Bericht „HIV-Testungsansatz im deutschen Gesundheitswesen“ (akt.)

Bericht über die Expertenanhörung
HIV-Testungsansatz im deutschen Gesundheitswesen
am 22. Oktober 2009 in Hannover

Am 22. Oktober 2009 fand in Hannover ein „Expertenworkshop zur zukünftigen Strategie von HIV-Testungen im deutschen Gesundheitswesen“ statt. Als Ziel war von den Veranstaltern vorab formuliert worden, „Empfehlungen zum zukünftigen HIV-Testungsansatz in Deutschland zu entwickeln“.

Prof. Reinhold Schmitt, Vorsitzender des GWB (Gemeinsamer Wissenschaftlicher Beirat für die Behörden und Anstalten im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit) betonte in seiner Begrüßung der 35 Teilnehmer, der GWB habe das Thema auf die Tagesordnung gebracht mit dem Ziel, verschiedene Stakeholder zusammenzubringen. Zeitlich parallel sei der HIV-Testungsansatz durch ‚HIV in Europe‘ und die DAIG zum Thema gemacht worden.

Frau Knufmann-Happe, Abteilungsleiterin 3 im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) wird aufgrund aktueller Entwicklungen (‚Schweinegrippe‘) durch Herrn Bindert vertreten, der auch die anwesenden Vertreter/innen von WHO, UNAIDS und ECDC (European Center for Disease Control) begrüßt.
Er erinnert an die schnelle Reaktion des BMG vor 25 Jahren gemeinsam mit NGOs, die zu einer international anerkannten Aids-Bekämpfungs-Strategie geführt habe, die immer wieder auch an aktuelle Anforderungen angepasst worden sei. Die im internationalen Vergleich niedrige HIV-Neuinfektionsrate dokumentiere den Erfolg dieser deutschen Aids-Politik und der erfolgreichen Zusammenarbeit von öffentlichen Partnern (ÖGD, Gesundheitsämter) und Zivilgesellschaft (DAH, Aids-Hilfen). Ein wesentlicher Aspekt der deutschen Aids-Politik bleibe die Auseinandersetzung mit Stigmatisierung und Diskriminierung. Auch wenn Verbesserungen offensichtlich seinen, „ideal sind die Verhältnisse noch lange nicht“.
Der HIV-Test habe einen Bedeutungswandel erfahren; nach dem Paradigmenwechsel 1996 habe die präventive Indikation heute einen höheren Stellenwert, eine niedrige Zugangsschwelle sowie anonyme Testmöglichkeiten seien von hoher Bedeutung. Deutschlands Haltung sei und bleibe im Einklang mit der WHO Einvernehmlichkeit, Vertraulichkeit und Beratung vor/nach dem Test.
Das BMG begrüße außerordentlich die iwwit-Testwochen, die ein gutes Beispiel eines niedrigschwelligen Angebots seien, das speziell auf die Erfordernisse der Zielgruppe MSM ausgerichtet ist.
Bezüglich des HIV-Tests merkt Bindert an, dass schon aus rechtlichen Gründen in Deutschland opt-in indiziert sei, dies entspreche auch den WHO- und UNAIDS-Empfehlungen für Länder mit konzentrierter HIV-Epidemie (wie Deutschland).

Prof. Jürgen Rockstroh, Vorsitzender der DAIG (Deutsche Aids-Gesellschaft), betont, etwa 50% der HIV-Infizierten in Europa wüssten nicht von ihrer Infektion (Deutschland ca. 25 bis 30%).
Ein früherer Therapiebeginn biete nicht nur die Chance einer besseren Prognose, sondern wichtig sei auch der zweite Aspekt einer potentiell deutlichen Reduzierung der zahl der Neuinfektionen.
Rockstroh verwies auch auf den internationalen Kontext; dem Präsidenten der International Aids Society (IAS) Julio Montaner sei ein wichtiges Thema auch die Vermeidung von nicht-Aids-bedingten Erkrankungen und Todesfällen sowie von HIV-Übertragungen. Die Initiative ‚HIV in Europe‘ sei wesentlich auf Initiative von Lundgren und Gazzard sowie der Gruppe EATG entstanden. Eine erste Folge der ersten Konferenz von ‚HIV in Europe‘ (Brüssel 2007) sei eine Resolution des Europäischen Parlaments, Europa solle gemeinsam formulierte HIV-Teststrategien entwickeln, die Mitgliedsstaaten seien dazu aufgerufen, aktiver auf diesem Feld zu werden. Aktuell werden bei ‚HIV in Europe‘ eine Konsens-Definition zum Begriff „late presenter“ erarbeitet, diese werde demnächst auf der Website zur Kommentierung online gestellt. Zudem sei eine Studie in Durchführung, bei welchen Indikator-Erkrankungen welcher Prozentsatz an HIV-Diagnosen auftrete (um herauszufinden, ob es sinnvoll sei, bei diesen Indikator-Erkrankungen zu screenen). An einem Pilotprojekt seien Bonn und Essen beteiligt.

