Ethik für alle – Berlin hat sich klar entschieden (akt.)

„Ethik-Unterricht weiterhin gemeinsam und für alle, Religionsunterricht weiterhin freiwillig“ – so lässt sich das Ergebnis der Berliner Abstimmung zum Volksentscheid in Sachen Ethik-Unterricht zusammenfassen.

Die Initiative „Pro Reli“ erreichte ihr Ziel nicht – Ethik-Unterricht bleibt weiterhin Pflichtfach, Religionsunterricht ist zusätzlich wahlfrei möglich. Eine Mehrheit der BerlinerInnen stimmte gegen ‚pro Reli‘. Das erforderliche Quorum von 25% wurde weit verfehlt.

48,4% der Berlinerinnen und Berliner stimmten mit ‚ja‘ (und damit für pro Reli), 51,3% mit ’nein‘ (und damit pro Ethik). Am Volksentscheid nahmen nur 29,2% teil – eine deutlich schlechtere Wahlbeteiligung als bei der Abstimmung um den Flughafen Tempelhof.

Der Volksentscheid erreichte damit das erforderliche Quorum von 25% nicht – und überraschenderweise ist die Initiative ‚pro Reli‘ nicht  nur am Quorum, sondern auch direkt an der Wahlurne gescheitert, hat nicht die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhalten.

Offiziell werden Landeswahlleiter, Andreas Schmidt von Puskás, und der Vorstand des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg, Prof. Dr. Ulrike Rockmann, das amtliche End-Ergebnis des Volksentscheids am Montag, 27. April 2009 um 11:00 Uhr mitteilen.

Ein breites Bündnis hatte sich für die Beibehaltung des gemeinsamen Ethik-Unterrichts in Berlin ausgesprochen. Das Bündnis reichte von politischen Parteien (Grüne, Linke, SPD) über Gewerkschaftsgruppen (z.B. GEW) bis hin zu religiösen Gruppierungen (u.a. Alevitische Gemeinde, Deutsche Buddhistische Union, Initiative Christen pro Ethik).

Auch der Lesben- und Schwulenverband LSVD Berlin-Brandenburg hatte sich unter dem Motto „pro Ethik – contra Homophobie“ dem Bündnis „Pro Ethik“ angeschlossen und dazu aufgefordert, mit ’nein‘ zu stimmen.

pro Ethik - contra Homophobie
pro Ethik - contra Homophobie

Die Landesarbeitsgemeinschaft Schwule Juristen Berlin (LASJ) hatte in einem Statement (pdf) betont:

„Angesichts der gestiegenen homophoben Gewalt können wir es uns nicht leisten, bei Jugendlichen den Eindruck entstehen zu lassen, wer religiös sei, brauche keine Ethik.“

Am Sonntag, 26.4.2009, setzten sich die Befürworter des Ethik-Unterrichts durch. Die unterlegenen Vertreter von proReli spekulierten am Abend über eine etwaige Klage gegen das Abstimmungsergebnis.

Es schiene mir anachronistisch und weltfremd, wenn in einer Stadt, in der so viele Kulturen, Religionen, Menschen verschiedenster Herkunftsgebiete und -kulturen mit einander leben, die Bevölkerung sich gegen einen gemeinsamen Ethik-Unterricht für alle Schüler entschieden hätte.

Auch wenn eine Partie es anders suggerieren wollte – das jetzige Ergebnis heißt nicht „contra Religion“, es heißt vielmehr „pro Ethik für alle, und pro Religion für die die es wollen“.
Aus schwuler Sicht ist zudem ein klares „Ja zum Homo-Unterricht“ zu begrüßen …

Dass der gemeinsame Ethik-Unterricht -trotz massiven Einsatzes nicht nur finanzieller und verbaler Mittel der proReli-Befürworter- gesichert werden konnte, zeigt dass Berlin hier eine klare Meinung hat – die nun von allen Beteiligten akzeptiert und respektiert werden sollte.

Ethikkonferenz – Dokumentation vorgelegt

Die Deutsche Aids-Hilfe hat die Dokumentation zur Fachtagung „HIV/Aids _ Ethische Perspektiven“ (Juni 2008) vorgestellt.

Die Konferenz “HIV/Aids – Ethische Perspektiven” fand vom 19. bis 21. Juni 2008 in Frankfurt am Main statt.

Inzwischen liegt die Dokumentation dieser Fachtagung vor. Sie kann bei der Deutschen Aids-Hilfe bestellt werden und steht auch als pdf zur Verfügung.

