Virus-Mythen 4: HIV als Folge eines Lebensstils? (akt.)

Am Rande der Konferenz ‚Positive Begegnungen‘ war auch die ein oder andere Erstaunlichkeit zu bewundern, so auch diese:

PD DR. Sabine Hawighorst zu Aids
PD DR. Sabine Hawighorst zu Aids

Dieses „Expertenstatement“ der Privatdozentin Dr. Sabine Hawighorst-Knapstein, diese bemerkenswerte Äußerung fand sich in einer Publikation der AOK Baden-Württemberg, dem ‚JuSt Jugendpressedienst‘, Ausgabe ‚Das Winterheft 05.2008, Herausgeber und Verleger AOK Bundesverband.

Aids eine „lebensstilbedingte Infektionskrankheit“?
Gegen die „umsichtige Partnerwahl“ hilft?

Wenig erstaunlich, dass derlei Äußerungen auf wenig Begeisterung bei den Teilnehmern der ‚Positiven Begegnungen‘ stießen:

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Die Äußerung Hawighorst-Knapsteins rief zahlreiche Reaktionen hervor (von denen hier nur wenige dokumentiert sind)

Es ist bestürzend zu erleben, dass nach über 20 Jahren Aids-Prävention immer noch an derartigen Mythen gestrickt wird. Umso erstaunlicher, dass dies aus Kreisen der Gesetzlichen Krankenversicherung erfolgt, zumal von einer für den Bereich Gesundheit zuständigen Ärztin.
Wer die Autorin des „Expertenstatements“ nach ihren Beweggründen fragen möchte, oder einfach schildern möchte, wie diese Äußerungen auf ihn wirken, für den hat die Redaktion der Zeitschrift netterweise die Emailadresse der ‚Expertin‘ angegeben (siehe Foto).

TheGayDissenter hat bei der AOK nachgefragt – und eine erstaunliche Antwort bekommen: ‚Partnerwahl mit der AOK‘
.

Aids? Strassenbahn benutzen verboten! Aber geflaggt wird, es ist ja Welt-Aids-Tag …

Menschen mit HIV haben sich auf vielfältige Weise mit Stigmatisierung und Diskriminierung auseinander zu setzen. Und dennoch, Stigmatisierung von HIV-Positiven und ihre Folgen werden zu selten thematisiert.

Nun leistet Österreich, genauer die Verkehrsbetrieb der Stadt Wien, einen Beitrag ganz eigener Art.

Bei den ‚Wiener Linien‘ nämlich heißt es ‚Aids-Kranke müssen draußen bleiben‘ – die Beförderung von Aidskranken ist untersagt, wie ‚Die Presse‘ meldet.

In den Beförderungsbedingungen vom 19.11.2008 (pdf) findet sich tatsächlich unter ‚D. Ausschluss von der Benützung der Anlagen oder Fahrzeuge‘ der Passus

„1. Von der Benützung sind insbesondere ausgeschlossen … d) Personen, die an einer Krankheit leiden, durch die sie gemäß bundesrechtlichen Bestimmungen von der Beförderung ausgeschlossen sind“.

Die ‚Presse‘ dazu:

„Früher einmal sollte diese Bestimmung eine Übertragung von Tuberkulose unter den Fahrgästen verhindern, „heute wird Aids unberechtigterweise dazugemischt“, kritisiert Schlitz. „Man differenziert nicht zwischen Übertragungsarten.“
Bei den Wiener Linien argumentiert man mit Schutz im Versicherungsfall. Man würde die Bestimmung aber sowieso nicht exekutieren. Eine typisch österreichische Lösung – und für die Betroffenen nur ein schwacher Trost.“

Ähnliche Regelungen wie die ‚Wiener Linien‘ haben zahlreiche österreichische Verkehrsbetriebe, so u.a. der Verkehrsverbund Ost-Region, die Salzburg AG für Energie, Verkehr und Telekommunikation, die Linz AG Linien oder die Innsbrucker Verkehrsbetriebe.

