Aids-Aktionsplan Berlin – viel heisse Luft, oder doch strategischer Aufbruch?

„AIDS-Aktionsplan für Berlin!“ – unter diesem Titel versuchten Vertreter von Aids-Initiativen, Politik und Verwaltung die Zukunft der Aids-Politik in Berlin zu diskutieren.

„Im Jahr 2007 hat die Bundesregierung ihren aktuellen Aids-Aktionsplan vorgestellt. … In der Bundeshauptstadt fehlt bisher ein übergeordneter Aktionsplan, der den neuen Herausforderungen in der Aids-Bekämpfung gerecht wird.“ Mit dieser These war die Diskussion zur zukünftigen Fortentwicklung der Berliner Aids-Politik angekündigt.

Hintergrund der Debatten ist der ‚Integrierte Gesundheitsvertrag‘. Dieser „Integrierte Gesundheitsvertrag“ (pdf hier insbes. ‚Handlungsfeld HIV/Aids ab S. 22, sowie Anlage 9 Projektträger xls) regelt seit einigen Jahren die Förderung von Projekten im Gesundheitsbereich durch das Land Berlin. Er „definiert die vier Handlungsfelder chronische Erkrankungen und besondere gesundheitliche Bedarfslagen; HIV/AIDS, sexuell übertragbare Erkrankungen und Hepatiden, Verbundsystem Drogen und Sucht und einen Innovationsfonds, der Modellprojekte im Bereich Gesundheitsförderung und Prävention unterstützen soll.“ (Parität Berlin)

Das Gesamtjahresbudget des Integrierten Gesundheitsvertrags ist für 2006 mit 11,15 Mio € angesetzt, mit Kürzungen um 148.000€ pro Folgejahr. 2,175 Mio € des Jahresbudgets (2006) entfallen auf das ‚Handlungsfeld HIV/Aids, Sexuell übertragbare Erkrankungen und Hepatitiden‘.

Der Vertrag trat am 1. Januar 2006 in Kraft mit einer Laufzeit von fünf Jahren – per 1.1.2011 ist also eine Neu-Regelung erforderlich. Vor diesem Hintergrund fanden die von Kai-Uwe Merkenich (Berliner Aidshilfe) moderierte Podiumsdiskussionen im Rahmen des Kongresses ‚HIV im Dialog‘ statt.

H. Drees, Parität Berlin
H. Drees, Parität Berlin

Heike Drees (Parität Berlin) berichtete über die Evaluation der Aids-Projekte.
Der Bereich HIV/Aids sei der erste der Bereiche des IGV, bei dem eine Evaluation durchgeführt worden sei (März 2007 bis Juni 2008, von Fox GmbH Köln). Diese Evaluation habe zu Empfehlungen geführt:
– als wirkungsorientierte Empfehlung wurde die Entwicklung eines Rahmenkonzeptes vorgeschlagen (politische und strategische Zielsetzungen, künftige Arbeitsschwerpunkte, fachliche Leitlinien, Vereinbarung über Qualitätsstandards, Leistungsbeschreibungen sowie Dokumentationssystem und Berichterstattung);
– als bedarfsorientierte Empfehlung wurden Ausbau, Stärkung und Entwicklung vorgeschlagen (zielgruppenspezifischer Prävention und individueller Handlungskompetenzen (insbesondere für MSM und Migranten), spezifische Hepatitis- und STI-Prophylaxe sowie systemische personenzentrierte Hilfsprozesse).
Im Zeitraum Juli 2008 bis Juli 2009 sollen nun Ziele, Zielgruppen, Aufgabenschwerpunkte und Leistungsbeschreibungen konkretisiert werden, zudem sei die Verbesserung der Dokumentationssystematik geplant.

Drees betonte, es bedürfe ihrer Ansicht nach nicht eines zusätzlichen Aids-Aktionsplans Berlin, wohl aber einer Berliner Strategie zur Umsetzung des nationalen Aids-Aktionsplans. Dazu bedürfe es eines darauf abgestimmten differenzierten Angebots- und Hilfesystems sowie bedarfsorientierter Finanzierung der Projektarbeit bei bedarfsorientierter Weiterentwicklung der Versorgung.