Ethikkonferenz - Dokumentation (DAH)
Ethikkonferenz - Dokumentation (DAH)

Die DAH schreibt zur Dokumentation:

„Politik, Medien, Kirchen, Medizin, Forschung, Pharmaindustrie, Gesundheits- und Aidsorganisationen: Alle Beteiligten im HIV- und Aidsgeschehen handeln auf der Basis von Prinzipien, Überzeugungen, Moral und Werten. Die ethischen Grundlagen des Umgangs mit HIV und Aids im Zusammenhang mit Grundwerten unserer Gesellschaft genauer zu betrachten, war Thema der Fachtagung HIV/Aids – Ethische Perspektiven. Die Tagung bot Möglichkeiten, sich mit ethischen Fragen rund um HIV/Aids einmal fernab vom Alltagsgeschehen zu beschäftigen, eigene Positionen zu klären und in Auseinandersetzung zu gehen. Dabei zeigte die Tagung, wie unterschiedlich die Sichtweisen auf HIV/Aids sein können und verdeutlichte, dass die Bilder vom „alten Aids“ außerhalb von Aidshilfe nach wie vor prägend sind. Ziel dieser Tagungsdokumentation ist, die Leserin und den Leser an den Kontroversen zwischen universitärer Wissenschaft und Aidshilfe teilhaben zu lassen. Der Inhalt der Dokumentation wurde nach Relevanz für Aidshilfen ausgewählt. Dazu wurden die Vorträge und Diskussionen an einigen Stellen zusammengefasst und teilweise durch Gastbeiträge vertieft. Alle Beiträge basieren auf den Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Workshops der Tagung.“

HIV/Aids – Ethische Perspektiven
Interdisziplinäre Fachtagung der Deutsche AIDS-Hilfe e.V. gemeinsam mit der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Dokumentation als pdf
Print: Direkt-Link zur online-Bestellung

siehe auch:
– Eröffnungsveranstaltung der Ethikkonferenz – Ethikkonferenz – Autonomie als heißes Eisen
– Prof. Julian Nida-Rümelin – Die Freiheit des Einzelnen und das Interesse der Gesellschaft
– Prof. Rita Süßmuth – Menschenbilder– Prof. Peter Strasser – der Bös-Kranke und die schwule Folklore

Ethik-Konferenz – Gedanken über eigene Standards

Beinahe zwei Wochen ist sie nun her, die dreitägige Ethik-Konferenz. Einige persönliche Gedanken, nicht über die Inhalte, sondern die Organisation.

Einst hatte es sich Aidshilfe als Erfolg angerechnet, auf wissenschaftliche Konferenzen zu HIV/Aids in Strukturen und mit Rahmenbedingungen dermaßen Einfluß auszuüben, dass HIV-Positiven und Aids-Kranken eine aktive Teilnahme ermöglicht wurde. „Nicht über, sondern mit uns reden“, lautete damals eine der Devisen. Der Deutsche Aids-Kongress Essen 1999 mag hier in vielfacher Hinsicht als Beispiel dienen, von Community-Beteiligung in Planung und Entscheidungsgremien über Community-nahe Themen im Kongressprogramm bis zu Ruheräumen und Rückzugsmöglichkeiten.

Erinnert man sich an diese damals erreichten Standards, erscheint die Ethik-Konferenz in Frankfurt in erstaunlichem Licht:
– Eine Community-Beteiligung bei der Konferenz-Planung und -Gestaltung? Keine Spur.
– Menschen mit HIV und Aids als (womöglich gar gleichberechtigte) Partner nicht nur im Auditorium, sondern auch als Experten auf den Podien? Fehlanzeige.
– Stattdessen genau das, was wir früher zu vermeiden trachteten: professorale Frontalbeschallung, oft weit ab von dem, was Lebensrealitäten von Aidshilfen, von HIV-Positiven seit Jahren ausmacht.
– Programmgestaltung, die auch Ruhe- und Rückzugsmöglichkeiten (nicht nur für ausgepowerte Positive) vorsieht? Null.
– Stattdessen wissenschaftliches Programm von morgens 9:00 Uhr bis abends 22:00 Uhr, keine Ruheräume, ein Hotel, das Kilometer vom Tagungsort entfernt ist.
Die Aufzählung ließe sich fortsetzen …

Organisatorisch in der Summe: eine Konferenz weit ab von allem, was im Aids-Bereich schon an Standards erreicht wurde. Ein Rückfall in Zeiten frühester Aids-Konferenzen.
Ein Rückschritt, ein bemerkenswerter Rückfall. Sagt er auch etwas darüber aus, wie ernst die eigenen früher so hoch gehaltenen Standards noch genommen werden?