Aids ist in Österreich bedingt meldepflichtig. Daher fällt es unter die ‚anzeigepflichtigen Krankheiten‘.

Nein, dieser Beitrag ist keine Glosse. Und nein, nicht nur bei den Wiener Linien scheint diese Regelung ‚Aids-Kranke müssen leider draußen bleiben‘ zu bestehen. Die ‚Presse‘ spricht von „vielen öffentlichen Verkehrsbetrieben“, die derartige Regelungen haben.
Dass diese Regelung in der Praxis nicht vollzogen wird – eine Reaktion, die eigentlich beschämen sollte. Warum wird sie dann nicht abgeschafft? Was ist der Grund, dass sie weiterhin besteht?

Besonders kurios: zum Welt-Aids-Tag fahren die Wiener Straßenbahnen mit Fähnchen, auf denen das Logo der Aids-Hilfe Wien zu sehen ist. Ob jemandem der Widerspruch aufgefallen ist? Gar jemandem von der Aids-Hilfe?

Und wie verhalten sich deutsche Nahverkehrsbetriebe? Welche Regelungen lauern hier im Dickicht der Beförderungsbedingungen?

Der ‚Weg in eine Normalität‚ ist noch weit – nicht nur in Österreich …

Serophobie – Stigmatisierung von Positiven und ihre Folgen

Diskriminierung von HIV-Positiven ist das größte Hindernis im Kampf gegen Aids – weltweit, aber auch hierzulande. Ob Positiven Rechte vorenthalten werden, unterstützende Maßnahmen unterbleiben oder ‚einfach nur‘ ihr soziales Leben beeinträchtigt wird – Stigmatisierung von HIV-Positiven hat viele Gesichter, und weit reichende Folgen.

In Krankenhäusern und Arztpraxen werden ‚rote Punkte‘ auf die Krankenakten von Positiven geklebt. Zahnärzte verweigern Behandlungen, Personal in Kur-Kliniken macht Behandlungen an Positiven nur mit (gern doppelt oder, ‚zum besseren Schutz‘ dreifachen) Handschuhen.
Kinder fliegen aus ihrem Kindergarten, weil sie oder ihre Mutter, ihr Vater (vermeintlich) HIV-positiv sind. Arbeitskollegen meiden einen als ‚wahrscheinlich aidskrank‘ denunzierten Kollegen. Freunde meiden den früher begehrten Partygänger.
Und von der Stigmatisierung zur Diskriminierung HIV-Positiver ist es nicht weit. Gegen die bisher nur selten Klagen erfolgreich sind, wie jüngst ‚HIV-Positiver erstreitet Entschädigung wegen Diskriminierung‚.

Die Formen alltäglicher Diskriminierung und Stigmatisierung sind vielfältig. So vielfältig, dass die Franzosen ihnen schon (in Anlehnung an den Begriff ‚Homophobie‘) einen Namen gegeben haben: Serophobie.

Und selbst innerhalb schwuler Szenen, die eigentlich seit 25 Jahren vielfältigste Erfahrungen mit HIV und Aids sowie im Umgang mit Menschen mit HIV und Aids gemacht haben können, scheinen Stigmatisierung und Diskriminierung allgegenwärtig. „Bin gesund und erwarte das auch von dir“ – so oder ähnlich liest Mann häufig in Profilen auf schwulen Internet-Dating-Sites. Positive werden, sobald sie (wie es Präventionisten von ihnen erwarten) ihren HIV-Status offen legen, zwar als Gesprächs- nicht mehr aber als Sex-Partner gesehen (‚ja, wenn er das nicht gesagt hätte …‘). Oder man hört immer wieder jene einseitig Schuld zuweisende Formulierung ‚der ist doch selbst schuld, dass der sich infiziert hat‘.
Ausgrenzende und stigmatisierende Verhaltensweisen und Äußerungen gegenüber Menschen mit HIV sind besonders auch in Schwulenszenen häufig anzutreffen.

