Syrien: Aids-Politik mit ideologischen Scheuklappen

Immer lauter werden die Proteste in Syrien, die Forderungen nach Bürgerrechten und freien Wahlen. Die Aids-Politik in Syrien ist gekennzeichnet von bisher niedriger HIV-Prävalenz, weitgehendem Fehlen von Präventionsmaßnahmen für Sexarbeiterinnen und Schwule sowie zaghaften Schritten nach vorn in den letzten Monaten.

Tunesien, Ägypten, Libyen – und nun seit Wochen auch in Syrien: Menschen kämpfen für Bürgerrechte und Freiheit. Syrien (offiziell Arabische Republik Syrien) ist gemäß seiner Verfassung von 1973 offiziell eine ’sozialistische Volksrepublik‘. De facto dominiert die Baaht-Partei das Land, deren Generalsekretär Staatspräsident Assad ist. Das Regime des Präsidenten Bashar al-Assad geht in den letzten Wochen zunehmend mit militärischer Gewalt gegen Oppositionelle vor – die vor allem freie Wahlen fordern.

Massenproteste in Douma (Vorort von Damaskus) im April 2011 (Foto: syriana2011)
Massenproteste in Douma (Vorort von Damaskus) im April 2011 (Foto: syriana2011)

Über die Situation der HIV-Epidemie und die Lage HIV-Positiver in Syrien sind Informationen nur sehr spärlich und lückenhaft verfügbar. Versuche eines Überblicks:

HIV: Epidemiologische Situation in Syrien

Die HIV-Prävalenz in Syrien ist niedrig – UN-Berichten zufolge eine der niedrigsten im Nahen Osten. Genaue Daten zur Zahl der HIV-Infizierten in Syrien sind kaum verfügbar. Auch der Aids-Organisation der Vereinten Nationen UNAIDS scheinen keine offiziellen epidemiologischen Daten zu HIV und Aids in Syrien vorzuliegen – das „epidemiological fact sheet“ für Syrien ist leer.

Einer Ende 2008 veröffentlichten offiziellen Statistik der Regierung Syriens zufolge lebten damals 552 Menschen mit HIV im Land.
Ende 2005 hatte ein syrischer Bericht von 369 HIV-Infizierten gesprochen, 221 syrische Staatsbürger sowie 148 Ausländer. 106 Menschen seien bisher in Syrien an den Folgen von Aids gestorben.
Eine auf der Internationalen Aids-Konferenz 2004 in Bangkok vorgestellte Studie an 186 syrischen HIV-Positiven stellte bei 43% (!) eine Ko-Infektion mit Hepatitis C fest. In dieser Gruppe habe die sexuelle HIV-Übertragung nur einen Anteil von 11,3% gehabt, 83,7% seien iv-Drogengebraucher.
Eine nicht verifizierbare aktuelle Meldung von ‚epharmapedia‘ (12.04.2011) zitiert Dr. Jamal Khamis, Leiter des Nationalen Aids-Programms Syriens, es gebe 693 HIV-Infizierte in Syrien. 49% hätten sich durch „illegale sexuelle Beziehungen“ infiziert, 17% bei ehelichem Sex, 5% durch Blut und Blutprodukte aus dem Ausland, 11% durch homosexuelle Beziehungen und 3% durch illegale Drogen. Nur 113 syrische HIV-Positive erhalten seiner Aussage zufolge antiretrovirale Behandlung.

Experten gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl HIV-Infizierter höher liegen dürfte als die offiziell genannten Werte. Selbst syrische Experten sprechen von „etwa 5.000 Fällen“ (NAP Manager Dr. Haytham Sweidan laut ‚Syria Today‘)).

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Syrien: Die Situation HIV-Positiver

HIV-Positive in Syrien sehen sich mit einem enormen Ausmaß an Stigmatisierung konfrontiert. Stigmatisiert – nicht „nur“ als HIV-Positive/r, sondern oft auch als Drogengebraucher/in, Sexarbeiter/in oder Homosexueller.

„Es ist pure Ignoranz“, beschreibt ein HIV-Positiver in einem Artikel in ‚Syria Today‘ seine Situation (die einzige Lagebeschreibung eines HIV-Positiven, die online zu finden war). „Die Behandlung, die wir an den staatlichen Aids-Zentren bekommen, ist gut. Aber die öffentliche Meinung muss sich verändern.“ Positive werden dem Bericht zufolge in Syrien vielfach als ‚gefährlich‘ und ‚abstoßend‘ betrachtet.

Offizielle Aids-Kampagnen täten ein Übriges zum Bild bei, das sich die syrische Bevölkerung von HIV-Positiven mache: eine neue großformatige Kampagne des Gesundheitsministeriums zeige auf einem Plakat ein dunkles Gesicht, vermutlich einen HIV-Positiven. Dazu der Schriftzug „Zweieinhalb Millionen Menschen infizieren sich jedes Jahr mit HIV. Nein zu Drogen. Nein zu außerehelichem Sex.“ Über Möglichkeiten, sich – gerade bei außerehelichem Sex – zu schützen, werde nicht informiert.