Auf Nachfrage erläuterte Drews, als eines der wesentlichen Probleme habe die Evaluation aufgezeigt, dass bisher Zahlen und Daten der Projekte nicht vergleichbar seien. Hier seien dringend Änderungen erforderlich. Zudem würden Projekte bisher dazu tendieren, unter dem Stichwort ‚Prävention‘ undifferenziert „alles zu machen“, hier sei eine stärkere Konkretisierung und Fokussierung erforderlich. Es müsse klarer werden, welcher Träger für welche Aufgabenbereiche zuständig sei.

Dr. Ruth Hörnle, GA Schöneberg
Dr. Ruth Hörnle, GA Schöneberg

Dr. Ruth Hörnle (Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung Gesundheitsamt Berlin-Schöneberg) stellte die Arbeit der Gesundheitsberatungen vor.
Nach dem GDG 2006 (Gesundheitsdienste-Reform-Gesetz vom 25.5.2006) sei die Anzahl der Beratungsstellen ab 1.7.2008 reduziert worden auf nunmehr 5 Sozialmedizinische Dienste (vorher 11) und 4 STD/Aids-Beratungsstellen (vorher 6). Sie betonte u.a. die Probleme mit der Beratung und Versorgung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Als einen Lösungsansatz bevorzuge sie den Vorschlag eines (in Italien bereits angewandten) ‚anonymen Krankenscheins‘ (Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität, siehe auch Abschlussbericht pdf).
Als Ziele benannte Hörnle die langfristige Sicherung der Personalmittel sowie der Sachkosten für die Zentren für sexuelle Gesundheit und Familienplanung sowie die Sicherstellung der Therapie von HIV und Aids für Menschen ohne Papiere und ohne Krankenversicherung.

Marcel de Groot (LABAS)
Marcel de Groot (LABAS)

Marcel de Groot (Vorstand LABAS Landesverband Berliner Aids-Selbsthilfegruppen e.V. und Geschäftsführer Schwulenberatung e.V.) verwies nach einer umfangreichen Erläuterung der Aufgabenbereichen der Labas-Mitglieder u.a. auf das Problem schwer erreichbarer MSM (MSM = Männer die Sex mit Männern haben). Er betonte die Schwierigkeiten der Labas-Gruppen aufgrund steigenden Aufgaben-Umfangs bei sinkenden verfügbaren Mitteln.

Karin Lompscher
Karin Lompscher

Karin Lompscher, Senatorin für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz,  betonte eingangs, Ursache vieler Probleme sei das fehlende Bundes-Präventionsgesetz (siehe Post ‚Referentenentwurf Präventionsgesetz‚) als Handlungsgrundlage. Sie betonte, dass der Bereich HIV/Aids bisher von Kürzungen und Streichungen weitgehend ‚abgeschirmt‘ worden sei.
Der Integrierte Gesundheitsvertrag habe sich als Modell bewährt und solle prinzipiell beibehalten werden. Allerdings werde es für eine Neuauflage des IGV erforderlich sein, veränderten Rahmenbedingungen zu entsprechen und z.B. neue Zuständigkeiten bei den Handlungsfeldern zu definieren. Gerader angesichts der Haushaltssituation des Landes sei es erforderlich, in die zukünftigen Verhandlungen mit guten inhaltlichen Argumenten zu gehen.

Lompscher verwies auf veränderte Aufgabenstellungen. So sei es sicher richtig, das Problem schwer erreichbarer Gruppen zu benennen. Das allein sei allerdings weder neu, noch reiche es aus. Vielmehr müssten endlich auch Lösungsansätze, die Frage des ‚wie‘ behandelt werden. Zudem sei gerade diese Gruppe (der schwer erreichbaren MSM) bisher auch nicht gerade im Fokus der Arbeit der Projekte – dies müsse sich ändern. Fragen wie die Migration und insbesondere Menschen ohne Papiere / illegaler Aufenthaltsstatus müssten stärker einbezogen werden, aber auch die spezifischen Probleme von Menschen aus einkommensschwachen Gruppen.
Lompscher verwies darüber hinaus darauf, Strukturen innerhalb der Projektelandschaft stärker zu vernetzen, z.B. die Frage, wie ÖGD (Öffentlicher Gesundheitsdienst) und Aids-Projekte besser mit einander kooperieren könnten.

