Gewinne Gewinne Gewinne

Heute noch so eine Geschichte, die man lieber nicht erzählen möchte. Wieder eine Geschichte aus dem bunten Pharma-Zirkus, in dem sich alles um Gewinne Gewinne Gewinne dreht. Eine Geschichte um Pillen und Aids.

Die Immunschwäche-Krankheit Aids wird ausgelöst durch eine Infektion mit dem HI-Virus. Die HIV-Infektion kann inzwischen oftmals erfolgreich behandelt (wenn auch nicht geheilt) werden, eine größere Anzahl Medikamente steht in den wohlhabenden Industriestaaten, zunehmend aber auch in einigen Staaten der sogenannten ‚Dritten Welt‘ zur Behandlung zur Verfügung.

Die Pillen, der Markt und der Preis
Eines dieser Medikamente ist Norvir des Herstellers Abbott. Norvir (Wirkstoff Ritonavir) wurde ab Mitte der 90er Jahre als Medikament gegen HIV eingesetzt (von den Patienten allerdings u.a. aufgrund seiner Nebenwirkungen wenig geliebt). Bis man feststellte, dass Norvir auch in der Lage ist, schon in einer geringen Dosierung andere Medikamente in ihrer Wirksamkeit zu verstärken. Dies wurde bald zum hauptsächlichen Einsatzgebiet von Norvir, während als eigentliches Medikament oftmals Substanzen von Wettbewerbern eingesetzt wurden. Fast jedesmal jedoch verdiente Abbott mit, da als ‚Verstärker‘ Norvir eingesetzt wurde.

Nun könnte man als Hersteller überlegen, ’na, schön dass unsere Pille trotz all der Nebenwirkungen und besseren Konkurrenzprodukte überhaupt noch ein Einsatzgebiet hat und damit Umsatz bringt‘. Nicht so jedoch der Pharmakonzern Abbott.
Dem reichte der Umsatz als „Verstärker“ nicht. Im Jahr 2003 begann man zu überlegen, was denn getan werden könnte, um den eigenen Marktanteil zu sichern und den Umsatz anzukurbeln. Welch perfide Vorschläge dabei ernsthaft erwogen wurden, enthüllte jetzt das Wall Street Journal.

Eine der Ideen: der Pharmakonzern könnte Norvir in den USA ganz vom Markt nehmen – um Wettbewerber zu schädigen, die Norvir als Verstärker (Booster) für ihre Medikamente nutzen (und dann nicht mehr einsetzen könnten).
Eine weitere Option: die Kapseln durch den Saft zu ersetzen (der wirklich so eklig schmeckt, dass selbst die Außendienst-Mitarbeiter des Konzerns sich nach Ausprobieren weigerten, die Probe zu wiederholen).
Dies hätte Patienten vermutlich gezwungen, auf das konzerneigene Medikament Kaletra zu wechseln (in das Norvir selbstverständlich als Booster, und geschmacksneutral, eingebaut ist).

Was hätten diese Alternativen in der Praxis bedeutet?
Abbott hätte Norvir (Kapseln) vom Markt genommen. Da wenig Umsatz, wäre der direkte finanzielle Verlust nicht sehr groß gewesen.
Die Patienten und ihre Ärzte hätten sich entscheiden müssen. Sie könnten weiterhin Medikamente eines anderen Herstellers einnehmen, aber nur ohne „Verstärker“, oder nur mit dem wirklich unerträglich schmeckenden Norvir-Saft. Oder sie wechseln zu einem Produkt von Abbott (hier also Kaletra) – denn in seine eigenen Pillen baut der Konzern selbstverständlich den Verstärker auch weiterhin ein, auch mit erträglichem Geschmack.

Um dem ganzen noch einen besonderen Akzent zu geben, wurde diskutiert, wie denn diese schwer erträgliche Entwicklung vor Ärzten und Patienten gerechtfertigt werden könnte. Die perverse Idee: die ‚dritte Welt‘ könnte doch die Schuld bekommen. Man benötige alle Produktionskapazitäten, um den Staaten der ‚Dritten Welt‘ ausreichend Norvir zur Verfügung stellen zu können, so das Gedankenspiel zur Begründung der diskutierten Möglichkeit, Norvir in den USA vom Markt zu nehmen.

Und wie gingen diese perfiden Planspiele aus?
Der Pharmakonzern entschied sich im Dezember 2003 für eine dritte Option. Der Preis für Norvir wurde in den USA erhöht, und zwar drastisch.
Die angenehme Nebenfolge für Abbott: während sich die Gesamt-Preise für die Produkte der Wettbewerber, die ja das nun 5fach teurere Norvir als Verstärker benötigen, massiv erhöhten, würde Kaletra (das hauseigene Produkt mit ‚eingebautem‘ Norvir-Verstärker) preislich attraktiver sein und dadurch massive Marktanteile gewinnen.
Diese Begründung wurde natürlich nie offiziell gegeben. Abbott begründete vielmehr die Preiserhöhung damit, der neue Preis reflektiere nun endlich den ‚wahren Wert‘ der Substanz in der Therapie.

