kindsmord, Fruchtabtreibung, wohl gar zu Selbstmord. Wir, die wir wissen, wie es tut, vergewaltigt und gemartert zu werden: Wir können so recht von Herzen die Partei jener ergreifen, die wir in ähnlicher Lage erblicken. Neben dem Juden stehen wir, sobald ein übermüthiger Katholik ihn beschimpft, neben dem Katholiken, sobald ein intoleranter Liberaler ihn um seines Glaubens willen schmäht. Wir verteidigen nicht heuchlerisches Augenverdrehen, wohl aber das Recht, Katholik zu sein, das Menschrecht für Glauben und Nichtglauben sich zu verantworten vor dem eigenen Gewissen und nicht vor schmähsüchtigen Parteien. Mit Charakteren sympathisieren wir, mit jedem freien Menschen, nie mit Parteisklaven. Wir bekämpfen die Arroganz despotischer Majoritäten. Unter allen Umständen verachten wir daher den herrschenden Liberalismus, welcher hohler ist als taube Nüsse, welcher uns statt Brotes Steine beut; welcher Freiheit nur für Majoritäten fordert, die bereits am Ruder sind, sobald es sich dagegen um unterdrückte Minoritäten handelt, die seinem Geschmack nicht zusagen, nie und nirgend für Freiheit eintritt, der ohne Ende die selbe fälscht durch den ihm innewohnenden Despotismus, der ohne zu erröten alle Tage Menschenrecht verhöhnt und Menschenwürde zertritt.“
Auf seinem Grabstein steht unter anderem zu lesen: „Er eignete sich alle Bereiche der humanistischen Bildung in einem solchen Maße an, daß er von berühmten Gelehrten in Göttingen und Berlin zu ihresgleichen gerechnet wurde, warf in Antropologie und der Jurisprudenz neue Fragestellungen auf, wurde mit hohen Ämtern
geehrt und wurde in günstigen Urnständen nie übermütig und in widrigen nie verzagt. Schwierige Ereignisse vertrieben ihn aus dem Land Hannover und als armer Mann
wanderte er durch einen großen Teil Europas. Überall erwies er sich als Mann von Geist, Gelehrsamkeit und Tugend.“
Ich danke den Göttinger Schwulen, daß sie durch die Wiederherstellung des Grabsteins von Ulrichs einen Beitrag gegen das Vergessen geleistet haben. Ich danke der Stadt Göttingen, daß sie mit der Tafel eine der Facetten Ulrichs ehrt, wenn auch zweifellos nicht die wichtigste. Im Verschweigen dessen, was sein Hauptwerk war, wird deutlich, wie weit Ulrichs seiner Zeit voraus war.
Literatur:
Karl Heinrich ULRICHS:Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe“, hg. von Hubert Kennedy, Berlin 1994, Reprint der Ausgabe von 1864‑1879.
Hubert KENNEDY: „Karl Heinrich Ulrichs ‑ Sein Leben und sein Werk“, Stuttgart 1990, Beiträge zur Sexualforschung 65.
(vielen Dank an Bernd Aretz für die Erlaubnis, den Text (der bereits auch in der ‚posT‘ publiziert wurde) hier zu übernehmen!)