Senatorin Lompscher im Gespräch mit K.Merkenich (BAH)
Senatorin Lompscher im Gespräch mit K.Merkenich (BAH)

Auf Nachfragen aus dem Zuhörerkreis betonte Lompscher, zukünftig sei eine deutlich bessere Bedarfsorientierung der vorhandenen Träger erforderlich. Wenn dies nicht klappe, Rollen nicht ausgefüllt, Dokumentationen nicht erstellt, Daten nicht geliefert werden, stelle sich für sie die „Frage, haben wir die richtigen Träger?“.

Werden Menschen mit HIV und Aids (die ja nicht nur Teil der Zielgruppe, sondern auch Kunden und Verbraucher sind, an den politischen Entscheidungsprozessen für die Weiterentwicklung der Förderpolitik im Aidsbereich beteiligt? Senatorin Lompscher stellte klar, die Einbindung von Positiven in die politischen Prozesse sei nicht nur über die an den Diskussionen ja auch beteiligten Selbsthilfe-Projekte gewährleiste. Sie begrüße zudem auch, wenn Positive selbst direkt ihre Vorstellungen und Interessen formulieren und sich an sie wenden würden.

zum Thema siehe auch die Post-Serie „sexuelle Gesundheit in Berlin„:
1. HIV/Aids in Berlin
2. HIV-Neuinfektionen in Berlin
3. Syphilis in Berlin
4. Hepatitis C in Berlin
5. Berlin im Vergleich mit Hamburg und Köln
6. Ausblick und mögliche Konsequenzen

Dass eine Evaluation der Aids-Projekte und ihrer Arbeit stattfindet, ist zu begrüßen – allerdings sollte in der Konsequenz daraus für einen zukünftigen Gesundheitsvertrag nicht nur eine Fortschreibung des status quo resultieren. Vielmehr wäre eine strategische inhaltliche Weiterentwicklung wünschenswert.

Umso erstaunlicher und frustrierender war es, zu erleben dass Vertreter von Projekten bei einer Diskussion über einen Weiterentwicklung der Aids-Arbeit ihre Beiträge weitgehend darin erschöpfen, ihre vielen Aufgaben aufzuzählen und über fehlende Mittel und die dringende Notwendigkeit von Aufstockungen zu lamentieren. Derlei ist seit Jahren zu hören, und so berechtigt es in einigen Fällen sein mag, es ist ermüdend, nicht ausreichend und bringt eine Diskussion um einen Aids-Aktionsplan nicht gerade nach vorne.

Positiv anzumerken ist, dass zumindest die Senatorin in die Zukunft gerichtete Statements machte, schemenhaft Ansätze einer zukünftigen Entwicklung von Prioritäten und Aufgaben skizzierte – und den Willen zu strategischer Neu-Gestaltung zeigte. Menschen mit HIV und Aids in Berlin sollten die Chance nutzen, sich aktiv in diesen Prozess einzubringen.

 

Positive Begegnungen 2009

Pressemitteilung der deutschen Aids-Hilfe:

Anmeldefrist der größten europäischen Selbsthilfekonferenz „Positive Begegnungen – Konferenz zum Leben mit HIV/Aids“ hat begonnen

Berlin, 25.08.2008. Vom 29. Januar bis zum 1. Februar 2009 wird in Stuttgart zum 13. Mal die größte europäische Selbsthilfekonferenz zum Leben mit HIV/Aids stattfinden, die seit 1990 von der Deutschen AIDS-Hilfe e.V. veranstaltet wird. An der Veranstaltung werden Menschen mit HV/Aids, Lebenspartner/innen, Eltern, Angehörige, Kinder von Menschen mit HIV/Aids sowie Interessierte teilnehmen. Erwartet werden 500 Teilnehmer/innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Die Konferenz zum Leben mit HIV und Aids geht 2009 nochmals erweiterte Wege:
Einerseits werden Österreich und die deutschsprachige Schweiz als Partnerländer eingebunden, andererseits soll auch innerhalb von Stuttgart selbst die Konferenz mit ihren Themenschwerpunkten sichtbar und spürbar werden.