Eine Aidshilfe, die die einst selbst entwickelten und proklamierten Standards in ihren eigenen Veranstaltungen nicht einhalten mag, gerät in Gefahr unglaubwürdig zu werden. Erst recht, wenn sie diese dann beim nächsten (fremden) Kongress wieder einfordert.

Grenzen des Rechts zur Selbstzerstörung

„Grenzen des Rechts zur Selbstzerstörung in einer liberalen Gesellschaft“ lautete der Titel eines Vortrags von Prof. Dr. Poul Lübcke (Universität Kopenhagen).

Prof. Dr. Poul Lübcke, Kopenhagen‚Individuen sind Selbstzwecke‘ und ‚das Individuum darf alle seine Präferenzen verfolgen, insofern seine Handlungen nicht andere Individuen schädigen‘, dies seien die zwei wesentlichen Grundannahmen liberaler Gesellschaften.
Individuen dürften ihre Präferenzen frei wählen – der Staat hingegen müsse neutral sein in allen Fragen, die mit dem guten Leben zu tun haben (liberale Neutralitäts- These).
Mit diesen Statements skizzierte Lübcke das Wesen eines liberalen Staates (auch in Unterscheidung zum sozialliberalen Staat, in dem es oftmals real ’nicht-liberale Elemente‘ gebe, wie Kultusministerien, Sondergesetze gegen Homosexualität, Tabak oder Prostitution oder Volkskirchen – Elemente, die mit der geforderten Wert-Neutralität des Staates kollidieren).

Die liberale Neutralitätsthese (s.o.) besage übersetzt auch, was zwei Menschen sexuell mit einander anstellen, sei in einem liberalen Staat nicht Sache des Staates sondern ihre private Angelegenheit. Kehrseite dieser Freiheit sei allerdings die Möglichkeit, sich zu irren – im Fall von HIV mit potenziell weitreichenden Folgen. Auch vor diesem Hintergrund stelle sich erneut die Frage, ob es ein Recht zur Selbstzerstörung gebe.

Ob Menschen sich schützen oder nicht, sei grundsätzlich Privatsache – weder Staat noch andere Bürger hätten ein Recht dazu, eine patriarchalische Stellung einzunehmen, so Lübcke. Eine Einschränkung der sexuellen Freiheit, auch um den Bürger vor sich selbst zu schützen, wäre (in einem liberalen Minimal-Staat) ein unzulässiger Eingriff des Staates.
Sozialstaat hingegen, dies bedeute auch, dass andere Bürger die Kosten tragen, die eigene Selbstzerstörung belastet also nicht nur das Individuum, sondern auch anonyme andere.

Zur Lösung des Dilemmas ging Lübcke auf einige nicht-utilitaristische Theorien ein.
Rawls (A Theory of Justice, 1973) benenne zwei grundlegende Prinzipien:
Freiheitsprinzip: „Ein Staat ist nur gerecht, wenn jeder Mensch ein gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten habe.“
Differenzprinzip: „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind nur gerecht, wenn sie so gestaltet sind, dass sie den am schlechtesten Gestellten die größten Vorteile bringen und mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen, und zwar so, dass für die Erreichung solcher Positionen eine weitreichende Chancengleichheit für alle gegeben ist.“
Während bei Rawls das Freiheitsprinzip die liberale Seite spiegele, entspräche das Differenzprinzip der sozialen Seite. Auf die Frage der Selbstzerstörung übertragen folgerte Lübcke aus Rawls u.a.: „Jemandem kann zwar ein Recht auf Selbstzerstörung zukommen, aber auch in einer sozialliberalen Gesellschaft darf er ökonomisch und sozial verantwortlich dafür gemacht werden, dadurch dass sein Recht zur Unterstützung begrenzt wird.“

Allerdings sei hier das Problem der Eigenverantwortlichkeit nicht berücksichtigt. Rawls ziele allein auf die Resultatgleichheit. Neben die Resultatgleichheit trete in einer Weiterentwicklung in einer sozialliberalen Gesellschaft die Ressourcengleichheit (Dworkin et al.): in dem Moment, wo der Mensch selbst für Verluste ihm gegebener Ressourcen verantwortlich ist, muss er auch die Konsequenzen tragen. Dies bedeute, in einer sozialliberal verfassten Gesellschaft bestehe ein Recht auf Selbstzerstörung, aber wer dieses Recht für sich in Anspruch nehme, müsse auch die sozialen und ökonomischen Konsequenzen übernehmen.