Der ‚wahre Wert‘ allerdings erschreckte nicht nur Marktbeobachter, Ärzte und Patienten. Abbott verfünffachte (!) den Preis von Norvir in den USA.
Der Großhandelspreis für eine Packung Norvir-Kapseln (100 Stück à 100mg) wurde von Abbott erhöht von 205,74 US-$ auf nunmehr 1.028,71$. Trotz massiver Proteste von Ärzten, Aktivisten, Patientenvertretern und Gesundheitspolitikern blieb es bis heute bei dieser Preiserhöhung.

Eine Geschichte, die beinahe so klingt, als hätten sie Drehbuch-Autoren wenig ambitionierter Movies sich nachts aus den Fingern gesogen – und die dennoch traurige Wirklichkeit ist.
(weitere Informationen: Hintergrundinformationen hier)
Norvir und Kaletra sind geschützte Warenzeichen von Abbott

Synonymisiert im Kompotenz-Netz

Früher – ja früher, da fingen Märchen noch mit „es war einmal“ an…..
Und Datenschutz war noch ein hehres Anliegen, ein Thema, das viele politisch denkende Menschen bewegte.

Und heute?
Ich wundere mich, welche (geringe) Bedeutung anscheinend Datenschutz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Bewusstsein vieler nur noch haben.

Selbst Menschen, die noch vor einigen Jahren den Volkszählungs-Boykott mit organisierten, haben heute keine Bedenken, ihre privatesten Daten bereitwillig zur Verfügung zu stellen.
Selbst diejenigen, die noch vor wenigen Jahren hinter jedem Spiegel eine ‚Rosa Liste‘ vermuteten, sind heute mit persönlichsten Details im Netz zu finden.
Und auch ich selbst muss mich ja immer wieder selbst beäugen – wie viel Privates will ich von mir, z.B. in diesem Blog, preisgeben?

Das alles sind aber immer noch freiwillige, selbst entschiedene (und hoffentlich nicht nur unüberlegte) Preisgaben persönlicher Informationen.
Nun aber – werden selbst medizinische Daten Positiver unkontrolliert und ungenehmigt ins Ausland geliefert? Ohne Einwilligung, unter Umgehung des Datenschutzes? Für eine Studie, die Genom-Untersuchungen macht?
Ein interessanter Artikel auf gay-web zeigt, dass die Affäre noch lange nicht vorbei zu sein scheint. Sondern der weiteren, neutralen Aufarbeitung harrt.

Jetzt einfach im nachhinein einige Einverständnisse doch noch einholen, etwas die Formulare (der Einverständnis-Erklärung) aufhübschen, dann weiter wie bisher – das ist zu wenig.
Das wäre ein Herumdoktern an Symptomen, mehr nicht.
Zu viele Fragen sind noch offen, zu viele Probleme noch nicht befriedigend geklärt.
Erforderlich wäre ein offensives Angehen der bestehenden Probleme. Die zahlreicher zu sein scheinen, als einige offensichtlich wahrnehmen zu wollen bereit sind. Probleme, die z.B. reichen von einer (dann hoffentlich verständlichen) Patienten-Aufklärung über Konzept und Realität des Datenschutzes, die Klärung juristischer Fragen (z.B. Beschlagnahmeschutz) bis zur Klärung von Fragen von Doppel-Funktionen und Interessen-Konflikten.

Ein größerer Katalog, gewiss. Aber wohl der einzig saubere Weg, mit bestehenden Problemen umzugehen. Und zu vermeiden, dass an der nächsten Ecke (z.B. der nächsten Studie, internationalen Kooperation o.ä.) die nächste Krise auftritt.

Vor allem aber – nur ein offener Umgang mit der Situation, die nun einmal entstanden ist, kann eventuell das beeinträchtigte Vertrauen wieder herstellen, vielleicht eine neue Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit legen. Eine Zusammenarbeit, bei der dann PatientInnenrechte und Datenschutz selbstverständlich gewahrt und respektiert werden – und nicht ausgetrickst.
Dies wird wohl nur eine unabhängige Aufklärung der Vorgänge ermöglichen können.

Laxer Umgang mit Patienten-Daten ?

Das Kompetenznetz HIV möchte an internationalen Studien teilnehmen, hier auch Daten und Biomaterial deutscher PatientInnen einbringen. Da die bisherige Einverständnis-Erklärung dies nicht zulässt, scheint man sich mit Tricksereien behelfen zu wollen.

Das Kompetenznetz HIV (1) plant, an internationalen Studien teilzunehmen. Hierzu sollen nun auch die Daten der Teilnehmer der HIV-Kohorten-Studie [immerhin etwa 14.000 Positive mit bis zu 400 Einzeldaten je Person, (3)] an ausländische Forscher und Studiengruppen weitergegeben werden – die Daten sollen in eine europäische Kohorte einfließen.
Allerdings – der Daten- (und Biomaterial-) Übermittlung ins Ausland haben bisher die Patienten (die ja für die Teilnahme und die Verwendung ihrer Daten und Biomaterialien eine Einverständnis-Erklärung unterschreiben müssen) nicht zugestimmt (in der derzeitigen Einverständniserklärung wird dezidiert von ‚deutschen Praxen und Kliniken‘ gesprochen).

Ärgerlich, dachte sich wohl das Netzwerk. Das jetzt bei jedem einzelnen der 14.000 PatientInnen nachzuholen, wird wohl recht zeit- und kostenaufwendig. Hätte man vorher dran denken können (an die Möglichkeit, auch mit ausländischen Forschern kooperieren zu wollen), hat man aber anscheinend nicht.
Wie bekommen wir das wieder hin, hat man wohl überlegt. Und ist Ende November auf einen ganz einfachen Trick verfallen – man nimmt den/die ausländischen Forscher, mit denen kooperiert werden soll, einfach in den Verein Kompetenznetz auf – dann müsste das doch gehen.