Während der Sitzung wurden insbesondere Themen wie Prävention und Repression, Stigmatisierung und Selbststigmatisierung, HIV in der Arbeitswelt, Sichtbarkeit und Sexualität intensiv diskutiert. Die Konferenzsprache ist Deutsch. Gebärdendolmetscher werden, wie auch schon in Leipzig 2006, für größtmögliche Barrierefreiheit sorgen.

Auf der Website der Vorbereitungsgruppe und dem dazugehörigen Diskussionsforum können ab sofort die Anmeldeunterlagen sowie das Programm herunter geladen werden. Die Anmeldefrist begann am 1. August und endet am 1. Oktober 2008.

Neben dem umfangreichen Workshopprogramm will die Vorbereitungsgruppe der Positiven Begegnungen dem Thema der Konferenz auch mit anderen Formen Ausdruck verleihen und lädt daher alle Interessierten ein, eine Ausstellung unter dem Titel „Bilder eines Stigmas – Ausstellung zur Konferenz Positive Begegnungen“ mitzugestalten.

Das Foyer des Stuttgarter Rathauses eignet sich besonders gut, um eine Ausstellung zum Thema der Konferenz zu gestalten, die sowohl von den Konferenzteilnehmenden als auch während der Öffnungszeiten des Rathauses einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich sein wird. Teilnehmen können Projekte und Einzelpersonen. Hier können Künstler/innen und Gruppen ihre Arbeiten präsentieren, sich kreativ beteiligen und das Konferenzthema abbilden.

Nähere Informationen zur Ausstellung sowie Hinweise zur Einreichung von Arbeiten sind ebenfalls auf der oben genannten Webseite zu erhalten.

schneller als vorgestellt

Die 12. Münchner Aidstage (zu Gast in Berlin) wurden am Freitag, 14.3.2008 mit Reden von Bundes-Justizministerin Zypries, DAH-Geschäftsführer Pinzón und der ehemalige RKI-Präsident Kurth eröffnet.

Dr. Hans JägerIn seiner Begrüßung betonte Dr. Hans Jäger, Präsident der „12. Münchner Aids-Tage – zu Gast in Berlin“, die HIV-Prävention ändere sich derzeit „schneller, als wir es uns vorgestellt haben.“ Neben dem aktuellen Beschluss der EKAF, der im Verlauf des Kongresses häufig und kontrovers diskutiert wurde, erwähnte er auch den Bereich der gesellschaftlichen Situation von Menschen mit HIV und Aids. Auch hier spiegele sich der (nicht nur medizinische) Fortschritt, so biete die Allianz neuerdings eine Lebensversicherung für HIV-Positive an, ein deutliches Abbild drastisch gesteigerter Lebenserwartungen mit HIV („Versicherungsmathematiker sind Realisten …“).

Brigitte Zypries, Bundesministerin der JustizBundesjustizministerin Brigitte Zypries hielt die erste der drei Eröffnungsreden. Sie habe die Einladung gerne angenommen, da Aids ja -neben allen medizinischen und gesundheitspolitischen Fragen- auch eine „juristische, und das heißt vor allem auch eine gesellschaftspolitische Herausforderung“ sei.
Sie wies -angesichts auch der gerade stattfindenden Debatten um die Folgen des EKAF-Statements beinahe prophetisch- darauf hin, „erfolgreiche Aids-Bekämpfung hängt auch davon ab, dass hier in Berlin politisch die richtigen Weichen gestellt werden.“ Zypries forderte, Prävention „offen und offensiv“ anzugehen

Luis Carlos Escobar Pinzón, Bundesgeschäftsführer Deutsche AidshilfeDr. Luis Escobar Pinzón, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Aids-Hilfe (DAH) wies auf die Veränderungen in den Paradigmen hin. Damit Prävention glaubwürdig und erfolgreich sein kann, müsse sie sich an aktuellen Forschungsergebnissen orientieren. Daher arbeite die DAH an „differenzierten Risikominimierungsstrategien“. Bei der neuen Kampagne „Ich weiss was ich tu“ werde das Internet eine zentrale Rolle spielen.
Er betonte, das Leben mit HIV werde sich auch in den kommenden Jahren entspannter werden. Deswegen müsse Aidshilfe den Mut haben, sich von einer nicht mehr sachgerechten Dramatisierung der HIV-Infektion zu verabschieden. Wesentlicher sei eine wirksame HIV-Prävention, die sich an der Wirklichkeit des Lebens mit HIV orientiere.