Besonders schwierig ist die Situation für Homosexuelle. Gemäß Artikel 520 des Strafgesetzbuchs von 1949 sind homosexuelle Handlungen verboten. Private Veranstaltungen Homosexueller werden immer wieder von Razzien heimgesucht, oft mit Verhaftungen. Die Bildung von Schwulen- und Lesbengruppen wird seitens der Regierung verhindert. Nur wenige Stimmen über homosexuelles Leben dringen aus dem Land – wie die der offen lesbischen Bloggerin Amina A. („A Gay Girl in Damascus“) [13.6.2011: ‚A Gay Girl In Damascus‘ ist ein fiktionales Blog, enthüllte US-Amerikaner Tom MacMaster am 12.6.11].

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HIV: Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen in Syrien

US-Angaben zufolge ist für Ausländer zwischen 15 und 60 Jahren, die sich in Syrien niederlassen wollen, ein HIV-Test Pflicht. Er muss in Syrien bei einer vom Gesundheitsministerium hierfür zugelassenen Einrichtung durchgeführt werden. Auch Ausländer, die eine/n Syrer/in heiraten wollen, müssen einen HIV-Test vornehmen lassen.
Für Kurzzeit-Touristen bestehen nach Angaben von www.hivtravel.org keine Einschränkungen und keine HIV-Test-Vorschriften. Es sei allerdings wahrscheinlich, dass Ausländer mit einer (bekannt gewordenen) HIV-Infektion abgeschoben würden.

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Syrien: Nationale Aids-Strategie und Nationale Aids-Politik

Der vom syrischen Aids-Beauftragten an UNAIDS erstellte „2010 National Composite Policy Index“ vom 18.02.2010 (eine der wenigen umfassenderen Informationsquellen zur Lage der Aids-Politik Syriens) betont, die Datenqualität könne nicht vollständig kontrolliert werden, es sei der erste Bericht seiner Art.

Dieser Bericht gibt einen überraschend offenen Einblick in die Situation des Landes bezüglich HIV-Prävention und Aids-Politik. Ihm lassen sich u.a. folgende Angaben entnehmen:

  • Syrien hat bisher keine multisektorale Strategie gegen HIV. Es gebe bisher keine Nationale Aids-Strategie, insbesondere weil bisher entsprechende Experten sowie finanzielle Mittel fehlen. Zudem mangele es an einem entsprechenden Engagement hochrangiger Politiker.
  • Ein National Aids Center / Rat existiert seit 1987 (Vorsitzender Dr. Rida Said, Gesundheitsminister). Es arbeitet u.a. mit dem Innen-, dem Verteidigungs- und dem Tourismus-Ministerium, der Syrischen Frauen-Organisation sowie der Familienplanungs-Organisation zusammen. Neben regelmäßigen Zahlungen seitens des Gesundheitsministeriums würde seine Arbeit besonders durch verschiedene UN-Organisationen ermöglicht. Seine Aktivitäten würden derzeit durch die Finanzquellen bestimmt, nicht auf Grundlage einer Bedarfsanalyse gesteuert.
  • Die Aktivitäten des National Aids Centers konzentrieren sich bisher auf Frauen und  junge Mädchen. Drogengebraucher, Frauen in Sex-Arbeit sowie Männer die Sex mit Männern haben (MSM) würden nur bei Inhaftierung auf HIV getestet, in den meisten Fällen ohne vorherige und anschließende HIV-Beratung. Zu anderen von HIV bedrohte Gruppen sowie Kinder und Waisen gab es in den beiden dem Bericht vorangehenden Jahren keine Aktivitäten des National Aids Centers.
  • Es gebe staatliche Regelungen für HIV-Tests und HIV-Prävention seitens des Gesundheitsministeriums.
  • Syrien habe, so der Bericht, Nicht-Diskriminierungs-Regelungen oder -Gesetze zum Schutz der von HIV am meisten betroffenen oder bedrohten Gruppen. Sie bezögen sich auf Frauen und junge Menschen, nicht auf andere Gruppen. Ihre Mechanismen seien nicht gut etabliert – die Gesetze seien zwar verabschiedet, ihre Anwendung aber mangelhaft. Das Wissen über Bürgerrechte einschließlich des Rechts auf Gesundheits-Fürsorge sei in der Allgemeinbevölkerung wie auch den am meisten von HIV bedrohten Gruppen begrenzt.
  • Im Jahr 2007 sei eine Situations-Analyse des HIV-/Aids-Programms in Syrien vorgenommen worden. Auf dieser Basis seien einige Präventionsprogramme gestartet worden.
  • HIV-Prävention werde auch durch staatliche Regelungen und Gesetze behindert. Dies betreffe insbesondere Drogengebraucher/innnen, Sex-SArbeiter/innen sowie Männer die Sex mit Männern haben (MSM). Sie seien illegal und in der Gesellschaft nicht akzeptiert.  Es gebe weder entsprechende zielgerichtetet Präventions-Maßnahmen noch harm reduction Programme.
  • Das Nationale Aids-Programm habe keine umfassende Strategie, „Hochrisikogruppen“ zu erreichen.
  • Inzwischen gebe es in jedem Gouvernement Syriens ein Aids-Center. Das Nationale Aids-Programm bemühe sich, über diese allen HIV-Positiven des Landes Zugang zu unentgeltlicher medizinischer Behandlung und antiretroviralen Medikamenten zu ermöglichen. Dies sei nicht ausreichend umgesetzt bei palliativer Behandlung sowie Behandlung HIV-bedingter Infektionen und Cotrimoxazol-Prophylaxe [gegen PcP; d.Verf.]. Zudem stehe bei Therapieversagen durch das Gesundheitsministerium nur eine Second-Line-Therapie zur Verfügung.
  • Dem Land mangele es an Experten in der Behandlung HIV-Infizierter sowie entsprechenden Behandlungs-Richtlinien, insbesondere für Begleiterkrankungen.
  • Für sexuell übertragbare Erkrankungen fehlen entsprechende Anstrengungen.
  • Kondome stehen nur über das Gesundheitsministerium bei Familien- und Schwangerschafts-Beratungsstellen zur Verfügung.
  • Es gebe keine Nationale Einrichtung zum Monitoring der HIV-Infektion und zum zielgerichteten Sammeln epidemiologischer Daten. Daten aus den Aids-Zentren der 14 Gouvernements würden bei Nationalen Aids-Center gesammelt. Dies diene insbesondere der Erfassung der Zahl der HIV-Infizierten sowie der Infektionsrate in der Allgemeinbevölkerung. Daten und Instrumente für „Hochrisikogruppen“ gebe es nicht.