Nun ersetzt eine Aufnahme ausländischer Mitglieder keine Einverständniserklärung der Patienten, und ändert auch nichts daran, dass Daten und Bio-Material im Ausland verwendet werden sollen.

Nach der Deutschen Aids-Hilfe hat am Wochenende auch „Positiv e.V.“ (der Veranstalter der bundesweiten Positiventreffen) sich mit einem Protest an das Kompetenznetz gewendet. Darin wurde um Bestätigung gebeten, dass bisher keine Daten oder Biomaterialien ins Ausland geliefert wurden (2) und dies auch zukünftig nur mit Einverständnis der Patienten erfolgen wird. Notfalls müsse man, wissend um die mögliche Bedeutung einer Kohortenstudie, betroffenen Patienten den Rückzug aus der Studie empfehlen.

Wohlgemerkt, es geht nicht darum, eine an sich sicher sinnvolle deutsche Kohorten-Studie zu torpedieren. Auch nicht darum, ebenso sinnvolle internationale Forschungs-Kooperationen zu verhindern.

Wohl aber geht es um die Frage, wie hierzulande mit den sensiblen Daten von Tausenden HIV-Positiven (die Kohorte umfasst Daten zu einem Viertel aller Positiven in Deutschland) umgegangen wird. Es geht um die Frage, welche Bedeutung die Verantwortlichen den Einverständniserklärungen beimessen. Und um die Frage, welche Bedeutung für sie Datenschutz und das Recht der beteiligten Patienten auf informationelle Selbstbestimmung haben.

Es scheint, dass die Verantwortlichen des Kompetenznetzes mit ihrem trickreichen Umgehen der fehlenden Einverständnisse deutlich gezeigt haben, welche Bedeutung sie der Patienteninformation und -einverständniserklärung zumessen: eine äußerst niedrige. Eine lästige, leider wohl erforderliche Pflichtübung, die bei nächstbestem Anlass, und sei es mit umstrittenen Verfahrenstricks, ausgehebelt wird.

Bravo, mag man da nur noch zynisch sagen.
Wie soll man/frau da noch glauben, dass der Datenschutz funktioniert? Dass die Daten der Positiven beim Kompetenznetz gut aufgehoben sind? Dass die Daten als HIV-Patient sicher sind, wenn erst (statt „nur“ anderen Forschern) der Staatsanwalt vor der Tür steht?

Nachtrag: wer mehr über das Kompetenznetz, die Kohortenstudie und die derzeitigen Vorgänge erfahren möchte, kann sich informieren auf einer Veranstaltung in der Berliner Aids-Hilfe am 13.12.2006 um 18:30 Uhr.

Anmerkungen:
1) Das Kompetenznetz HIV ist eines von 18 deutschen Kompetenznetzen in der Medizin. In ihm sind Forscher, die in klinischer und praxisnaher Grundlagen-Forschung zu HIV/Aids arbeiten, zu einem Verbund zuzsammengeschlossen. Das Kompetenznetz HIV wird in bedeutendem Umfang vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert.
2) Für die Bitte um die Bestätigung, dass bisher noch keine Daten ins Ausland geliefert wurden, gibt es konkreten Anlass. Nämlich die gelegentlich kolportierte Befürchtung, dies könnte längst passiert sein. Wir anders ließe sich erklären, dass die Teilnahme der deutschen Kohorte an einer internationalen Studie (COHERE) von ausländischen Forschern abgelehnt wurde, wie zu hören ist wohl auch mit Hinweis auf die Qualität der Daten? (Wer die Qualität der Daten beurteilen kann, muss ja doch wohl Einblick gehabt haben, könnte man vermuten?)
3) In der Kohortenstudie werden die Daten von derzeit ca. 14.000 HIV-positiven Patienten erfasst, die hierzu ihr Einverständnis erklärt haben. Erfasst werden u.a. „soziodemographische sowie fortlaufend detaillierte medizinische Daten“ (Newsletter 01/2006 des Kompetenznetzes).

Hilfe für die Selbsthilfe ?

Ist Selbsthilfe, aktives Engagement und Interessen- Vertretung von Positiven noch erwünscht? Warum scheint sie immer schwieriger, sowohl in der Arbeit vor Ort als auch der politischen Interessenvertretung auf Bundesebene? Eine der Frage wurde am Samstag ausgiebig diskutiert, die andere blieb offen im Raum stehen.

Bereits seit einiger Zeit tobt unter einigen Positiven, in Netzwerken, Selbst- und Aids-Hilfen eine Diskussion über ‚Aids-Hilfe und Selbsthilfe‘. Fragen, die dabei diskutiert werden sind z.B.: wie weit ist Aids-Hilfe noch Selbst-Hilfe? Wie weit ’nur noch‘ Service-Einrichtung? Welche Rolle spielen Sekundär- und Primär-Prävention? Welche Rolle haben Positive überhaupt noch in Aids-Hilfen?