Dr. Reinhard Kurth, Präsident RKI a.D.Dr. Reinhard Kurth, bis November 2007 Leiter des Robert-Koch-Instituts (RKI), erinnerte an die heftigen Auseinandersetzungen um die Richtung der Aids-Politik, die er und das RKI an der Seite der damaligen Gesundheitsministerin Rita Süssmuth gegen die von Strauß und Gauweiler propagierte Linie geführt habe. Der damals verankerten Richtung der deutschen Aids-Politik sei es auch zu verdanken, dass in Deutschland heutzutage im Vergleich sehr niedrige Neu-Diagnosezahlen vorliegen, „um die uns die Nachbarländer beneiden“. Kurth zeigte sich „sehr vorsichtig in der Unterstützung der EKAF“ und ihres derzeit diskutierten Statements.

mehr Mut, weniger Aufregung

Podiumsdiskussion Kondomverzicht?Zu engagierte Debatten kam es am Freitag Morgen (14.3.2008) bei der Podiumsdiskussion unter dem Titel „Aktuelle Kontroverse: Kondomverzicht bei nicht nachweisbarer Viruslast möglich?“
Auf dem Podium: Prof. Pietro Vernazza (Schweiz), Roger Staub (BAG Schweiz), Prof. Bernd Salzberger (Regensburg), Bernd Vielhaber, Dr. Dirk Sander (DAH), sowie als Moderatoren Rainer Kamber (Aidshilfe Schweiz) und Armin Schafberger (DAH).

Prof. Pietro VernazzaProf. Vernazza betonte, mit der Publikation des EKAF-Statements habe auch eine ‚Doppelbödigkeit‘ beendet werden sollen. Was einzelne Ärzte, oftmals unter dem Siegel ‚nur für Sie‚, schon lange ihren Patienten sagen, müsse nun endlich auch offen ausgesprochen werden. Die Datenlage sei reif genug gewesen für diesen Schritt.
Generell habe nicht die Biologie zum EKAF-Beschluss geführt, sondern die Epidemiologie,die Biologie habe dann nur dieses mit Daten bestätigt.
Zum Analverkehr bei Heteros sei die Datenlage knapp, noch knapper bei Analverkehr zwischen Männern die Sex mit Männern haben (MSM). Allerdings sei ein Analogieschluss zum Vaginalverkehr möglich und zulässig, wie er detailliert anhand einer Diapräsentation erläuterte.

Prof. Bernd SalzbergerProf. Salzberger befasste sich mit der Frage, wie hoch das Risiko einer HIV-Übertragung sei, und welches Risiko als tragbar erachtet werden könne.
Ein Risiko von 1 zu 100.000 erscheine zunächst gering – aber selbst beim Lotto mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 13 Mio. (für ‚6 Richtige‘) gewinne jeden Samstag jemand. Er erachte ein Risiko von 1 : 100.000 (auf das sich das EKAF-Statement bezieht) als nicht niedrig genug und bleibe skeptisch.
Salzberger betonte zudem die Bedeutung sexuelle übertragbarer Infektionen (STDs) für die Infektiosität. Insbesondere ulzerierende STDs seien hier zu beachten. Die Frage, ob auch latente Infektionen (besonders mit HSV2) epidemiologisch relevant seien, wurde zwischen ihm und Vernazza kontrovers diskutiert.

Roger Staub, BAG SchweizRoger Staub entgegnete auf Salzbergers Risiko-Betrachtungen, für Public Health sei es wesentlich, Gleiches mit Gleichem zu vergleichen. Hier falle doch zunächst das Fehlen jeglichen Berichts von belegten Infektionen (unter den von der EKAF betonten Bedingungen) in den vergangenen Jahren auf. Das Einzelfall-Risiko bei Kondombenutzung bezifferte er auf 1 : 30.000 – angesichts dieses Einzelfall- Risikos verstehe er die Aufregung um ein Risiko von 1 : 100.000 (Infektiosität bei erfolgreicher Therapie und keine STDs) überhaupt nicht.