Prof. Lübcke / Recht auf SelbstzzerstörungWas dies für die Frage der HIV-Übertragung bedeute, deklinierte Lübcke an 10 Fall-Konstellationen durch (von 1. ‚A informiert B und sie schützen sich‘ bis 10. ‚A lügt irgendwie, weil er B schaden möchte. Sie schützen sich nicht.‘).

Diese Reflektionen über verschiedene denkbare Konstellationen führten ihn zu folgendem rechtsphilosophisch-liberalem Standpunkt:
– „das Recht auf Selbstzerstörung hört auf, wenn jemand explizit oder implizit einen Vertrag mit anderen (z.B. seine Familie) hat, der sein Recht auf Selbstzerstörung begrenzt.
– Jemandem kann zwar ein Recht auf Selbstzerstörung zukommen, aber auch in einer sozialliberalen Gesellschaft darf er ökonomisch und sozial verantwortlich dafür gemacht werden, dadurch dass sein Recht zur Unterstützung begrenzt wird.
– Das Recht zur Selbstzerstörung wird begrenzt (bzw. hört auf), wenn jemand mit Hilfe der Manipulation einen anderen verführt etwas zu tun, das für ihn sehr riskant ist und ihn wahrscheinlich schädigen kann.“

Prof. Lübcke hielt seinen Vortrag auch als Erwiderung auf die vorher vorgetragene Position von Prof. Hösle (Indiana, USA) – „mein Körper ist nicht mein Besitz“ (sondern ich finde mich in ihm vor, „es gibt kein moralisches Recht des Menschen auf Selbstschädigung“), dem er das klassische liberale Konzept des Eigentums des Menschen an seinem Körper entgegen stellen wollte.

Um diesen Prinzipienstreit herum bewegte sich ein großer Teil der anschließenden Diskussion. Vorher ergänzte Prof.  Wiedebach (Frankfurt) die rechtsphilosophische Perspektive von Prof. Lübcke um seine eher aus der Gestaltpsychologie (Viktor von Weizsäcker) stammenden Gedanken. Zur Frage, wie weit man verantwortlich sei, sich zu informieren, betonte er einen Kräftezwiespalt, in dem sich diese Menschen bedrängend im Zentrum befänden, einen aus müssen, sollen, wollen, können, dürfen. Ein Zwiespalt, in dem sie sich verhalten, sich gestalten, sich informieren müssen (in-form-ieren im Sinn: sich eine Form geben, eine Gestaltung des eigenen Lebens finden).

Prof. Lübcke betonte abschließend, seine negative Freiheit (der Staat muss alles unterlassen, was Individuen in ihrer Freiheit einschränken kann) beinhalte grundsätzlich die Offenheit für verschiedene Lebensmodelle. Diese negative Freiheit gelte es zu verteidigen – schon bald würden uns wohl nach den Tabak-Einschränkungen sonst auch weitere Gesundheits- und Lebensstil-, vielleicht gar Sexualitäts-Einschränkungen drohen. Die negative Freiheit sei am ehesten in der Lage, dem zu begegnen.

Prof. Dr. Poul Lübcke ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Kopenhagen

Menschenbilder

Prof. Dr. Rita SüßmuthProf. Dr. Rita Süßmuth sprach am 20.6.2008 im Rahmen der Ethik- Konferenz über das Thema „Gender und Aids“.

Rita Süssmuth (geb. 17.2.1937) war u.a. in den entscheidenden Jahren von 1985 bis 1988 Bundesministerin für Gesundheit. In ihre Zeit als Ministerin fallen die großen Streits zwischen repressiver und aufklärerischer Aids-Politik, fiel die Entscheidung, Information und Beratung zu Grund- Bausteinen des Umgangs mit HIV und Aids in Deutschland zu machen.
Von 1987 bis 2002 war Rita Süssmuth Mitglied des Deutschen Bundestags, 1988 bis 1998 Präsidentin.

Einige ihrer bemerkenswerten Gedanken aus Süssmuths Rede auf der Ethik-Konferenz:

„… auch ein irrendes Gewissen hat eine Berechtigung …“

“ … das Menschenbild, der Mensch sei von Natur aus böse, ist tief in die politische Ethik eingegangen. Zum Beispiel in der Vorstellung, dem Einzelnen nicht zu viel Freiraum zuzugestehen, selbst die Grundrechte immer wieder zu relativieren.“

… wertschätzen, „was denn sexuell anders lebende Menschen an Bereicherung sein können …“ … „auch was alles mit dem Männlichkeitsideal nicht verbunden sein muss … das ist mir wichtig, das immer wieder zu sagen“ …

der Bös-Kranke und die schwule Folklore

„Aids-Archaik. Das Konzept des Bös-Kranken, seine Ursprünge und Folgen“ lautete der Titel eines Vortrags von Prof. Dr. Peter Strasser von der Universität Graz auf der Ethik-Konferenz – ein Vortrag, der sich trotz des etwas sperrigen Titels als interessanter Denkanstoß erweisen sollte.

