EKAF im Alltag – Drohkulisse oder Chance?

Welche Konsequenzen hat das EKAF-Statement zur Infektiosität bei erfolgreicher Therapie, für Positive, für die Betroffenengruppen, für die Prävention? Eine spannende Podiumsdiskussion befasste sich mit den Konsequenzen des EKAF-Statements für den Alltag.

Im Januar 2008 veröffentlichte die Eidgenössische Aids-Kommission EKAF ihr Statement (siehe ‚keine Infektiosität bei erfolgreicher Therapie ohne andere STDs‚). Ein Statement, das heftige Reaktionen von verschiedensten Seiten auslöste, von „endlich spricht jemand das aus …“ bis „das darf man doch nicht laut sagen …„. Anlässlich der Welt-Aids-Konferenz in Mexiko Stadt im August 2008 präsentierten Positive das Mexico Manifest, in dem sie forderten, das Statement anzuerkennen und zu einer offenen Debatte und uneingeschränkten Aufklärung zurück zu kehren.

‚EKAF – Konsequenzen für den Alltag?‘, unter diesem Titel fand am 13. September 2008 im Rahmen des Kongresses ‚HIV im Dialog‘ eine lebhafte Podiumsdiskussion zu dem Schweizer Statement statt. Unter Moderation von Corinna Gekeler (Berlin) diskutierten Michael Jähme (Köln), Götz Bähr, Matthias Hinz und Jens Ahrens (alle Berlin).

Podiumsdiskussion EKAF - Konsequenzen für den Alltag?
Podiumsdiskussion EKAF - Konsequenzen für den Alltag?

Das Bild von Positiven werde sich in der Gesellschaft in Folge des EKAF-Statements verändern, betonte Michael Jähme und verwies auf das große Potential an entstigmatisierender und Diskriminierung abbauender Wirkung, das mit dem EKAF-Statement genutzt werden sollte.
Auch kondomfreier Sex könne unter bestimmten Umständen safer Sex sein. Dies werde sicherlich die künftige Prävention komplizierter gestalten – aber da müsse sich die Prävention einer veränderten Realität anpassen. Zudem liege hierin doch auch die Chance, dass Positive nun einen noch größeren Anreiz hätten, auf ihre Gesundheit zu achten.

Götz Bähr wies darauf hin, dass das EKAF-Statement für eine kleine Gruppe eine neue Perspektive biete – nur denjenigen Positiven, die eine Kombitherapie machen. Dies seien vielleicht 30% aller Menschen mit HIV in Deutschland. Was sei mit den anderen? Entstehe nun ein Druck zu noch früherem Therapiebeginn? Vielleicht gar zu einem Therapiebeginn nicht aus medizinischen sondern epidemiologischen oder psychologischen Gründen? Zudem, Motor der HIV-Infektion seien diejenigen, die ungetestet aber mit HIV infiziert seien – eine Frage, die nicht außer Acht geraten dürfe, wo blieben hier die Test-Kampagnen?
Es müsse zudem im Fokus bleiben, dass HIV-Negative und Ungetestete sich weiterhin bemühen negativ zu bleiben. EKAF sei hier ein Moment zusätzlicher Sicherheit. Die Verantwortung dürfe jedoch nicht noch mehr einseitig auf HIV-Positive verschoben werden.
Zudem könne das EKAF-Statement dazu führen, dass der Druck auf Positive jetzt noch mehr wachse, sich zu offenbaren – vielleicht sogar mit ‚Offenlegung der Werte‘.

Matthias Hinz warnte vor der ‚Monogamie-Falle‘ – nirgends im EKAF-Statement wird Monogamie als Bedingung genannt, vielmehr heißt es in dem Artikel von Vernazza et al. „HIV-infizierte Menschen ohne andere STD sind unter wirksamer antiretroviraler Therapie sexuell nicht infektiös“. Zudem sehe er die Gefahr einer Re-Medikalisierung der Debatte, wenn z.B. in der Tendenz auch die früher von den Communities entwickelte und getragene Prävention (bei MSM) nun von ‚Experten‘, von Medizin und Pharma vereinnahmt werde.
Der Slogan ‚Kondome schützen‘ sei heute kaum noch situationsgerecht. Die Zeit der einfachen Botschaften sei vorbei; nicht nur die Zeit, auch die Bedrohung sei eine andere geworden. Er stelle die Prognose, der Slogan ‚Kondome schützen‘ werde irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft nicht mehr verwendet. Nicht etwa, weil er obsolet geworden sei, sondern weil er der Komplexität der Situation nicht mehr gerecht werde.

