Fast neun Prozent der Wähler/innnen-Stimmen, 15 Sitze im Abgeordnetenhaus – der Erfolg der ‚Piraten‘ bei der Berliner Wahl 2011 hat viele (wenn auch nicht alle) Parteien, Journalisten, politischen Beobachter überrascht. Von konsternierten Blicken über Irritation bis Häme, die Reaktionen bleiben bisher oftmals an der Oberfläche. Parteien registrieren bisher kaum die Gefahr des Verlusts ihrer Kern-Themen (wie Bürgerrechte), das Aufkommen neuen Bewusstseins oder neuer Methoden politischer Arbeit, wundern sich höchstens über Aktivierung bisheriger Nicht-Wähler. Tiefergehende Analysen und Betrachtungen zu dem, was hinter dem Erfolg der Piraten stehen könnte, sind hingegen im politischen Raum noch eher selten. („Dass die Piraten einen eigenen originären Politikansatz haben könnten, scheint niemand in Betracht zu ziehen“, bemerkt treffend Michael Seemann auf ctrl-verlust).
Die Piraten (einzig) als mono-thematische Nerd-Partei oder als „one hit wonder“ abzutun könnte sich schon bald als kurzsichtig erweisen, hieße ihr Potential, die mögliche Bedeutung ihrer Ideen und Projekte zu verkennen (und zwar unabhängig davon, wie sich ihr konkretes politisches Schicksal erweist) – und Chancen zu vertun.
Aber – was hat der derzeitige Erfolg der Piraten mit Aidshilfe zu tun?
Vielleicht mehr, als auf den ersten Blick offensichtlich scheint.
Denn – Chancen durch die Piraten könnten sich m.E. auch für Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe ergeben.
Gibt es Gemeinsamkeiten in Ideen und Zielen zwischen Aids-Bewegung(en) und den Piraten?
Können Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe vielleicht auch von den Piraten lernen?
Ein Kommentar in zwei Teilen – heute Teil 1: „gemeinsame Sache ? Allmende und Gemeingut“, Teil 2 „Von Piraten lernen ? – Transparenz und Partizipation“ folgt in den kommenden Tagen am Montag, 10.10.2011.
Piraten und die Aidshilfen
1. gemeinsame Piraten-Sache ? – Allmende und Gemeingut
Die Piraten sind eine vergleichsweise junge Bewegung und Partei (und doch derzeit die Mitglieder-stärkste der nicht im Bundestag vertretenen Parteien). Entstanden 2006 aus einer Anti-Copyright-Bewegung (daher stammt auch ursprünglich der Name der Partei), werden sie heute immer noch überwiegend als „Internet- und Nerd-Partei“ wahrgenommen (Nerd = ‚internet-Freak‘). Tatsächlich jedoch haben sie inzwischen ihr Parteiprogramm auf beträchtlich breitere Füße gestellt (wenn auch ihre Haltungen und Forderungen z.B. in Bereichen wie Gesundheit oder Soziales immer noch nur in Ansätzen zu erkennen sind).
Dies sollte jedoch nicht daran hindern, nach potentiellen Gemeinsamkeiten zu spüren. Denn – diese zeichnen sich durchaus ab, und zwar in Kern-Feldern. Aus einem einfachen Grund: ein, wenn nicht das Kern-Element der politischen Identität der Piraten ist die Auseinandersetzung mit der Frage, was soll der Allgemeinheit gehören, was soll privat(wirtschaftlich) organisiert, gar geschützt sein. Grund-Thema der Politik der Piraten ist die Auseinandersetzung mit Allmende (Gemeinschafts- oder Genossenschafts-Besitz), mit Commons, mit Gemeingütern.
Dies aber ist ein Thema, das Aidshilfe nicht unbekannt sein dürfte. Debatten, die Aidshilfen führen, gehen oft um Begriffe wie ‚Daseinsfürsorge‘, ‚Gemeinwohl‘, um Solidargemeinschaft oder Individualisierung von ‚Risiken‘ und ‚Vorsorge‘. Auch hinter diesen Begriffen steckt u.a. die Frage, was ist Gemeingut, was darf / soll privatisiert werden, was kann wie optimal im Sinne der Interessen und Bedürfnisse der Gemeinschaft gestaltet werden?
Gemeingüter – ein Thema, dessen Bedeutung gerade in der politischen Auseinandersetzung der nächsten Jahre steigen dürfte. Ein Thema, das weit mehr betrifft als Internet und Urheberrechte: Ist Wasser ein Gemeingut? Eines, das von der Allgemeinheit zu ihrem besten Nutzen und niedrigsten Kosten organisiert werden soll? Oder soll die Wasser-Versorgung privaten Gewinninteressen überlassen werden? Ist Gesundheit, die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten, ein Gemeingut? Sollen lebensnotwendige Medikamente jedem Menschen zur Verfügung stehen? Oder sollen Patentrechte auf Wirksubstanzen sowie Profite privatwirtschaftlicher Pharmaindustrie wichtiger sein als menschliches Leben und breite Verfügbarkeit lebenswichtiger Medikamente?
Michael Seemann kommentiert auf ctrl-verlust: „Infrastrukturen, die Zugang und Teilhabe ermöglichen, müssen gestärkt und ausgebaut werden und gehören diskriminierungsfrei allen angeboten“. Und die Frage liegt nahe – warum nur Infrastrukturen, warum nicht auch Gesundheit, kulturelle teilhabe etc.?
Gemeinwohl, Gemeingüter – ein Themenkomplex, der derzeit bei den Piraten vielleicht noch sehr auf Internet, Urheberrechte und digitale Welten fokussiert wird. Aidshilfe hingegen kennt den Gedanken aus Fragen wie dem Gesundheitsbegriff, der Struktur und Aufgabe des Sozialstaats oder der Verfügbarkeit von Medikamenten.
Beiden gemeinsam aber ist die grundsätzliche Frage: was ist im Interesse der Allgemeinheit? Was sollte von, für und durch die Gemeinschaft gestaltet und geregelt werden?
Gemeingüter – das ist die Frage, was soll der Allgemeinheit dienen, zu welchen Bedingungen, und von wem gestaltet?
Gemeingüter – das ist die Frage, wollen wir wesentliche Grundlagen unserer zukünftigen Lebensgestaltung (ob das Internet oder z.B. die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten) weitgehend privatwirtschaftlichen Gewinn-Interessen und Monopolisierungs-Tendenzen überlassen, oder sie zum größtmöglichen Wohl aller, der Gemeinschaft gestalten?
Gemeingüter – diese Frage wird eines der großen Meta-Themen der kommenden Jahre sein. Ein Thema, bei dem sich Aidshilfen und Piraten (wie auch einige (bisher wenige) andere Parteien) viel zu sagen hätten. Ansätze, die beide Sichtweisen in Berührung bringen, gibt es bereits (wie etwa Projekte, die den Gedanken der Commons, der Gemeingüter auf die Welt der Medikamente übertragen).
Gemeingüter – ein zukünftiges Meta-Thema politischer Debatten.
Ein Thema mit zahlreichen Berührungspunkten.
Ein Thema, bei dem gemeinsame Ziele und Aktionen denkbar wären.
Ein Thema, das durch zielgerichteten Dialog und Zusammenarbeit in seiner Wahrnehmung und Bedeutung in der Öffentlichkeit gestärkt werden könnte.