Hintergrund dieser Fragen ist u.a., dass so manche Aids-Hilfe nicht gerade ein Hort positiver Selbsthilfe zu sein scheint. Dass es Aids-Hilfen gibt, in denen es beim Thema Selbsthilfe mehr auf Schein als auf Sein, mehr auf den (billigen) Effekt als auf die (langfristige) Wirkung ankommt, auch das wird des öfteren als Befürchtung geäußert.

In diesem Spannungsfeld möglicher Fragen und Herausforderungen an und durch Selbsthilfe veranstaltete das Netzwerk plus am 9.12.2006 in Berlin eine Podiumsdiskussion unter dem Titel „Mehr Schein als Sein? – Beteiligungsmöglichkeiten von HIV-Positiven in Selbsthilfestrukturen“.

Netzwerk 02
Deutlich wird schon zu Beginn der Veranstaltung, mit welcher Bescheidenheit Selbsthilfe zurecht zu kommen, manchmal zu kämpfen hat. Da werden z.B. Selbstverständlichkeiten (wie die Teilnahme an öffentlichen Sitzungen) als großzügiges Entgegenkommen verkauft. Wenn Verantwortliche sich tatsächlich Fragen stellen, auch kritischen Fragen, ist man/frau schon vorab dankbar allein für die Bereitschaft – und sieht sich, je kritischer die Fragen werden, doch mit dem Vorwurf konfrontiert, man sei doch nicht ‚Rechenschaft schuldig‘. Oder da da wird die Entsendung von Selbsthilfe-Vertretern in Entscheidungsgremien von der Zustimmung von Vorständen abhängig gemacht.

Viel Enttäuschung, viel an Zugangshemmnissen ist zu erahnen, wenn des öfteren unterschwellig der verzweifelte Ruf herauszuhören ist ‚wir machen hier nun so mühevoll Selbsthilfe – warum kommt denn kaum jemand?‘.

Etwas anders die Beteiligung von PatientInnen- Vertretern auf Bundesebene, die als Ergebnis der letzten Gesundheitsreform inzwischen ihre Anfänge nimmt (insbesondere, wenn auch noch ohne Stimmrecht, im ‚Gemeinsamen Bundesausschuß‘ G-BA). Hier ist ganz klar – die Hürden sind hoch, haben Namen wie ‚Vertretung politischer Gruppeninteressen, nicht von Einzelschicksalen‘ oder ‚viel Gremien-Arbeit, viel Frustrationstoleranz sind gefragt‘.

Diese beiden Ebenen in der Diskussion um Selbsthilfe zu unterscheiden – ‚wie kann ich mich in der Selbsthilfe engagieren‘, und die Frage, ‚wie kann Selbsthilfe sich an (politischen) Prozessen beteiligen‘ (also der Innen- und der Aussenwirkung) – bleibt im Verlauf der Diskussion immer wieder Herausforderung.

Einigkeit besteht hingegen bald, dass auf beiden Feldern eine wesentliche Herausforderung die Vermittlung von Kompetenzen ist. Kompetenzen, die in der praktischen Selbsthilfe vor Ort ein effizienteres Arbeiten ermöglichen, die aber auch für die Gremienarbeit auf Bundesebene erforderlich sind. Die Patientenbeauftragte für Berlin sowie anwesende Aids-Hilfe-Vertreter sehen hier Möglichkeiten konkreter Unterstützung, die sie bieten könnten – eine baldige Umsetzung wäre im Sinne effektiver Selbsthilfe-Arbeit wünschenswert.

Und es wird im Verlauf der Diskussion deutlich, wie wichtig es -gerade für die politische Interessenvertretung auf Bundesebene- ist, eine breite Basis aufzubauen. Eine Basis, die die vorhandenen Strukturen (insbes. von Netzwerken und Aids-Hilfen) nutzt, die auf Probleme aufmerksam macht. Eine Struktur, die einerseits eine Bündelung von Themen, Interessen und anstehenden Fragen ermöglicht und eine Kondensierung für die bundespolitische Arbeit bietet, diese andererseits auch ‚erdet‘ und am ‚Abheben‘ hindert.

Die letztlich entscheidende, das Spannungsfeld (s.o.) treffend auf den Punkt bringende Frage wird erst ganz gegen Schluss gestellt: welches Interesse haben Aids-Hilfen überhaupt noch, dass Positive sich befähigen, sich engagieren, aktiv einbringen und beteiligen?

Diese Frage bleibt gen Ende der Veranstaltung im Raum stehen – verbunden mit dem Hinweis, die Leitbild-Diskussion der DAH beschäftige sich ja genau damit.

Über Solidarität und Wegsehen

Kann Wegsehen solidarisch sein? Ist ein kritischer Blick in den eigenen Szenen okay? Erwünscht? Nestbeschmutzung?

Gerade nach meinen Posts mit Kritik an Maneo und jüngst zur Finanzierung des Switchboards Mann-O-Meter aus Mitteln der HIV-Prävention wurde ich mehrfach angemaunzt, das sei „unsolidarisch“, ich könne doch nicht „unsere eigenen Projekte“ so angehen.

Die Frage der Solidarität. Keine neue Frage, sondern eine immer wieder gestellte, eine Frage, vor der auch ich selbst immer wieder stehe.

Natürlich empfinde ich Solidarität, mit einzelnen Menschen oder Gruppen, mit Szenen oder Projekten.