Prof. Strasser Ethikkonferenz 2008Strasser konzedierte eingangs eine „rechtlich abgekühlte, einigermaßen etablierte Liberalität“, die auch durch ein Unter-Spielen der Tatsache gekennzeichnet sei, dass HIV vor allem durch Analverkehr übertragen werde. Er ging dabei besonders auf das Konzept des Homosexuellen als Bös-Kranken ein, sowie den Gedanken von HIV als Ausdruck gerade jener Natur, die den ‚homo homosexualis‘ erzeuge.
Strasser betonte, gerade die Rede von Toleranz führe nicht automatisch zum ‚als natürlich akzeptieren‘. Tief im Unterbewußtsein gebe es weiterhin das Bild des Bös-Kranken.

In diesem Kontext kritisierte er deutlich, was er als ‚homosexuelle Folklore‘ bezeichnete. In keiner US-Soap dürfe inzwischen ein Schwuler oder ein liebenswürdiger Transvestit fehlen, weite Kreise der Gesellschaft schmückten sich mit Elementen schwuler Kulturen, übernähmen von Homosexuellen etablierte Moden, kopierten Lifestyles, selbst sexuelle Lebensstile.
Dies führe dazu, dass auch das Aids-Bild in den Medien derzeit weitgehend über Lifestyle, Glamour und Celebrities vermittelt werde – bis hin zu Glamour-Veranstaltungen wie dem ‚Life Ball‘ in Wien. Hier machten Privilegierte sich symbolisch gleich mit den Diskriminierten, zu Brüdern und Schwestern – eine weitere ‚homosexuelle Folklore‚ unter dem Motto „sind wir nicht alle ein bisschen schwul“.

Prof. Strasser Ethikkonferenz 2008Hier handele es sich jedoch nur um vordergründige Sympathien. Strasser warnte, dies könne schnell umschlagen. Er warnte vor schönfärberischen Kampagnen mit Werbe-Etiketten (‚Gegen-Etikettierung‘), denn diese zeichne nicht nur ein falsches Bild von der Lebenssituation der Homosexuellen (besonders der ökonomisch, gesellschaftlich nicht so gut gestellten) mit Verdrängung der objektiven Lebenssituation schwuler Männer. Zudem verfehlten beschönigende Gegen-Etikettierungen zur (vermeintlichen) Abwehr von Diskriminierung oftmals ihr Ziel einer Aufklärung. Stattdessen folge eine zunächst sympathieträchige ‚Aufrüstung‘, die aggressive Einstellungen in positive ummünze – aber nur zeitweilig, bevor diese dann in ihr Gegenteil, eine offene aggressive Haltung und Diskriminierung zurückzuschlagen drohten. Besser, so Strasser, sei es, negative Bilder durch veränderte Haltungen, Geschlechterbilder, Rollenverständnisse zu ersetzen – sonst bleibe immer die Gefahr eines Rückfalls in reaktionäre Haltungen immanent.

Es gelte, eine in Wahrheit eskapistische Haltung nicht mit einer liberalen Haltung zu verwechseln. Das was sich heute noch als liberal feiern lasse, könnte schon morgen auf einer neuen Welle der Diskriminierung reiten – das sei nur eine Frage der Mode. Auch in Zukunft könne es zu einer Renaissance des Bös-Kranken kommen. Auf den ersten Blick sympathisch erscheinende Tendenzen könnten sich nur zu leicht als das Gegenteil erweisen; wen man heute als toll empfinde, der könne sich schnell als der Paria von morgen erweisen.

Die ‚homosexuelle Folklore‘ erweise sich so mehr als Produkt einer Verdrängungsleistung – Menschen, die eigentlich Ressentiments gegen Schwule hätten, könnten sich (weil so die Mode ist) als liberal darstellen, diese Folklore als Dekoration ihrer eigentlichen Haltung benutzen.

Prof. Dr. Peter Strasser ist Professor am Institut für Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Rechtsinformatik der Karl-Franzens-Universität in Graz

Ethikkonferenz – Autonomie als heißes Eisen

Ethikkonferenz 2008Die Konferenz „HIV/Aids – Ethische Perspektiven“ fand vom 19. bis 21. Juni 2008 in Frankfurt am Main statt.