Hinz wies darauf hin, dass seit Jahrzehnten durch die Angst von Positiven, für andere eine Quelle der Ansteckung zu werden, weitaus mehr Neuinfektionen verhindert wurden als durch jedes Selbstschutz-Interesse von Nicht-Positiven oder Präventionskampagnen. Wenn diese oft stark übersteigerte Angst nun zumindest etwas auf ein realistischeres Maß zurückgeht, sei das im Interesse der Positiven zu begrüßen. Das Argument, dass die Prävention diese Angst zum Funktionieren braucht, sei vielleicht verständlich, es wäre aber unethisch und kontraproduktiv, diese (endlich) weniger werdende Angst künstlich am Leben halten zu wollen. Hier müsse sich die Prävention was anderes einfallen lassen, um mit den sich verändernden Umständen umzugehen.

Immer wieder war in den Diskussionen die vielfach wahrnehmbare Angst Dritter (z.B. aus Politik und Verwaltung) Thema, „wir (die Positiven) könnten unsere Angst verlieren, andere zu infizieren“. Werde hier versucht eine Angst zu Lasten von Menschen mit HIV aufrecht zu erhalten, um nur nicht an alten Präventionskonzepten rühren zu müssen?
„Ich stelle mich als HIV-Positiver nicht mehr als Drohkulisse zur Verfügung!“, kommentierte dazu Michael Jähme. Überall freue man sich über Fortschritt in der HIV-Forschung – warum ausgerechnet hier nicht?

Eine spannende, inhaltlich sehr dichte und facettenreiche Diskussion – dank pointierter wie auch kenntnisreicher Beiträge der Diskutanten und besonders der intensiven Vorbereitung und guten Moderation durch Corinna Gekeler. Vielleicht beteiligen sich beim nächsten Mal auch die anwesenden Vertreter aus Politik und Verwaltung an der Diskussion?

‚Die Debatte um die Bedeutung des EKAF-Statements wird nur weiter gehen, wenn wir uns selbst darum kümmern‘, hatte Michael Jähme zu Beginn der Diskussion betont. Diese Veranstaltung wies einen guten Weg, wie Debatten inhaltsreich weiter geführt werden können – ohne Polemik, aber mit kontroversen Themen und Diskussionen.

(k)ein Ausflug in’s Grüne

Isoliertes Leben, schlechte Versorgungssituation, Gefahr von Diskriminierung und Stigmatisierung – die Situation von HIV-Positiven ‚auf dem Land‘ ist u.U. nicht einfach. Dies wurde bei einer Podiumsdiskussion am 13.9.2008 deutlich.

Ein Ausflug in’s Grüne?„, unter diesem Titel lud eine Veranstaltung im Rahmen des Kongresses ‚HIV im Dialog‘ am 13. September 2009 zu Diskussionen über die Lebens- und Versorgungssituation von HIV-Positiven auf dem Land. Auf dem Podium diskutierten unter Moderation von Bettina Hintsche (HIV-Schwerpunktpraxis, Berlin) der HIV- und Aids-Seelsorger Ernst-Friedrich Heider (Hannover), Dr. Thoms Seidel (Uniklinik Jena) und Roy Rietentidt (Aidshilfe Westmecklenburg).

HIV-Patienten auf dem Land leben oftmals sehr isoliert, betonte B. Hintsche, alles sei sehr familiär, vieles werde schnell weiter erzählt – da drohe mit HIV schnell Isolierung. E.-F. Heider ergänzte, dies treffe nicht nur HIV-Positive – selbst wenn man sich um HIV-Positive kümmere, Aids-Hilfen besuche, werde man sofort leicht mit Aids in Verbindung gebracht, ein Spießrutenlauf drohe.
Diese Wahrnehmung forderte den Protest einer Zuhörerin heraus, die betonte, es gebe nicht ‚das Land‘, sondern auch dort gebe es vielfältige Erfahrungen, auch auf dem Land sie ein angenehmes Leben als HIV-positive Frau möglich, so ihre Erfahrung. Dies erfordere allerdings ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein.

Prof. Seidel, der über die Situation in Thüringen und an der Uniklinik Jena berichtete, betonte hier seien auch die Ärzte selbst gefragt, die sich die Frage stellen müssten wie sie sich mehr dafür einsetzen könnten dass Positive zuversichtlicher werden und allgemein die Situation in Sachen HIV auf dem Land sich verändere.