Aber wie weit geht Solidarität? Oder, anders herum gefragt, wann wird aus echter Solidarität falsch verstandene Solidarität, die z.B. nur noch aus einem Mäntelchen des Wegsehens, Problemverschweigens und Weiter-Sos besteht?

Wenn (aus Steuergeldern finanzierte) öffentliche Mittel an einer Stelle nicht optimal eingesetzt scheinen, während sie an anderer Stelle händeringend fehlen, ist ein Wegsehen dann solidarisch?
Wenn Projekte sich, z.B. aufgrund technologischer und gesellschaftlicher Entwicklungen wie leichter und breiter Verfügbarkeit von Internet-Zugängen, überlebt haben, der Grund, aus dem heraus sie geschaffen wurden, schlichtweg weggefallen oder zumindest verändert ist, ist dann ein „(dennoch) weiter so“ solidarisch?
Wenn ganze Gruppen von Menschen, die vom gleichen Problem genauso, wenn möglich sogar intensiver, tiefgreifender ‚betroffen‘ sind, wenn diese Menschen von geförderten Projekten ignoriert werden, ist es dann solidarisch wegzusehen, zu tun als sei nichts geschehen, als habe man nichts bemerkt?

Ist es nicht viel solidarischer, ab und an selbst (bevor es andere tun) einen kritischen Blick zu riskieren, zu überlegen wo sich Situation, Ziele, Prioritäten verändert haben, und wie wir bzw. „unsere“ Projekte darauf reagieren können?

Und, nebenbei, wenn ich „außerhalb unserer Szenen“ ungerechtfertigte Mittelverwendungen, manchmal -verschwendungen kritisiere, muss ich dann nicht die selben Prinzipien auch „innen“ anwenden? Wäre ein Schweigen aus falsch verstandener Solidarität nicht nur verlogen, scheinheilig, und damit das, was wir anderen (gern ‚Berufspolitikern‘, ‚Funktionären‘ etc.) gerne vorwerfen?

Ich mein ja nur …

Und an die, die mich fragten, wieso machst du dir überhaupt über so’n Mist Gedanken: in Sabines Blog fand ich gerade heute einen schönen Gedanken, der zu diesem Thema passt: „Democracy is run by those who participate. It’s as easy as that and means that a lot of capable, intelligent, and thoughtful people will never ever show up in anything remotely connected with politics. They may have many reasons for this, and some of them may even be valid on a larger scale – but if this form of governance is to survive it’s just not enough to complain.“
Genau darum geht es: Demokratie heißt sich einmischen, kritisch mitdenken, aktiv werden … ein Schritt dabei ist m.E., seine Meinung zu äußern, öffentlich zumachen, zur Diskussion zu stellen …

Zivilcourage zeigen

Zivilcourage ist nicht jedermanns Sache. Oft stehen Angst und andere persönliche Gefühle im Weg. Möglichkeiten, mit Gewalt im öffentlichen Raum umzugehen, kann man jedoch lernen – und dann anderen helfen.

Bei dem (vermutlich) antischwulen Gewaltüberfall, dessen Zeuge ich vor einigen Wochen wurde, hat mich eines besonders geärgert: kaum war auch nur der Anflug einer Bedrohung spür- bzw. hörbar, verschwanden alle Mit-Besucher dieses nächtlichen Cruising-Ortes (sämtlich erwachsene Männer über 30 Jahre) schwuppdiwupp flugs in den Büschen und waren nicht mehr auffindbar, auch nicht auf Rufe zu helfen (bis auf einen jungen Mann, der zurück kam und gottseidank ein Handy hatte). Niemand kam auf die Idee, dem Opfer zu Hilfe zu kommen – geschweige denn die Täter zu stellen.

Feigheit? Mangelnde Zivilcourage?

Überfall
Ich finde dieses Verhalten nach Jahrzehnten schwuler Emanzipation, nach Jahren voller CSDs, Straßenfeste und sonstigem öffentlichem Ringelpietz beschämend. Nein, eigentlich bin ich stinksauer.
Warum kommt niemand auf die Idee, dass das Opfer vielleicht Hilfe braucht? Warum kommt niemand auf die Idee, zumindest den Notruf zu verständigen, damit Hilfe kommen kann? Warum stellt sich niemand als Zeuge zur Verfügung? Warum können die Täter unbehelligt, unerkannt abziehen?

Sicher, auch mir war mulmig, als ich den Überfall bemerkte. Als ich nach meinem ‚Zwischenruf‘ „Was soll das?“ registrierte, wie einer der beiden Täter mich fixierte. Angst, kommt er jetzt auf dich zu? Das Opfer, auf dem Boden liegend, schreiend „ich kann nichts mehr sehen!“ bringt mich schnell dazu, zu ihm zu laufen – gottseidank, die Täter verziehen sich. Leider auch alle anderen ‚Gäste‘ …

Zivilcourage, Mut ist nicht jedermanns Sache. Und niemand will (und soll) sich selbst gefährden. Aber ein Opfer einfach so liegen lassen?

Wie man mit Gewaltsituationen konstruktiv umgeht, kann man/frau lernen!