Salzberger betonte in einer Replik, auch er erachte die von der EKAF veranschlagte Risiko-Einschätzung von 1 : 100.000 als ‚gute Obergrenze‘, die Berechnungen halte er für zutreffend. Es gebe aber eben in Form von Kondomen eine breit und preisgünstig verfügbare Möglichkeit, das Übertragungsrisiko noch einmal um den Faktor 100 zu reduzieren. Auch er sehe, dass es keine 100%ige Sicherheit gebe, stelle sich aber die Frage, was einzusetzen sei, um ein mehr an Sicherheit zu erhalten.

Staub betonte im Verlauf der Debatte, das Statement der EKAF ermächtige die Menschen gerade, selbst eine Entscheidung zu treffen. Es gehe darum, nicht aus der Medizin heraus eine höhere Sicherheit zu postulieren, sondern ‚das müssen die Menschen selbst machen‘. Hierzu wolle die EKAF ermächtigen, hierzu müssten Informationen und Wissen bereit gestellt werden.

Dr. Dirk Sander, DAHDr. Dirk Sander betonte, es gehe in der laufenden Debatte um Menschen – und nicht um Techniken. Es gelte zu vermeiden, jetzt wieder das Bild des ‚triebgesteuerten Homosexuellen‘ zu reaktivieren. Zudem zeigte er sich zuversichtlich, dass die Aidshilfe auch komplexere Risiken kommunzieren könne, dies haben auch Erfahrungen der vergangenen Jahre zahlreich gezeigt. Er forderte mehr Mut – die derzeit heiß diskutierten Informationen seien doch eh schon lange Teil des individuellen Risiko-Kalküls.

VielhaberAuch ’safer sex‘ beinhalte ein Risiko, sei keinesfalls die ‚Null-Risiko-Alternative, für die sie gerne gehalten werde, betonte Bernd Vielhaber. Dieses Risiko sei nur bisher kaum kommuniziert, wahrgenommen worden. Statt mit Angst auf die jetzigen Veränderungen zu reagieren, wäre es doch produktiver, nach vorne zu denken und proaktiv in die Diskussion einzusteigen.

Im Verlauf der anschließenden Diskussion (mit Publikumsbeteiligung) wurden die Unterscheide zwischen der medizinischen / Behandler-Perspektive und der epidemiologischen / public health- Perspektive nochmals deutlich. Beide Sichtweisen anzunähern, wo möglich zu vereinen sei auch zukünftig eine Herausforderung.
Podiumsdiskussion Kondomverzicht?Erfahrungen public-health- und Aids-Debatten der letzten 20 Jahre zeigen, dass es möglich ist, die anstehenden Fragen in konkrete und vor Ort verständliche Präventionsbotschaften umzusetzen – die Frage sollte mit Zuversicht statt Skepsis angegangen werden.
Erforderlich sei jetzt allerdings eine zwar engagierte, aber unaufgeregte Diskussion, war einhellige Meinung.

Vernazza wies abschließend darauf hin, dass die EKAF im Juni ein ‚closed meeting‘ organisieren werde, bei dem Wissenschaftler und Regierungsvertreter unterschiedliche Auffassungen wie auch Gemeinsamkeiten und Ziele diskutieren würden. Die Gemeinsamkeiten würden überwiegen, zeigte er sich zuversichtlich.

Guck mal wer da spricht …

„Nicht über uns reden, sondern mit uns“ forderte ACT UP Ende der 80er / Anfang der 90er Jahre, ging mit Aktionen und Inhalten in die Aids-Kongresse, zwang Mediziner Forscher und Pharmaindustrie zum Dialog, zum Streitgespräch mit ‚Betroffenen‘.

Und heute?

Manchmal scheint mir, die gleichen ACT UP – Aktionen müssten heute in so einigen Aidshilfen stattfinden. Damit Positive endlich (wieder) nicht nur als Klienten, als zu bespaßende und beratende Kundschaft (und, nebenbei, als Existenzgrundlage der Jobs vieler Mitarbeiter) betrachtet werden, sondern als Partner mit denen zusammen Aidshilfen handeln, und die selbstverständlich aktiv mit einbezogen werden.

Viele Aidshilfen haben sich inzwischen zu Organisationen entwickelt, in denen Selbsthilfe, aktives Einbeziehen von Positiven (auch in Entscheidungen) oder Fördern von positivem Selbst-Engagement Fremdworte zu sein scheinen, die höchstens noch zu dunklen Schatten einer fernen Vergangenheit gehören.