Einige Internetangebote zeigen Wege auf, mit der Stigmatisierung von HIV-Positiven umzugehen. Hier zwei Beispiele:

Avert.org erklärt kurz HIV- und Aids-bezogene Stigmatisierung (avert.org/aidsstigma) und versucht die Auswirkungen von Stigmatisierungen zu skizzieren (lesenswerte Literaturliste).

The People Living with HIV Stigma Index‚ (www.stigmaindex.org) versucht, Trends und Veränderungen in Bezug auf Stigma und Diskriminierung von HIV-Positiven abzubilden. Im Mittelpunkt stehen die Erfahrungen von Menschen mit HIV und Aids – HIV-Positive werden interviewt, sind aber auch die Interviewer, und bestimmen mit, wie Informationen gesammelt, ausgewertet und benutzt werden. Die Arbeit an dem Index wurde 2008 begonnen; erste Ergebnisse sollen Ende 2008 oder Anfang 2009 online auf www.stigmaindex.org verfügbar sein.
Stigmaindex wird gemeinsam entwickelt von GNP+ (Global Network of People Living with HIV) und ICW (International Community of Women Living with HIV),  sowie der International Planned Parenthood Federation (IPPF) in Zusammenarbeit mit UNAIDS, unterstützt durch eine zweijähriger Förderung des britischen UK Department for International Development.

Explizit mit Stigmatisierung von HIV-Positiven innerhalb schwuler Szenen beschäftigt sich die Site HIV-Stigma. Sie widmet sich gezielt der Situation von HIV-Positiven in Ontario, besonders der schwulen Positiven unter ihnen.
Die Site bietet eine Vielzahl praktischer Beispiele, wie Stigmatisierung von schwulen HIV-Positiven geschieht – und zahlreiche Anregungen, wie mit Situationen anders umgegangen werden kann. Dazu zahlreiche personalisierte Beispiele, zusammen mit Blogs und Diskussionsforen. Dazu mit ‚explicit truth‘ ein kleines Online-Spiel, mit dem jeder selbst seine Haltung und sein Wissen zu zahlreichen Stigma- und Präventions-relevanten Fragen erfahren kann (je mehr korrekte Antworten, desto ‚enthüllender‘ …).

Gegen Stigmatisierung und Verstecken des HIV-Status vorzugehen, ist auch eine Frage an HIV-Positive heute. „Indeed many of us have assimilated our HIV into our everyday lives to such an extent, that HIV is more invisible today in the gay community with over 30,000 gay men living with HIV than it was a decade ago with less than 15,000 gay men diagnosed with HIV. And therein lies the problem“, betonte anlässlich des Londoner CSDs Paul Ward in ‚Positive Nation‘.

Und warum überhaupt gegen Stgmatisierung vorgehen? Kann man nicht einfach alles so lassen, wie es ist?
„HIV stigma sucks! It makes it harder for guys with HIV to disclose. It prevents some guys from getting tested. Odds are, if you enjoy casual sex with guys with HIV. And that’s okay. You just need to play safe.“ (hivstigma.com)

Stigatisierung: „Stigmatisierung bezeichnet einen Prozess, in dessen Verlauf innerhalb einer Gesellschaft bestimmte äußere Merkmale von Personen und Gruppen, zum Beispiel farbige Haut oder eine sichtbare Behinderung (behindert), mit negativen Bewertungen belegt und die Betroffenen, als „die Farbigen“, oder „die Körperbehinderten“ in eine Randgruppenposition gedrängt werden. Stigmatisierte Personen werden somit bei gesellschaftlichen Interaktionen primär über dieses negativ konnotierte Merkmal wahrgenommen … Ein stigmatisierter Mensch ist diesem Prozess meistens hilflos ausgeliefert und wird die ihm zugeschriebene negative Bewertung im Normalfall allmählich verinnerlichen. Dies hat zur Folge, dass der Betroffene sich selbst als defizitär erlebt und sich zum Beispiel bemüht, das negativ bewertete Merkmal geheimzuhalten.“ (Definition: Uni Hamburg, Institut für Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser)