Die Berliner Polizei (und sicher, für die auswärtigen LeserInnen, auch viele andere Polizeien im Land) bietet zahlreiche Maßnahmen zur Kriminalprävention an, insbesondere auch Seminare, in denen man und frau lernen kann, mit Aggression und Gewalt im öffentlichen Raum adäquat umzugehen. Solche Veranstaltungen gibt es (wie andere Unterstützungsmöglichkeiten und Informationen) auch speziell für Schwule und Lesben.
[nb.: Die Polizei war nicht immer unser Freund und Helfer, ich weiß … Aber mit Gewaltsituationen umgehen zu können ist eine Fähigkeit, die Schwulen und Lesben im Alltag gut gebauchen können.]

Auch das von mir ja kritisch gesehene Überfall-Telefon führt gelegentlich (2mal im Jahr) kurze Veranstaltungen zu Umgang mit antischwuler Gewalt durch, so wieder am 20.11.2006 „Umgang mit Aggression und Gewalt im öffentlichen Raum“ (Maneo, 19:00).

Bedacht bei den Zahlen

„Die Schwulen infizieren sich wieder mehr mit HIV“ – so oder ähnlich geistert es langsam wieder durch die Medien. Ein wenig Bedacht mit den Zahlen ist angebracht.

Der Welt-Aids-Tag naht, und viele starren gebannt auf die neuen HIV-Infektions-Statistiken. Die ersten Blogs und Journale vermelden bereits, schon wieder seien die Zahlen gestiegen, die Schwulen wären wieder unvorsichtig, usw. Fast meint man manchmal, eine verquere Sehnsucht nach ‚damals‘ und allerlei Gauweilereien durch die Zeilen riechen zu können.

Aber Vorsicht. Die Zahlen wollen schon interpretiert werden.

Das Robert-Koch-Institut spricht in seinen Statistiken von „neu diagnostizierten HIV-Infektionen“.“Neu diagnostiziert“, nicht „neu infiziert“. Es gilt also, nicht Neu-Infektionen und Neu-Diagnosen miteinander zu verwechseln. Was jetzt gemessen (=diagnostiziert) wird, muss sich nicht auch jetzt (im Betrachtungszeitraum) infiziert haben. Gemessen werden Neu-Diagnosen.

Hinzu kommt: in einigen Städten (wie z.B. schon länger München, jetzt auch Berlin) wird unter Schwulen teils massiv für den HIV-Test geworben [manchmal mit dem mir seltsam anmutenden Gedanken, das sei Primärprävention], werden ganze Testkampagnen durchgeführt.
Das bleibt nicht ohne Folgen, auch für die Statistik: wer viel misst – fördert logischerweise auch mehr Infektionen zutage. Und, da gezielt unter Schwulen der Test propagiert wird, führt dies auch zu einer Erhöhung des Anteils der Gruppe der Schwulen (statistisch MSM) unter den gesamten Neu-Diagnosen.
Und – auch diese Neu-Diagnosen sind nicht zwingend auch (jetzige) Neu-Infektionen.

Aus Anstiegen in den Zahlen also einfach zu schließen, die Zahl der Neu-Infektionen unter Schwulen wäre jetzt gestiegen, wäre gleich zweifach (Neu-Diagnosen ungleich Neu-Infektionen, statistische Auswirkungen der Testkampagnen unter Schwulen) zu kurz gedacht …

Noch eine persönliche Anmerkung:
Auch ich habe Bauchschmerzen bei der Tatsache, dass sich jedes Jahr um die 2.000 Menschen allein in Deutschland mit HIV infizieren. Ja, ich habe „die schlimmen Jahre“ Ende der 80er bis Mitte der 90er Jahre miterlebt, weiß was es bedeutet Aids zu haben, jämmerlich daran zu sterben. Auch ist mir unwohl bei dem Gedanken, wie sehr wir uns daran gewöhnt haben, an diese 2.000 Neu-Diagnosen pro Jahr, sie als etwas beinahe ‚Normales‘ hinnehmen.
Aber wenn wir wirksam dagegen handeln wollen, statt nur plakativ ‚drauf einzuschlagen‘, zu abgestandenem ‚law and order‚ zurückzukehren, dann ist es doch erforderlich bei den Zahlen genauer hinzu sehen. Nicht voreilig bequeme Schlüsse ziehen, die doch oft nur bestehende Vorurteile bestätigen sollen, sondern bedacht analysieren und gezielt handeln.

Aids-Politik: zurück zu law and order?

Die Bundesregierung plant, demnächst einen „Aktionsplan zur Umsetzung der HIV/AIDS-Strategie“ vorzulegen. Im Entwurf findet sich im Detail viel Ärgerliches – und die unterschwellige Tendenz, zukünftig mehr auf ‚law and order‘ zu setzen.

Die Unkorrektheiten beginnen gleich bei den Infektionszahlen, auf deren Basis argumentiert wird.
Da wird munter durcheinander von HIV-Neuinfektionen und HIV-Neudiagnosen gesprochen – als sei beides das gleiche. Und später wird behauptet „Gegenwärtig kommt es unter den MSM zu etwa 2.000 Neuinfektionen pro Jahr“. Hat da jemand etwas verwechselt? Das Robert-Koch-Institut spricht von 1.197 neu diagnostizierten HIV-Infektionen im ersten Halbjahr 2006 und einem Anteil von MSM (= Männer, die Sex mit Männern haben) von 62%. Das ergibt auf’s Jahr gerechnet ca. 1.480 Neudiagnosen (und nicht Neu-Infektionen) bei MSM im Jahr 2006 – nicht 2.000. Ein Versehen? Oder vielleicht Ausdruck eines Wunsches, eine Zahlenbasis für stärker repressive Maßnahmen bei MSM zu haben?