Dazu ist es nicht ohne Grund gekommen – welche/r Positive will sich denn heute noch einmischen, sich auch nur Gedanken machen? Ich fürchte, ihre Zahl ist gering, ihr Alter eher hoch.

Und dennoch – brauchen wir nicht neben aller Bespaßung Betreuung Befütterung -auch- wieder eine Kultur, in der die, die es angeht, selbstverständlich aktiv mit eingebunden werden? In der Positive ermuntert, aktiv unterstützt werden sich zu beteiligen? In der Selbsthilfe und positives Engagement wieder selbstverständlich und erwünscht sind? In der Kritik geschätzt, Diskussionen und Debatten gewürdigt (und nicht als unerwünschtes Einmischen abgekanzelt) werden?

Oder müssen wir uns von der Illusion verabschieden, dass Aids-Hilfe noch etwas mit Selbsthilfe, mit aus eigener Betroffenheit engagierter Interessenvertretung zu tun hat?

DAH diskutiert Leitbild

Die Deutsche AIDS-Hilfe (DAH) plant, ihre Grundsätze, Werte und Haltungen in einem Leitbild zusammen zu fassen. Bis zum 28. Februar 2007 findet die Diskussion darüber online statt.

Von welchen Grundsätzen, Haltungen und Werten wird die Arbeit der DAH getragen? Dies klar zu formulieren und damit auch die eigene Position zu bestimmen ist Ziel eines Leitbilds, dass der Verband sich geben will. Hierzu hat der Vorstand der DAH eine Programmkommission eingesetzt, die sich in mehreren Treffen und Diskussionen intensiv mit den Grundlagen und Zielen der Arbeit der DAH beschäftigt hat.

Auf dieser Grundlage ist ein Entwurf zu einem Leitbild erarbeitet worden, der am 13. Oktober zur Diskussion freigegeben wurde.

Die Diskussion über den Entwurf dieses Leitbilds (in 13 Leitsätzen) findet vom 1. Dezember 2006 bis 28. Februar 2007 ausschließlich online statt auf dem Internetangebot der DAH unter dieser Adresse.

Für die Teilnahme an der Diskussion ist eine einmalige Registrierung erforderlich (z.B. als hauptamtlicher oder ehrenamtlicher Mitarbeiter einer Mitgliedsorganisation der DAH oder als sonstiger Engagierter).

Viel Empfängnis im E-Werk

Am vergangenen Donnerstag (23.11.) fand wieder einmal der Jahresempfang der DAH statt, diesmal unter dem Namen „Welt-Aids-Tags-Empfang“. Es wurde vieieiel geredet …

DAH-Empfang 2006 01

Reden Reden Reden
Abends irgendwann nach sieben. Der Saal ist gut besetzt bis in die hinteren Reihen.
Es tritt auf – Ulla Schmidt, Bundesgesundheitsministerin. Macht, was ihr Job ist. Hält eine Rede, die viel hinterher „toll“ oder „doch ganz gut“ finden. Wohl auch weil sie sich für das ‚unermüdliche Engagement der DAH‘ bedankt und für das Jahr 2007 eine Mittel-Aufstockung des Aids-Etats um 3 Mio. € ankündigt.DAH-Empfang 2006 02
Sie spricht viel über die tolle erfolgreiche Aids-Politik der Bundesregierung, der NGOs, über die anstehende Bremer Konferenz im März 2007 [die den innovativen Titel ‚Verantwortung und Partnerschaft – gemeinsam gegen Aids‘ tragen soll] und kommt zu dem Schluss, dass der ‚Kampf gegen HIV und Aids unvermindert fortgesetzt werden muss‘.

Irgendwie denke ich, bei mir wäre diese Rede nicht mal in den Briefkasten gekommen – der hat nämlich einen Aufkleber „keine Werbung“. Und ich werde angesichts all der ungesagten Themen und Fragen [nichts z.B. zum neuen Aids-Aktionsplan] den Gedanken nicht los, früher hätte sich irgend ein ACT UP protestierend eingemischt, heute hingegen sitzen alle brav im Anzug, klatschen und fühlen sich gebauchpinselt ob der ministeriellen Aufmerksamkeit.