Das Thema Stigmatisierung von Positiven findet in der Diskussion hierzulande bisher viel zu wenig Beachtung. Dass Menschen allein aufgrund einer Erkrankung diskriminiert, benachteiligt, ausgegrenzt werden, ist zwar gesellschaftlich keine neue Erfahrung – aber dies kann kein Grund sein, nicht dagegen vorzugehen. Und zwar nicht nur, weil Stigmatsierung von HIV-Positiven die Aids-Prävention erschwert. Sondern weil es darum geht, wie wir zusammen leben wollen, in dieser Gesellschaft, in unseren Szenen.

‚Serophobie‘ – die Idee, der Stigmatisierung und Diskriminierung von HIV-Positiven einen eingängigen Namen à la Homophobie zu geben, leuchtet sofort ein. Leider ist die Silbe ’sero-‚ hierzulande wenig bekannt, schon weil kaum jemand vom ‚Sero-Status‘ (dem eigenen HIV-Status) spricht.
Sollte ein Leser, eine Leserin Vorschläge für einen eingängigen deutschen Begriff haben? Hinweise, Ideen, Kommentare bitte!

Nebenbei, bei so manchem Internetangebot fragt sich der Betrachter – wenn das im Ausland geht, warum tun sich deutsche Bürokraten (und nicht nur die) so drmasßne schwer mit eindeutigen und éin wenig ’sexuelleren‘ Botschaften und Informationen?

Wäre ich positiv …

„Wenn ich positiv wäre …“, mit diesem Motto hinterfragen Prominente in einer französischen Kampagne Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit HIV und Aids.

Während der Welt-Aids-Konferenz in Mexico Stadt startet Aides, die französische Aidshilfe-Organisation, eine neue Kampagne gegen die Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit HIV und Aids, gegen HIV-Phobie und Aids-Phobie

‚Si j’étais seropositif …‘, fragen Prominente in verschiedenen Konstellationen.An der Kampagne nehmen u.a. teil Peter Piot, UNAIDS Executive Director, und Kate Thompson, Cheffin von Civil Society Partnerships sowie Dr. Michel Kazatchkine, Direktor des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria, und Dr. Julio Montaner, Präsident der International Aids Society.

„Wäre ich positiv, würdest du mich zu dir nachhause einladen?“, fragt z.B. Mette-Marit, 33jährige norwegische Kronprinzessin und seit 2006 UNAIDS-Sonderbotschafterin.

„Wenn Sie es wären …“, fordert die Site der Kampagne ‚Si j’étais seropositif‘ zum Nachdenken auf – und dazu, Solidarität auszudrücken und Diskriminierungen zurück zu weisen.

Aides Sarkozy 'Würden Sie mich wählen, wenn ich HIV-positiv wäre?' (c) Aides
Aides Sarkozy 'Würden Sie mich wählen, wenn ich HIV-positiv wäre?' (c) Aides

Die nun gestartete Kampagne ist die Fortsetzung einer bereits 2006 und 2007 durchgeführten Kampagne. 2006 hatten sich Basketballspieler der 15. französischen Meisterschaften gegen Diskriminierung engagiert.

2007 hatten u.a. die damaligen Kandidaten zur französischen Präsidentschaftswahl teilgenommen. Auf einem der Motive hatte Nicolas Sarkozy, heute französischer Staatspräsident, gefragt ‚Wenn ich positiv wäre, würden Sie mich wählen?‘ – mit dem Untertitel ‚Aids bekämpfen, nicht HIV-Positive’…

Die Aides-Kampagne scheint auch international begehrt – sie wurde inzwischen in Belgien (wallonischer und französischer Teil) sowie in Hongkong kopiert. Eine Übernahme von UNAIDS für China ist in Planung.