Weiter geht’s mit dem Thema ‚Verharmlosung von HIV‘. Die „Bagatellisierung des Risikos aufgrund eines unkritischen Therapieoptimismus“ betont der Entwurf. Genau, und wer macht die? Die beschönigenden Plakate und Anzeigenkampagnen z.B. mit bergsteigenden Positiven einer sehr marketingaggressiven Pharmaindustrie dürften ja nicht gerade unbeteiligt dabei sein! Was fällt dem Aktionsplan aber dazu ein? Die DAH sei dafür zuständig, brauche eine „verstärkte Aufklärung über die gravierenden Folgen einer HIV-Infektion, um einer in der Öffentlichkeit und Zielgruppen empfundenen Verharmlosung der HIV-Infektion wirksam entgegenzutreten“. Wie wär’s mal der Pharmaindustrie auf die Finger zu klopfen? Aber stattdessen wird der Verband (VfA) nur mal nett gefragt, ob man denn nicht freiwillig … und könnte … und würde …

Wenn jedoch die Pharmaindustrie direkt an die Patienten will [was mit vielen fragwürdigen, teils riskanten Folgen verbunden sein kann, siehe nur die US-Pharmawerbung in Positivenmagazinen, die viel dreister ist als alles, was bisher in den Szeneblättchen in Deutschland zu bestaunen war] ist die Bundesregierung anscheinend sehr kulant und interessiert. Da könne man ja die Selbstkontrolle entsprechend einbeziehen, wird in dem Plan laut gedacht.
Direktwerbung an Patienten jetzt also durch die Hintertür vermeintlicher Präventionsarbeit? [Mal ehrlich, auch wenn’s sarkastisch scheint, die Pharmaindustrie dürfte doch eher Interesse an mehr als an weniger Patienten haben, oder? Erst recht bei den Pillenpreisen …]

Auch beim HIV-Test gibt’s Neues – und einen Richtungswechsel. So findet sich dort die Forderung nach „Verstärkung der Kondomempfehlung und Werbung für HIV- und STD-Testung“ unter der Überschrift „Die DAH muss ihre Präventionsarbeit anpassen“. Und später wird noch deutlicher von „Routine-HIV-Testung“ als „Option zum Schutz vor einer HIV-Infektion“ gesprochen, oder vom HIV-Test mit seiner „neuen Relevanz für die Primärprävention“.

Und was die „kommerziellen Sexanbieter“ angeht (darunter dürften wohl auch Darkroom-Kneipen fallen): „Verbindliche Regelungen bei Betriebsbewilligungen und Kontrollen ihrer Einhaltung“ soll es erst geben, wenn eine Studie einen ’safer Environment Ansatz‘ als erfolgreich belegt (in der Praxis z.B. mit der freiwilligen Präventionsvereinbarung umgesetzt).
Das klingt beruhigend, heißt aber im Klartext doch wohl nichts anderes, als dass demnächst staatlicherseits Ärger droht, wenn Betriebe keine Kondome etc. auslegen. Was ja eine sinnvolle Maßnahme ist – aber mit Zwang? Rückkehr zu einer Law-and-Order-Politik?

Freiheitliche Ansätze hingegen fehlen weitgehend. Wie wäre es z.B. der Verbesserung der Situation von (und Präventionsmöglichkeiten bei) Menschen im Knast? Wie wäre es, etwas zu unternehmen, um Spritzentausch zu ermöglichen und leichte Kondomverfügbarkeit im Knast zu erhöhen? Fehlanzeige! Stattdessen wird larmoyant die unbefriedigende Situation in Haftanstalten beklagt, an die Länder appelliert und ansonsten auf eine Studie verwiesen, die erst 2007 Ergebnisse bringen soll.
Und warum wird unter dem Punkt „Einreise HIV-infizierter Ausländer“ jede Möglichkeit der ‚Prüfung der Gesundheit einreisender Ausländer‘ betont? Einschließlich der Möglichkeit, die Einreise zu verweigern? Nur, um dann doppeldeutig zu betonen, grenzpolizeiliche Zurückweisungen seien ‚allein wegen HIV/Aids weder Praxis noch vorgesehen‘?

Insgesamt vermitteln weite Teile des Papiers unterschwellig die Tendenz, nicht mehr auf freiheitliche Lösungen zu setzen (wie die Handlungskompetenz des Einzelnen zu fördern), sondern zukünftig mehr auf Rechtsstaat und ordnungspolitische Maßnahmen zu setzen – eine verkappte Rückkehr zu ‚law and order‘ in der Aids-Politik? Ein langsamer Richtungswechsel in der deutschen Aids-Politik?

Es steht noch viel mehr Ärgerliches in diesem Entwurf für den Aktionsplan (wie eine „Meldepflicht für HIV-Primärresistenzen“ – allein mir fehlt Lust und Geduld, das alles zu kommentieren …

Mit Justitia gegen Positive?

Sind es nur Zufälle? Oder mehren sich die Anzeichen, dass auch in Deutschland vermehrt mit juristischen Mitteln gegen HIV-Positive vorgegangen werden soll?
justitia
Einige Fälle in jüngster Zeit veranlassen zum Nachdenken.

