„Grenzen des Rechts zur Selbstzerstörung in einer liberalen Gesellschaft“ lautete der Titel eines Vortrags von Prof. Dr. Poul Lübcke (Universität Kopenhagen).
‚Individuen sind Selbstzwecke‘ und ‚das Individuum darf alle seine Präferenzen verfolgen, insofern seine Handlungen nicht andere Individuen schädigen‘, dies seien die zwei wesentlichen Grundannahmen liberaler Gesellschaften.
Individuen dürften ihre Präferenzen frei wählen – der Staat hingegen müsse neutral sein in allen Fragen, die mit dem guten Leben zu tun haben (liberale Neutralitäts- These).
Mit diesen Statements skizzierte Lübcke das Wesen eines liberalen Staates (auch in Unterscheidung zum sozialliberalen Staat, in dem es oftmals real ’nicht-liberale Elemente‘ gebe, wie Kultusministerien, Sondergesetze gegen Homosexualität, Tabak oder Prostitution oder Volkskirchen – Elemente, die mit der geforderten Wert-Neutralität des Staates kollidieren).
Die liberale Neutralitätsthese (s.o.) besage übersetzt auch, was zwei Menschen sexuell mit einander anstellen, sei in einem liberalen Staat nicht Sache des Staates sondern ihre private Angelegenheit. Kehrseite dieser Freiheit sei allerdings die Möglichkeit, sich zu irren – im Fall von HIV mit potenziell weitreichenden Folgen. Auch vor diesem Hintergrund stelle sich erneut die Frage, ob es ein Recht zur Selbstzerstörung gebe.
Ob Menschen sich schützen oder nicht, sei grundsätzlich Privatsache – weder Staat noch andere Bürger hätten ein Recht dazu, eine patriarchalische Stellung einzunehmen, so Lübcke. Eine Einschränkung der sexuellen Freiheit, auch um den Bürger vor sich selbst zu schützen, wäre (in einem liberalen Minimal-Staat) ein unzulässiger Eingriff des Staates.
Sozialstaat hingegen, dies bedeute auch, dass andere Bürger die Kosten tragen, die eigene Selbstzerstörung belastet also nicht nur das Individuum, sondern auch anonyme andere.
Zur Lösung des Dilemmas ging Lübcke auf einige nicht-utilitaristische Theorien ein.
Rawls (A Theory of Justice, 1973) benenne zwei grundlegende Prinzipien:
– Freiheitsprinzip: „Ein Staat ist nur gerecht, wenn jeder Mensch ein gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten habe.“
– Differenzprinzip: „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind nur gerecht, wenn sie so gestaltet sind, dass sie den am schlechtesten Gestellten die größten Vorteile bringen und mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen, und zwar so, dass für die Erreichung solcher Positionen eine weitreichende Chancengleichheit für alle gegeben ist.“
Während bei Rawls das Freiheitsprinzip die liberale Seite spiegele, entspräche das Differenzprinzip der sozialen Seite. Auf die Frage der Selbstzerstörung übertragen folgerte Lübcke aus Rawls u.a.: „Jemandem kann zwar ein Recht auf Selbstzerstörung zukommen, aber auch in einer sozialliberalen Gesellschaft darf er ökonomisch und sozial verantwortlich dafür gemacht werden, dadurch dass sein Recht zur Unterstützung begrenzt wird.“
Allerdings sei hier das Problem der Eigenverantwortlichkeit nicht berücksichtigt. Rawls ziele allein auf die Resultatgleichheit. Neben die Resultatgleichheit trete in einer Weiterentwicklung in einer sozialliberalen Gesellschaft die Ressourcengleichheit (Dworkin et al.): in dem Moment, wo der Mensch selbst für Verluste ihm gegebener Ressourcen verantwortlich ist, muss er auch die Konsequenzen tragen. Dies bedeute, in einer sozialliberal verfassten Gesellschaft bestehe ein Recht auf Selbstzerstörung, aber wer dieses Recht für sich in Anspruch nehme, müsse auch die sozialen und ökonomischen Konsequenzen übernehmen.
Was dies für die Frage der HIV-Übertragung bedeute, deklinierte Lübcke an 10 Fall-Konstellationen durch (von 1. ‚A informiert B und sie schützen sich‘ bis 10. ‚A lügt irgendwie, weil er B schaden möchte. Sie schützen sich nicht.‘).
Diese Reflektionen über verschiedene denkbare Konstellationen führten ihn zu folgendem rechtsphilosophisch-liberalem Standpunkt:
– „das Recht auf Selbstzerstörung hört auf, wenn jemand explizit oder implizit einen Vertrag mit anderen (z.B. seine Familie) hat, der sein Recht auf Selbstzerstörung begrenzt.
– Jemandem kann zwar ein Recht auf Selbstzerstörung zukommen, aber auch in einer sozialliberalen Gesellschaft darf er ökonomisch und sozial verantwortlich dafür gemacht werden, dadurch dass sein Recht zur Unterstützung begrenzt wird.
– Das Recht zur Selbstzerstörung wird begrenzt (bzw. hört auf), wenn jemand mit Hilfe der Manipulation einen anderen verführt etwas zu tun, das für ihn sehr riskant ist und ihn wahrscheinlich schädigen kann.“
Prof. Lübcke hielt seinen Vortrag auch als Erwiderung auf die vorher vorgetragene Position von Prof. Hösle (Indiana, USA) – „mein Körper ist nicht mein Besitz“ (sondern ich finde mich in ihm vor, „es gibt kein moralisches Recht des Menschen auf Selbstschädigung“), dem er das klassische liberale Konzept des Eigentums des Menschen an seinem Körper entgegen stellen wollte.
Um diesen Prinzipienstreit herum bewegte sich ein großer Teil der anschließenden Diskussion. Vorher ergänzte Prof. Wiedebach (Frankfurt) die rechtsphilosophische Perspektive von Prof. Lübcke um seine eher aus der Gestaltpsychologie (Viktor von Weizsäcker) stammenden Gedanken. Zur Frage, wie weit man verantwortlich sei, sich zu informieren, betonte er einen Kräftezwiespalt, in dem sich diese Menschen bedrängend im Zentrum befänden, einen aus müssen, sollen, wollen, können, dürfen. Ein Zwiespalt, in dem sie sich verhalten, sich gestalten, sich informieren müssen (in-form-ieren im Sinn: sich eine Form geben, eine Gestaltung des eigenen Lebens finden).
Prof. Lübcke betonte abschließend, seine negative Freiheit (der Staat muss alles unterlassen, was Individuen in ihrer Freiheit einschränken kann) beinhalte grundsätzlich die Offenheit für verschiedene Lebensmodelle. Diese negative Freiheit gelte es zu verteidigen – schon bald würden uns wohl nach den Tabak-Einschränkungen sonst auch weitere Gesundheits- und Lebensstil-, vielleicht gar Sexualitäts-Einschränkungen drohen. Die negative Freiheit sei am ehesten in der Lage, dem zu begegnen.
Prof. Dr. Poul Lübcke ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Kopenhagen