Dr. Ulrich Marcus (RKI) stellt in einem Vortrag „Begrifflichkeiten und Eckdaten“ zum Thema vor (Bericht folgt getrenntHIV-Testung – Begrifflichkeiten und Eckdaten„).

Drei Arbeitsgruppen wurden gebildet, die jeweils in zweistündigen Sitzungen ihre Themenfelder behandelten:
1. „HIV-Testungen in Deutschland aus Perspektive der Gesundheitsversorgung“ (Rapporteure Prof. Goebel, Behrens)
2. „HIV-Testungen in Deutschland aus Public Health Perspektive“ (Rapporteure Prof. Pott 7 Rosenbrock)
3. „HIV-Testungen in Deutschland aus rechtlicher und ethischer Perspektive“ (Rapporteure Dr. Eberbach / Hoesl)

Ergebnisse der Arbeitsgruppen:

1. „HIV-Testungen in Deutschland aus Perspektive der Gesundheitsversorgung
Prof. Goebel berichtet über die in der AG erarbeiteten Ziele:

Ist:
– Diskussion von Testangeboten ist eng mit Präventionsbemühungen und den derzeitigen Strukturen, in denen getestet wird / werden könnte verbunden
– Strukturdefizite wurden speziell aufgezeigt für STD, Tbc-Versorgung
– HIV-relevante Defizite in der ärztlichen Weiterbildung
– Zwei Prävalenzgruppen (Migranten, Inhaftierte) haben besondere Defizite der HIV-spezifischen Versorgung
– Insgesamt positive Entwicklung der HIV-Testbereitschaft Deutschland

Ziele 1:
– niedrigschwelliges Angebot zur Versorgung von Patienten mit STD (spezifische Institutionen) mit besonderer Berücksichtigung des HIV-Tests
– zielgruppenorientierte Testung, weil niedrige HIV-Prävalenz
– opt out derzeit kein erforderliches Konzept
– provider-initiated testing
– Konzept der Indikatorerkrankungen umsetzen

Ziele 2
– HIV-Test Aufklärungs-Kampagne für Ärzte (Nicht-HIV-Spezialisten), v.a. Hausärzten, HIV-Test zu berücksichtigen
– Re-Testung soll integraler Bestandteil eines jeden Beratungsgesprächs zum HIV-Test sein
– Kommunikation Thema „Indikator-Erkrankung/Test“ durch DAIG mit anderen Fachgesellschaften
– engere Kooperation von Aids-Hilfen mit ÖGD und weiteren Ärzten

2. „HIV-Testungen in Deutschland aus Public Health Perspektive
Prof. Rolf Rosenbrock berichtet über die Ergebnisse:

– Jede HIV-Test-Policy ist Teil der gesamten HIV/Aids-Policy (individueller / Public Health Nutzen)
– gezielte Vermehrung von HIV-VCT erwünscht und notwendig
– 4-Stufen-Modell: awareness – motivation – testing process – follow-up
– anonyme, niedrigschwellige, kostenlose Testangebote durch ÖGD, NGOs, Versorgungssystem (Klinik, niedergelassen)
– maßgeschneiderte Angebote abhängig von Prävalenz, Symptomatik, Gruppenzugehörigkeit und Setting
– Risikoanamnese, Beratung, Empfehlung, Test, Beratung , ggf. Verweisung
– Qualitätssicherung
– Attraktivität von Testangeboten erhöhen
– Grundlage: shared decision making, informed consent
– Testakzeptanz durch Diskriminierungsabbau erhöhen
– keine Diskriminierung bei Testablehnung
– Daten für Versorgungsforschung, Evaluation und Qualitätsentwicklung