In Großbritannien und einigen skandinavischen Ländern wird bereits seit einigen Jahren vermehrt das Mittel des Strafrechts gegen Positive eingesetzt. In jüngster Zeit gab es nun auch in Deutschland einige bemerkenswerte Fälle, in denen Positive Gegenstand juristischer Ermittlungen wurden:

Der Fall „Barmer“
Die Siegessäule berichtet in ihrer September-Ausgabe über mehrere Fälle, in denen die Barmer Ersatzkasse bei ihr krankenversicherte Positive angefragt hat mit der Bitte anzugeben, bei wem sie sich mit HIV infiziert hätten.
Auf Nachfrage und Beschwerde des HIV-/Aids-Wohnprojekts ZiK bestätigte die Barmer, ja, sie habe diesbezüglich nachgefragt, Ziel seien mögliche Regressforderungen. Sie sei sich zwar der Problematik der haftungsrechtlichen Prüfung bewusst, glaube aber zu Regress-Versuchen verpflichtet zu sein.
Regress heißt in diesem Fall: die Barmer versucht, ausfindig zu machen, wer den bei ihr versicherten Patienten infiziert haben könnte – um dem dann etwa die Behandlungs- und weiteren Folge-Kosten aufzubürden?
Sollen hier wieder einseitig Positive zur Verantwortung gezogen werden? Als gäbe es nicht eine beidseitige Verantwortung, auch beim Thema Safer Sex? Versucht hier eine Krankenkasse (etwa als „vorgeschobener Versuchsballon“?), eine Drohkulisse auszubauen? Oder drohen echte finanzielle Regress-Versuche gegen Positive?

Der Fall „Memmingen“
Aus Süddeutschland wird der Fall der Verurteilung eines Positiven wegen gefährlicher Körperverletzung gemeldet.
Das Landgericht Memmingen verurteilte am 27. Juni 2006 einen HIV-Positiven zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Ihm wurde vorgeworfen, im Frühjahr 2004 einen Sex-Partner zumindest bedingt vorsätzlich mit HIV infiziert zu haben (Körperverletzung).

Ein Tötungsvorsatz wurde im konkreten Fall nicht unterstellt. Das Teilgeständnis des Angeklagten wurde strafmildernd gewertet; zu Lasten des Angeklagten wurde hingegen gewertet, dass er wahrheitswidrig seine eigene HIV-Infektion verleugnet hatte (erhebliche kriminelle Energie). Gutachter im Prozess war Prof. Goebel (München).

Die Situation in Großbritannien
In Großbritannien ist es in den vergangenen Jahren bereits zu zahlreichen Verurteilungen von Positiven u.a. wegen Körperverletzung gekommen.

Erst vor kurzem (Mitte September) wurde ein 43jähriger Brite (die britische Presse nannte in Berichten seinen vollen Namen und Adresse!) zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Er wurde für schuldig befunden, mit einer 49jährige britische Frau (die in der darauf folgenden Zeit HIV-positiv getestet wurde) ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, ohne sie über seine HIV-Infektion aufzuklären. Psychische Probleme des Angeklagten wurden als nicht urteilsrelevant erachtet.

Dieser Fall war bereits der neunte Fall einer Verurteilung eines Positiven in Großbritannien wegen HIV-Übertragung. Von den ersten acht Fällen kamen nur zwei zur Verhandlung vor Gericht, in den übrigen sechs Fällen lagen vorher Schuld-Erklärungen vor. Die sieben ersten Fälle betrafen heterosexuelle Männer und Frauen, denen eine bewusste Infektion eines Sexpartners vorgeworfen wurde.

Ende Juli wurde erstmals auch ein schwuler Mann wegen bewusster Infektion verurteilt. Er hatte sich anfangs aufgrund virologischer Daten (und dem Rat seiner Verteidiger) selbst für schuldig erklärt. Ein Widerruf dieses Geständnisses wurde dann nicht für glaubwürdig erachtet.
Anfang August war erstmals in Großbritannien ein schwuler Mann vom Vorwurf der bewussten Infektion eines Sexpartners freigesprochen worden. Sein Verteidiger hatte mithilfe von Gutachtern nachweisen können, dass mit größter Wahrscheinlichkeit das HIV des Angeklagten keine Verwandtschaft mit dem HIV des Klägers haben kann (er also seine Infektion bei einem anderen Partner erworben haben müsse).

Beachtenswert ist, dass britische Gerichte in letzter Zeit vermehrt virologische Gutachten für die Urteilsfindung heranziehen. Virologisch kann nachgewiesen werden, ob zwischen zwei Varianten von HIV (zum Beispiel dem des Klägers und dem des Angeklagten) eine genetische Verwandtschaft besteht und wie eng diese ist.

Die britische Staatsanwaltschaft (Crown Prosecution Service) hat inzwischen einen Entwurf für Richtlinien erstellt und zur öffentlichen Diskussion gestellt. Diese Richtlinien sollen zukünftig regeln, wie die Staatsanwaltschaften mit Fällen umgehen, in denen die sexuelle Übertragung von Infektionskrankheiten (u.a. HIV) schwerwiegende körperliche Beeinträchtigungen hervorruft. Vor Abfassung des Entwurfs waren u.a. auch HIV-Ärzte sowie Aids-Gruppen konsultiert worden.