Die Veranstalter betonten vorab „die Auseinandersetzung mit HIV und Aids berührt nicht nur medizinische und soziale Themen, sondern wirft grundlegende ethische Fragen auf.“ Und „die Organisatoren bieten erstmalig Experten aus Wissenschaft und Medizin sowie aus Politik und dem Bereich der Selbsthilfe ein Forum, um gemeinsam über Verantwortung, Werte und Einstellungen von Individuum und Gesellschaft angesichts der vielschichtigen mit HIV und Aids verbundenen Probleme diskutieren zu können.“

„Heiße Eisen anfassen im Sinne der Bürger-Universität“ – mit diesem Ziel sowie dem Anspruch „von einander lernen, Neues denken“ begrüßte Prof. Alkier die Teilnehmer der Ethik-Konferenz in der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt am Main. Prof. Asmus betonte das große Maß an Autonomie, das die Universität seit ihrer Umwidmung als Stiftungs-Universität ab 1. Januar 2008 habe. Autonomie – ein Thema, das noch des öfteren im Verlaufe der Konferenz aufscheinen sollte …

Marion Caspers-Merck auf der Ethikkonferenz 2008Marion Caspers-Merk, parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheits-Ministerium (BMG), betonte, auch damals, Ende der 1980er Jahre, habe es die Frage gegeben wie viel Freiheit möglich sei, wie viel Verantwortung gebraucht werde. Deutschland habe inzwischen längst eine weltweit anerkannte Präventions-Strategie, die deutsche Aids-Politik sei erfolgreich trotz eines leichten Anstiegs der Neu-Infektionen. Caspers-Merck betonte, Prävention sei nur partizipativ mit den Betroffenen möglich, dies solle Aidshilfe garantieren – und zugleich sei diese partizipative Einbindung heute notwendiger denn je. Denn erforderlich sei nachhaltige Prävention, und dies in Zeiten, in denen die Prävention vor neuen Herausforderungen stehe.
Wie viel Freiheit ist möglich, dies sei immer wieder Thema. Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit einerseits und Verantwortung des Einzelnen andererseits gelte es immer wieder neu auszutarieren.
Dies werde auch am Beispiel des Statements der EKAF deutlich. Die Daten seinen an Heterosexuellen in festen Paarbeziehungen erhoben worden – und würden heute dargestellt, als ob sie für alle gelten. Dies sei derzeit eine schwierige Kommunikationslage – denn dies sei nur eine Hoffnung für sehr wenige, nicht gültig für viele.

Prof. Pott Ethikkonferenz 2008Prof. Dr. Elisabeth Pott, Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA), betonte die langjährige gute Zusammenarbeit mit der Deutschen Aidshilfe (DAH) seit nunmehr 23 Jahren – „ohne die Aidshilfe jemals zu beeinflussen“. Die Entscheidung (Ende der 1980er Jahre), statt einer Ausgrenzungs- auf eine soziale Lern-Strategie zu setzen, sei auch damals eine politische und ethische Entscheidung gewesen. Es gehe immer wieder darum, dass der Staat seine Verantwortung wahrnehmen müsse – partnerschaftlich gemeinsam mit Organisationen der Zivilgesellschaft. Dabei müsse Prävention immer eine ‚Strategie der kleinen Schritte‘ sein. ‚Drastische Botschaften‘ hingegen, so Pott, seien ebenso wie jede Dämonisierung in der Regel mit Diskriminierung, Ausgrenzung und Schuldzuweisungen verbunden.
Die derzeitige Situation zu HIV in Deutschland sei das Ergebnis einer langjährigen Präventionsstrategie, die die Bundesregierung immer unterstützt habe – Pott stellte die Frage in den Raum, was heute wäre, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre. Gerade heute seien aktuelle „Entwarnungs-Effekte gefährlich“, meinte sie mit Blick auf das Statement der EKAF.

Braucht man eine derartige Konferenz? Zu diesem Thema? Jetzt (noch), zu einer Zeit, da HIV und Aids schon 25, 30jähriges Jubiläum‘ feiern‘? Viele kritische Fragen waren im Vorfeld an die Konferenz gerichtet worden. Man brauchte sie, so viel lässt sich nach der Konferenz sagen – vielleicht hätte einiges anders sein können, aber die Konferenz zeigte nur zu deutlich, dass großer Gesprächsbedarf besteht, dass die Lücken groß sind, zwischen universitärer Forschung und Praxis der Aidshilfen, aber auch zwischen Politik und Lebenspraxis der Menschen mit HIV und Aids.