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Syrien: Aktuelle Entwicklungen der Aids-Politik 2011

Aktuell allerdings scheint sowohl die syrische als auch die internationale Politik dem Thema HIV in Syrien mehr Aufmerksamkeit zu schenken:

  • Im März 2011 startete Syrien in Kooperation mit der ILO (International Labor Organisation) ein Projekt zur Aids-Bekämpfung im Arbeitsleben. Es soll auch dazu dienen, die 2010 beschlossenen ILO-Empfehlungen zu HIV/Aids am Arbeitsplatz umzusetzen.
  • Von Juli 2011 bis Juni 2016 führt das UNDP United Nations Development Programme mit 1,7 Mio. US-$ finanzieller Unterstützung des Globalen Fonds (GFATM) ein Projekt durch, das sich zum Ziel gesetzt hat, die HIV-Prävalenz in Syrien unter 1% in den Bevölkerungsgruppen mit hohem Infektionsrisiko und unter 0,1% in der Allgemeinbevölkerung zu halten. Dieses Projekt soll sich insbesondere auch wenden an Sexarbeiterinnen, Drogengebraucher/innen sowie Männer die Sex mit Männern haben.
    Aufgrund der aktuellen politischen Situation in Syrien und dem massiven Vorgehen der Regierung gegen Oppositionelle ist allerdings eine Durchführung des UNDP-Projekts derzeit mehr als fraglich. Einer aktuellen Reuters-Meldung zufolge soll das 5-Jahres-Programm für Syrien aufgeschoben werden.

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siehe auch:
ondamaris: Ägypten: Mubarak, das hieß auch Verfolgung und Gewalt gegen HIV-Positive
ondamaris: HIV/Aids in Libyen: wenig Fakten und ein inszenierter Schau-Prozess

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weitere Informationen:
UNAIDS: epidemiological fact sheet Syria
UNAIDS: 2010 National Composite Policy Index (NCPI) report Syria (pdf)
UNGASS Country Progress Report 2010 Syrian Arab Republic (pdf)
UN April 2009: Upgrading HIV and AIDS facilities in Syria
redorbit 02.12.2005: Syria Reports 369 Persons Infected With HIV/AIDS
US Department of State: Syria – country specific information
www.hivtravel.org: Syria (eingesehen 07.05.2011)
wikipedia: LGBT rights in Syria
ILO: HIV and AIDS and the world of work in Syria
UNDP: Syria HIV MARPS
Adwan ZS: Seroepidemiology of HCV-HIV co-infection in Syria
epharmapedia 12.04.2011: 693 HIV Positive Cases in Syria, Mostly at Damascus
Syria Today März 2010: Treating the Taboo
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