Weiter geht’s schon mit Reden.
Ein Vorstandsmitglied der DAH kommt in seiner Rede zu der sicherlich bedeutenden Einschätzung einer „Solidarität, die – so meine ich – unteilbar ist“.

Frau Pott (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung BzgA) schließt sich an mit einer Rede à la „wir sind gut und freuen uns darüber“. Den Zustand der Zusammenarbeit von BzgA und DAH beschreibt sie analog zum Heranwachsen eines Kindes, von Streits in Kindertagen über pubertäre Flegeljahre bis zu einer „jetzt erwachsenen Zusammenarbeit“ – Matthias und ich schauen uns belustigt an, na – dann ist die DAH ja wohl jetzt im Zustand handzahmer Banalität angekommen? Klingt so eine Ohrfeige? Ah ja, dann ist die Aufsässigkeit der DAH ihrer Ansicht nach ja anscheinend erfolgreich weg-subventioniert – auf gute Zusammenarbeit!

Die m.E. einzig bemerkenswerte Rede hält der Geschäftsführer der DAH, Dr. Luis Carlos Escobar Pinzón, der über alles gegenseitige Lob hinweg auch kritische Gedanken und Worte findet. Endlich einmal darauf hinweist, dass die DAH nicht nur für die Primärprävention da sei, sondern ihre Rolle auch im Engagement für Menschen mit HIV und Aids sehe [z.B. ’negativ bleiben und positiv handeln ist für uns untrennbar‘], engagiert gegen Diskriminierung und Repression. Der auch auf das gerade nach Kabinettsbeschluss von Einstellung bedrohte Heroin-Modellprogramm hinweist und betont, dass die DAH hier protestieren und sich für die Fortsetzung der Heroin-Vergabe an Schwerstabhängige einsetzen werde.

Der DGB schläft
Lustig wird’s nochmal nach dem netten Buffet mit anregenden Plaudereien. Eine prominent besetzte Podiumsdiskussion zum Thema „Chronisch versteckt – HIV am Arbeitsplatz“ (Walter Riester / SPD, Wolfgang Heller / ILO, Jürgen Sendler / DGB, Prof. Stephan Letzel / Dt. Ges. für Arbeitsmedizin, Benno Fürmann / Schauspieler und Stefan Jäkel / Pluspunkt).
DAH-Empfang 2006 03
Einige mehr oder weniger bekannte Positionen werden ausgetauscht. Stephan Jäkel (Pluspunkt) gelingt es, die Situation von Positiven im Arbeitsleben mehrfach gut auf den Punkt zu bringen. Klar zu machen, dass i.d.R. nicht Positive in der starken Position des ersten Schritts eines offenen Umgangs mit HIV am Arbeitsplatz sind, vielmehr die Arbeitgeber, Gewerkschaften und Betriebsräte hier (auch) in der Pflicht seien.

Überhaupt, die Gewerkschaften. Lustig war’s wieder mit ihnen. Immerhin, Herr Sendler (DGB Bundesvorstand) bekennt, das Thema HIV und Arbeit sei im DGB ‚bisher viel zu klein angegangen worden‘, kündigt an, der DGB habe sich vorgenommen, das nun zu ändern. „Nun“. Immerhin – wir schreiben nicht das Jahr 1986. Auch nicht das Jahr 1996. Sondern das Jahr 2006.

Anzuerkennen ist, dass der DGB angesichts dieser peinlichen Situation überhaupt kommt, und mit Bundesvorstand. Aber – wie lange wollen sie noch warten, um wach zu werden?

Nachtrag
Die ‚Promis‘ der Veranstaltung wie auch der Vorstand des Vereins sind, wie zu hören ist, in Maseratis vorgefahren worden. Irgendwie frage ich mich, Promis in Maseratis vor Blitzlicht-Gewitter karren lassen, ist es jetzt das, was die DAH unter Professionalisierung versteht?
Oder was soll mir das sagen? Aber vielleicht ist es der Deutschen AIDS-Hilfe auch nur gelungen, ihre Position zum Thema Selbsthilfe auf eindrückliche Weise zu verdeutlichen.
Mit ist plötzlich so seltsam zumute …