Über erstaunliche Erfahrungen auf dem Land berichtete Roy Rietentidt von der Aidshilfe Westmecklenburg (Wismar). So habe man 2006 geplant, den ‚missio aids truck‘ nach Wismar zu holen. Der Vertrag sei bereits abgeschlossen gewesen – wurde jedoch gekündigt, nachdem missio bewusst wurde, dass der Veranstaltungsort ein Schwulen- und Lesbenzentrum sei.

Widrige Umstände seien jedoch auch ‚hausgemacht‘. So habe die Aidshilfe Werstmecklenburg vom Land z.B. die Vorgabe bekommen, auf den Fahrzeugen den Schriftzug ‚Aids-Beratung‘ anzubringen.  Die gerade angesichts der bereits dargestellten Situation erforderliche Diskretion auf dem Land sei dadurch unmöglich,  einer Stigmatisierung von Klienten werde potenziell Vorschub geleistet. Erst nach massiven Internventionen sei nun mit abnehmbaren Magnetschildern ein gangbarer Mittelweg gefunden worden.

Zur HIV-Versorgung merkte Rietentidt an, viele Ärzte hätten vermutlich eine nur sehr geringe Motivation zu HIV-Fortbildungen, schon da sich dies für sie finanziell nicht rechne.

Rietentidt sprach sich dafür aus, Versorgungsstrukturen zu schaffen zur Gewährleistung einer angemessenen Behandlungssituation, z.B. eine Einrichtung von Schwerpunkt-Praxen mit kompetenten Ärzten. Die Patienten bräuchten jetzt Hilfe, nicht erst in 5 Jahren – mit diesem Argument betonte er die Notwendigkeit, jetzt zu handeln, statt weiter auf Gespräche mit Ärztefunktionären, Weiterbildung etc. zu setzen.
Dies sei rein aus dem Aids-Bereich heraus schwierig – andererseits träten auch bei anderen Indikationen ähnliche Problemstellungen auf. Aus diesem Grund arbeite er an einem Netzwerk mit Vertretern mehrerer Erkrankungen (z.B. Onkologie) zur gemeinsamen Problemlösung.

Intensiv war in der Veranstaltung wahrzunehmen, wie stark die Lebenssituation  von Menschen mit HIV und Aids auf dem Land in einigen Regionen eingeschränkt ist, wie ‚unter aller Würde‘ sich die Versorgungssituation teilweise darstellt. ‚Lieber kein zu langer ‚Ausflug ins Grüne‘, kann da fast nur das Resüme lauten …

Viele Probleme wurden benannt – leider aber meist auch nicht mehr. Einen hohen Anteil an ‚late diagnosis‘ auf dem Land zu monieren z.B. ist das eine – spannender wäre es, hier auch  nach Lösungsansätzen zu suchen, wie dem begegnet werden kann. Dabei werden innovative Lösungsansätze durchaus auch ‚auf dem Land‘ entwickelt: spannende Versuche einer Kooperation mit Vertretern verschiedener Gruppen scheinen z.B. ein spannender Ansatz zu sein, neue Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln.

Wie schade zudem, dass in dieser Veranstaltung wieder einmal der Mythos von den verantwortungslosen Schwulen heruntergebetet werden musste … von eine Podiums-Teilnehmer …

Podiumsdiskussion HIV & Alter

‚Älter werden mit HIV‘ – eine nicht nur medizinische Herausforderung, sondern auch viele Positive bewegendes Thema, wie eine Podiumsdiskussion am 13. September in Berlin zeigte.

Im Rahmen des Kongresses ‚HIV im Dialog‘ fand am Samstag, 13.9.2008 eine Podiumsdiskussion unter dem Thema ‚HIV und Alter – Herausforderungen aus medizinischer und psychosozialer Sicht‚ satt. Es diskutierten unter Moderation von Stefan Reck (Berlin): Dr. Christoph Mayr (Berlin), Hardy Selzer (Berlin), Michael Jähme (Köln) und Torsten Denter (AVK Berlin).