„Wie viel Freiheit ist möglich?“, Marion Caspers-Merck wies in ihrer Rede auf ein bedeutendes Thema hin. Erstaunlich – denn gerade aus dem Gesundheitsministerium meint man Signale zu vernehmen, dass nicht alles offen kommuniziert werden solle, was derzeit an Erkenntnis vorliegt – eine Haltung, die mir eher anti-freiheitlich scheint.
Bemerkenswert auch ihr Gedanke der Notwendigkeit, Betroffene partizipativ einzubinden. Meint man doch parallel Zeichen zu erkennen, die eher in Richtung einer stärkeren Gängelung der DAH deuten.
Bei ihren Aussagen zum Statement der EKAF fragten sich einige Besucher, wo denn ACT UP bleibe … erstaunlich, dass solche Worte auf einer Konferenz, bei der Aidshilfe immerhin Mitveranstalter ist, nahezu unkritisiert gesagt werden konnten.

Prof. Potts Äußerungen, die BzgA arbeite erfolgreich mit der DAH zusammen, „ohne diese jemals zu beeinflussen“, konnten nach Caspers-Mercks Worten wie auch gewissen Vorgängen der letzten Monate nur Heiterkeit auslösen. Unklar blieb ein wenig, ob Pott dies freiwillig oder unfreiwillig ironisch meinte. Ob ihre Deutung der Prävention als ‚Strategie der kleinen Schritte‘ die derzeitige Zaghaftigkeit ausreichend erklären vermag? Oder gerade erst (v)erklären soll?
Angesichts des Statements der EKAF von „gefährlichen Entwarnungs-Effekten“ zu sprechen, erschien schließlich einigen positiven Teilnehmern wie ein Affront – wieder stand die Frage nach ACT UP unsichtbar im Raum …

Dass Maja Czajka, Vorstandsmitlgied der DAH, in ihrem Statement formulierte „es geht schließlich immer nur um Haltung“, mochte angesichts der fehlenden Haltung der DAH in Sachen EKAF dann nur noch als weiterer satirischer Beitrag erscheinen …


Die Freiheit des Einzelnen und das Interesse der Gesellschaft

Prof. Julian Nida-Rümelin hielt am 19. Juni 2008 den Eröffnungsvortrag der „Ethik-Konferenz – HIV/Aids: Ethische Perspektiven“ unter dem Titel „Die Freiheit des Einzelnen und das Interesse der Gesellschaft“.

Prof. Julian Nida-RümelinNida-Rümelin, Ordinarius für Politische Theorie und Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut der Universität München, beschäftigte sich auf allgemeiner Ebene mit der Frage, welche moralischen Pflichten und Rechte durch HIV und Aids tangiert sind, und wie Freiheit des Einzelnen und Interessen der Gesellschaft aus dem erwachsenden Spannungsverhältnis heraus in Einklang zu bringen seien.

Nida-Rümelin konstatierte zu Eingang seines Beitrags, „die moderne Gesellschaft und die Demokratie als die ihr angemessene Staatsform beruhen auf einem Ethos, das individuelle Freiheit mit gleicher Anerkennung (gleicher Würde) verbindet.“ Wir leben in einer demokratisch liberal verfassten Gesellschaft – aber wie sind ihre einzelnen Elemente immer wieder neu stimmig zu machen?

Die moderne Gesellschaft beginne in dem Augenblick, da alle Legitimation auf das Individuum zurückgeführt wird. Allerdings – was ist dieses ‚individuelle Wohl‘, und was das ‚Gemeinwohl‘?
Neben der hedonistischen Sichtweise auf individueller Ebene (‚der Mensch sucht Lust, meidet Leid‘) sei hier auf gesellschaftlicher Ebene heute vor allem die utilitaristische Sichtweise von Bedeutung: das Wohl der Gemeinschaft ergebe sich als die Summe dieser einzelnen Wohlergehen, Ziel müsse es also sein, die Nutzensumme zu optimieren.
Diese utilitaristische Sichtweise erscheine zwar vorderhin schnell als modern in dem Sinn, dass sie alle Legitimation aus dem Wohlergehen des Einzelnen ableite. Sie berge aber die Gefahr, letztlich doch in Widerspruch mit der Freiheit des Individuums zu geraten.