3. „HIV-Testungen in Deutschland aus rechtlicher und ethischer Perspektive
Dr. Eberbach stellt Ergebnisse der „im wesentlichen juristischen“ AG vor:

Ist-Analyse:
a) gesundheitliche und soziale Ausgangssituation Vergleich früher / heute
b) welche rechtlichen und ethischen Rahmenbedingungen bestehen zu HIV-Testungen?
Test wegen Gesundheit des Betroffenen (individualrechtliche Ebene): Test grundsätzlich nur mit Einwilligung [es gibt keine Pflicht, seinen Gesundheitszustand zu kennen; Recht auf Nichtwissen]
Test zum Schutz Dritter (ordnungsrechtliche Ebene): bisher keine Regelung [nur: nicht-namentliche Meldepflicht nach InfSchGes; mehr: verfassungsrechtlich überhaupt möglich?]

Empfehlungen:
erforderliches Konzept individualrechtlich: keine Änderung:
– opt-out-Ansatz nicht vereinbar mit Selbstbestimmungsrecht
– Recht auf Nichtwissen
– Vergleich mit anderen Erkrankungen

ordnungsrechtlich / zu diskutieren:
– opt-out-Ansatz im InfSchG
– klare politische Entscheidung
– verfassungsrechtlich schwierige Abwägung

Auf Nachfrage von Prof. Goebel betont Dr. Eberbach, dass es vor einer etwaigen Opt-Out es eine Gesetzesänderung geben müsste.
Auf Nachfrage Prof. Pott betont Dr. Eberbach, dass laut Aussagen Bennet (CDC) selbst in den USA einzelne Bundesstaaten informed consent gesetzlich vorschreiben und opt-out bisher weiterhin nicht zulässig sei.

Der anschließende Tagesordnungspunkt „Diskussion im Plenum mit anschließender Beschlussfassung und Formulierung von konkreten Empfehlungen“ gestaltete sich kurz:
Prof. Schmitt stellte fest, dass die eigentliche anfängliche Kontroverse um „opt out oder nicht“ „vom Tisch ist“. Prof. Pott betont die hohe Übereinstimmung in den drei AGs, die Frage ‚opt-in oder opt-out‘ habe keine Rolle gespielt, stattdessen habe es eine Konzentration auf ‚das was notwendig ist‘ gegeben.
Auf Nachfrage von Prof. Rosenbrock erläutert Prof. Schmitt, die zu erstellenden Empfehlungen dienten zur Umsetzung im wissenschaftlichen Beirat des BMG sowie der DAIG für die Arbeit auf der europ. Ebenen (insbes. HIV in Europe).

Auf Vorschlag von Prof. Rosenbrock beschließt die Gruppe, dass die Ergebnisse der AGs nebst einem Vorschlag der Konsolidierung zu Empfehlungen den Teilnehmern per Email zur Verfügung und Abstimmung / Beschlussfassung gestellt werden.

Erläuterungen:
DAIG Deutsche Aids-Gesellschaft
EATG European Aids Treatment Group
IAS international Aids Society
ÖGD Öffentlicher Gesundheitsdienst
VCT Voluntary Counselling and Testing

26.10.09: Aktualisierung / Nachtrag von Workshop-Ergebnissen

7 Gedanken zu „Bericht „HIV-Testungsansatz im deutschen Gesundheitswesen“ (akt.)“

  1. und heisst dies nun wirklich = opt-out kommt nicht? der letzte satz diesbezüglich von prof.pott macht wieder stutzig…

  2. schön! hoffentlich geht bei uns die debatte auch endlich in die tiefe und breite…und vorallem, hoffentlich gibts dann auch klare und einflussreiche stellungnahmen, die die opt-out strategie verhindern.

  3. Spannende Veranstaltung, gutes Ergebnis, das Verunsicherung auflöst: opt-out und VTC bleibt breiter Konsens.

  4. @ ondamaris:
    Ja klar, so wars gemeint, allein, die Akb.Klaviatur klemmte…

    Der Fehlerteufel sucht auch mich gelegentlich heim 😉

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