Podiumsdiskussion HIV und Alter
Podiumsdiskussion HIV und Alter

Dr. Mayr berichtet ausführlich insbesondere über die medizinische Situation bezüglich HIV und Alter. Alter, das heißt dabei medizinisch: über 50 Jahre alt zu sein…
Die CDC (Centers for Disease Control, USA) berichten über eine 5fache Zunahme des Anteils der Menschen über 50 Jahren an der Gesamtzahl der Menschen mit HIV von 1990 bis 2000. Einer der Gründe ist eine eigentlich erfreuliche Errungenschaft: während Positive früher eine vergleichsweise kurze Lebenserwartung hatten, ist diese seit Zeiten erfolgreicher Therapien deutlich gestiegen. Zudem steigt die Zahl der HIV-Neudiagnosen bei Menschen über 50 Jahre.

Gesundheitliche Probleme im Kontext von HIV und Alter bewegen sich potenziell in einem Feld. das durch die Begriffe HIV/Aids, Kombitherapien mit ihren Neben- und Langzeitwirkungen, physiologische Folgen des Alterns sowie Komorbiditäten (zusätzlich zur Grunderkrankung vorliegende Erkrankungen) beschreiben lässt.
Dabei sei zu beachten, dass der virologische Therapieerfolg (Veränderung der Viruslast) einer wirksamen Kombitherapie im Alter durchaus mit dem in jüngerem Lebensalter vergleichbar sei, die Adhärenz sei oftmals sogar besser als bei jüngeren Menschen. Allerdings sei die immunologische Wirkung (Veränderung der CD4/CD8-Werte) oftmals nicht vergleichbar gut, u.a. da das Immunsystem allgemein im Alter schwächer werde (z.B. verringerte Thymus-Funktion, geringere Anzahl naiver Zellen).

Wichtige Komorbiditäten im Kontext HIV und Alter seien u.a. koronare Herzerkrankungen, das metabolische Syndrom / Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz, Osteopenie und Osteoporose, Malignome sowie Demenz und neuropsychologische Störungen. Diese Komorbiditäten haben bei HIV eine besondere Bedeutung, da sie tendenziell (im Vergleich zu nicht HIV-Infizierten) mit HIV häufiger auftreten.

Koronare Herzerkrankungen seien allerdings gut vorhersehbar, betonte Dr. Mayr. Wichtig seien hierbei wenige, konkret benennbare Faktoren: Alter, LDL- und HDL-Cholesterin, Triglyceride, Diabetes mellitus, familiäre Belastung, Blutdruck und insbesondere auch Rauchen.

Mit der Bemerkung „es ist nicht nur die Frage, wie alt wir werden, sondern auch wie wir alt werden“ illustrierte Dr. Mayr die Bedeutung, die Sport für ein gesünderes längeres Leben mit HIV haben kann.

In der Versorgung Positiver müsse sich der Arzt zunehmend auch den ‚ganz normalen‘ internistischen Erkrankungen zuwenden und auch hier kompetent sein. Für eine Betreuung HIV-positiver Patienten komme der adäquaten Krebs-Vorsorge zudem eine immer stärkere Bedeutung zu. Insbesondere die Zahl der nicht-HIV-definierenden Krebserkrankungen steige an.

Michael Jähme forderte Positive dazu auf, mehr an Fragen des Alterns zu denken, und selbst aktiver zu werden, auch dem eigenen Arzt gegenüber.

Torsten Denter wies darauf hin, dass im psychologischen Bereich bisher kaum Fakten zum Thema HIV und Alter vorliegen. Die Frage stelle sich, was ist die ’natürliche Angst vor dem Älterwerden‘,  und was sei zusätzlich durch HIV bedingt? Wichtig sei hierbei auch die Frage der selbst-Aktivität, des nicht Verharrens in Rückzug und Isolation, sondern der eigenen Aktivierung.

„Mein Körper ist alt, aber ich fühle mich noch nicht alt!“, darauf wies eine weibliche Zuhörerin hin. Sie beschrieb damit weit mehr als ’nur‘ ein etwaiges Gefühl, dass ‚gefühltes Alter‘ und ‚Ausweis-Alter‘ nicht überein stimmen. Besonders bei positiven Frauen mehren sich Hinweise, dass der körperliche Alterungsprozess in früherem Stadium und ausgeprägter als bei nicht HIV-infizierten Frauen einsetzt.

Eine „zunehmende seelische Erschöpfung“ wurde aus dem Publikum betont. In der Diskussion entspann sich daraus auch die Frage, wie gehen wir in unseren eigenen Communities mit einander (und  mit ‚Alter‘) um, sowie das Spannungsfeld ‚ausgegrenzt werden‘ vs. ’sich selbst ausgrenzen‘.