Prof. Julian Nida-RümelinDiese Gefährdung individueller Freiheit durch die utilitaristische Sichtweise versuchte Nida-Rümelin über drei Gedankengänge zu skizzieren und begründen:

1. „Unser Verständnis von individueller Freiheit umfasst Grundrechte (Menschen-, Bürgerrechte), die um anderer Zwecke willen nicht zur Verfügung stehen.“ Eine Optimierung der Nutzen-Summe aller müssen mit diesen individuellen Grundrechten letztlich immer in Konflikt geraten.
Nida-Rümelin wies hierzu auf das Theorem des ‚Liberalen Paradoxon‘ hin: es gibt keine Möglichkeit, individuelle Wünsche zu kollektivieren, die simultan beide Bedingungen erfüllt: eine Pareto-Effizienz und Freiheit.
Diesen tiefliegenden logischen Konflikt habe unser ‚Alltags-Ethos‘ vorweg genommen, indem es vieles der kollektiven Entscheidung entziehe (z.B. mit der ‚Privatsphäre‘).
Mit diesem Spannungsverhältnis zwischen Effizienz und Freiheit umgehen zu lernen sei eine der Herausforderungen moderner Gesellschaften. Eine mögliche Lösung sehe er darin, „immer wieder Bereiche abzustecken, die dem Kollektiven entzogen sind und bleiben – letztlich auch eine Trennung von Öffentlichem und Privatem.“

2. Die Bedrohung der personalen Integrität durch ethische Forderungen. Eine Person, die ihre gesamte Lebenspraxis einzig daran orientiere, was dem Gemeinwohl nutze (und sich somit nach utilitaristischer Sichtweise ideal verhalte), könne diese Person überhaupt noch eigene Projekte verwirklichen, die ihrem persönlichen Leben Sinn geben?
Nida-Rümelin sieht einen potentiellen Konflikt zwischen der Rücksichtnahme auf und Orientierung am Gemeinwohl einerseits und dem für die Persönlichkeit Wesentlichen, dem was dem eigenen Leben Sinn, Struktur, Inhalt verleihe. Diesen potenziellen Widerspruch aufzulösen, dazu bedürfe es eines humanen Umgangs mit beidem – „wir verfolgen eigene Projekte in den Grenzen, die gesteckt sind durch die Gemeinwohl-Orientierung“. Hier gelte es, den „gleichen Respekt vor der Autonomie jeder einzelnen Person“ zu wahren – immer wenn damit ein Konflikt auftrete, sei eine Grenze für ein persönliches Projekt erreicht.

Prof. Julian Nida-Rümelin3. Separateness of Powers. Gerechtigkeit sei eine für unser Leben ganz wesentliche Perspektive (im Sinn eines gemeinsamen Gerechtigkeits-Sinns). Diese dürfe nicht instrumentalisiert werden. Vielmehr gelte es anzuerkennen, dass jeder Mensch nur sein Leben habe. Das Lebensglück des einen Menschen lässt sich nicht mit dem Lebensglück eines anderen verrechnen.

Nida-Rümelin verwies in diesem Kontext auf die Notwendigkeit, Autarkie und Autonomie zu unterscheiden
Autarkie bedeute „es können nicht andere über mich entscheiden“ (ex negativo). Autonomie demgegenüber betrachte nicht ex negativo, sondern sage „es gibt einen, der das Gesetz eines Handelns gibt – und das bin ich“ [auch in der Bedeutung, s.o. bei Persönlichkeit, dem eigenen Leben Sinn, Bestand, Struktur zu geben]. Zur Autarkie gehöre, dass jede Person über sich verfügen könne – im Extremfall bis zur Selbsttötung.
In letzter Instanz bin es ich selbst, der autark entscheidet – aber als autonome Person, die langfristige Strukturen in ihrem Leben lebt.
Kerngedanke des Sozialstaats müsse es demnach sein, Autonomie zu sichern.

Und wie stehe es nun mit der Freiheit des Einzelnen und dem Interesse der Gesellschaft?
Die Verantwortung des Einzelnen besteht darin, dass wir in letzter Instanz immer selbst entscheiden. Die Herausforderung einer modernen Gesellschaft besteht darin, nicht nur die ‚Sorge um sich selbst‘ lebbar zu machen, sondern auch die ‚Sorge um die Autonomie jedes einzelnen Menschen‘.

Literatur-Tipp:
Julian Nida-Rümelin
„Handbuch angewandte Ethik“
Gröner Verlag 2005

Ethik-Konferenz – Anmeldeschluß naht

Vom 19. bis 21. Juni 2008 findet in Frankfurt die Konferenz „HIV / Aids Ethische Pespektiven“ statt.

Für die Konferenz steht ein begrenztes Kontingent an Community-Karten (Übernachtung im DZ) zur Verfügung – Anmeldeschluss hierfür ist der 20. Mai!

Weitere Informationen auf www.ethikkonferenz.de (dort auch online-Anmeldung auch für Community-Karten möglich).