Die große Anzahl an Teilnehmern wie besonders auch die intensiven Diskussionen zeigten deutlich, dass das Thema ‚HIV und Alter‘, das auf medizinischen Kongressen bereits seit einiger Zeit intensiver diskutiert wird, inzwischen auch bei den Positiven massiv angekommen ist. Es besteht deutlicher Informations- und Diskussions-Bedarf, dieser Eindruck lag auf der Hand.

weitere Informationen:
HIV und Alter
Vortrag von Dr. Mayr als pdf hier
Ein Text von Michael Jähme ‚HIV und Aids werden alt“ als pdf hier
Bericht über die Workshops ‚HIV und Alter‘ I und II sowie ‚Alles unter einem Dach – In Würde alt werden‚ bei alivenkickn
Blog-Posts von Termabox ‚Jenseits der Miflife-Krise – Alt werden mit HIV‚ sowie über eine bundesweite Studie zum Thema ‚älter werden mit HIV‘.

Virus-Mythen 2: verantwortungslose Schwule

Samstag 13. September 2008, ein recht kleiner Kreis von Menschen diskutiert während der Konferenz ‚HIV im Dialog‘ über die Versorgungssituation HIV-Positiver auf dem Land.
Völlig zusammenhanglos (diskutiert wird gerade die ärztliche Versorgung auf dem Land) ist plötzlich vom Podium, von einem der Referenten der Satz zu hören:

„In Hannover ist es übrigens gerade in Mode, nach Berlin zu fahren um sich infizieren zu lassen.“

Etwaiger lauter Protest ist aus dem Publikum oder vom Podium nicht zu vernehmen.

(Pastor Ernst-Friedrich Heider, / Aids-Pastor, HIV/AIDS-Seelsorger in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers und Regionalkoordinator Nord des Aktionsbündnisses gegen Aids)

Leider taucht derartiger Unsinn immer wieder in Debatten, Foren, Stammtisch-Runden auf.

Spannend ist ja zunächst, was der Erzähler dieser Märchen damit sagen will.
Sind die Züge von Hannover nach Berlin voll mit jungen attraktiven Menschen, zutiefst bereit sich in Berlin hemmungslos in die Sünde zu begeben, wissentlich darin sich größtes Leid zu holen?
Ist in Hannover so wenig los? Kann man sich gar in Hannover überhaupt nicht mit HIV infizieren und muss dazu reisen?
Oder sind Hannoveraner dazu nur zu unwissend?
Oder die Aids-Hilfe vor Ort besonders unfähig oder untätig?
Oder meint der Erzähler, gerade Berlin sei das große Sünden-Babel Deutschlands? Erst recht für unschuldige Hannoveraner?
Wahr ist vermutlich nichts davon, nicht einmal letzteres.

Indirekt aber wird damit vielleicht ganz anderes gesagt, ob absichtlich oder nicht. Seht her, die Schwulen sind so blöde, so dermaßen verantwortungslos, wenn nicht gar menschenverachtend, die wollen sich sogar schon absichtlich infizieren. Oder: soweit haben wir es schon kommen lassen, dass die Schwulen gar keine Angst mehr vor Aids haben (sondern es toll finden, infiziert zu sein).

Derartige Mythen von  verantwortungslosen Schwulen, ebenso wie der Mythos von verantwortungslosen Positiven immer wieder gerne kolportiert, sind im Kern zutiefst schwulen- und positiven-feindlich.
Sie befördern unterschwellig Diskriminierung und Stigmatisierung – und schaffen ein Klima, das populistische Parolen begünstigt.
Information, Prävention hingegen enthalten derartige Mythen nicht.

Warum werden solche Märchen immer noch laut kolportiert, und das gerade auch auf einem Aids-Kongress? Und niemand widerspricht?

Dass dieses Märchen im aktuellen Fall gerade von einem Kirchen-Vertreter kolportiert wird (auf dessen Internetauftritt zudem steht die Aids-Seelsorge sehe „sich herausgefordert im Kampf gegen Vorurteile und Stigmatisierungen„), hat dazu noch einen besonders faden Beigeschmack. Auch wenn Pastor Heider sich oftmals differenziert äußert und für zahlreiche Projekte (wie z.B. heroingestützte Therapie) einsetzt (und sicher nicht mit ‚Gloria‘ zu vergleichen ist) – ein derartiger Lapsus ist m.E. nicht nur peinlich, sondern unentschuldbar.