Zum Thema „Bilderstreit – über Stigma, ein abgehängtes Bild und Toleranz“ im Folgenden ein Artikel des neuen ondamaris-Mit-Autors Matthias Hinz:
Ländliche Polit-Posse oder klein(geistig)e Kunst-Zensur?– irgendwie ist es von beidem etwas, was sich neulich in der Schwaben-Metropole Stuttgart zugetragen hat.
Die Stadt Stuttgart hat die „größte Selbsthilfekonferenz Europas“ (Programmheft) zu sich ins Rathaus eingeladen, die von der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) veranstalteten „Positiven Begegnungen 2009“. Und da es offenbar noch immer keine Selbstverständlichkeit ist, „so eine“ Veranstaltung in der guten Stube der Stadt willkommen zu heißen, sei es auch hier lobend bemerkt.
Man ist freundlich und offen zu den über 400 (meist HIV-positiven) Gästen, der Oberbürgermeister übernimmt die Schirmherrschaft, und zur Eröffnung gibt es warme Worte der Bürgermeisterin Müller-Trimbusch.
Das Schwerpunkt-Thema der Konferenz ist „Stigmatisierung und Diskriminierung“, und so erklärt denn die Bürgermeisterin auch:
„Die Entstigmatisierung von Menschen mit HIV und AIDS ist eine der großen Aufgaben der nächsten Jahre. (…) Die Stadt Stuttgart unterstützt dieses Anliegen (…) Dass die Konferenz hier im Rathaus stattfindet, unterstreicht die besondere Bedeutung, die wir dem Thema beimessen.“
Alles sehr gut, sehr schön und wunderbar! – wäre da nicht diese peinliche Posse am Rande; am Rande zwar, aber doch mitten im Thema der Konferenz:
Noch vor Beginn der Veranstaltung, während draußen auf dem Platz die Fahnen der Aidshilfe gehisst werden, kommt es drinnen im Rathaus zum Eklat.
Im Foyer wird die Konferenz-Ausstellung „Bilder eines Stigmas“ von den Amtsträgern begutachtet und stößt auf Mißfallen.
(„Das Stigma ruft Ablehnung, Beklemmung oder Unbehagen bei Dritten hervor.“ Programmheft)
Bürgermeisterin Müller-Trimbusch verlangt vom Veranstalter DAH, daß etliche Fotos abgehängt werden müssen, so etwas ginge in einem schwäbischen Rathaus nicht.
Mit „so etwas“ sind Bilder von Frauen gemeint, die den Mut haben, sich und ihr Stigmatisiertsein zu zeigen, zu inszenieren, und damit offensiv und selbstbewußt ihre Würde und ihre Schönheit dem Stigma entgegen zu stellen.
Wunderbare Bilder einer begabten Photografin. Und, ja: diese Frauen sind teilweise unbekleidet!
(„In aller Regel versuchen Menschen, die von Stigmatisierung betroffen sind, sich ‚unsichtbar zu machen’. D.h. sie verbergen die sie stigmatisierenden Merkmale.“ Programmheft)
Nur kurz unterbrochen vom oben zitierten Auftritt der Bürgermeisterin bei der Eröffnungsveranstaltung, geht hinter den Kulissen der Tagung das Ringen zwischen Rathaus und Aidshilfe weiter. Die Frage ist: wieviel Entstigmatisierung verträgt die Gastfreundschaft des Rathauses? Das Ergebnis: die Bilder „dürfen“ doch gezeigt werden, alle, bis auf eines!
Dazu wird der anfänglich vorgeschobene Vorwurf des Sexismus nun von der Bürgermeisterin fallengelassen, und ersetzt durch den Hinweis, die religiösen Gefühle von Minderheiten schützen zu wollen.
(„Der Vorgang der Stigmatisierung verläuft häufig auf der Ebene von Vorurteilen und Klischees.“ Programmheft)
Und also geht das peinliche Theater des Rathauses weiter: der Hinweis „Zensiert“, welchen die Aidshilfe an die Leerstelle gehängt hat, die das zensierte Bild in der Ausstellung hinterlassen hat, wird von diensttuenden Geistern immer wieder entfernt. Man fürchtet um den guten Ruf der Stadt, der dadurch aber nur noch mehr Blessuren bekommt.
Der Ton verschärft sich, und schließlich steht die Drohung des Rathauses im Raum, die gesamte Ausstellung zwangsweise abzubauen, schlimmstenfalls auch die Konferenz einfach zu beenden.
(„Stigmatisierung und Diskriminierung gehen in der Regel Hand in Hand.“ Programmheft)
An diesem Punkt kommen einige Konferenzteilnehmer der DAH ungebeten und auf eigene Faust zu Hilfe und informieren durch kleine Aushänge überall im Rathaus über den Vorfall.
(„Engagierte Selbsthilfegruppen und funktionierende Netzwerke sind unverzichtbar.“ Programmheft, Grußwort der Landessozialministerin Stolz)
Es kommen Gespräche unter den Teilnehmenden über die Ausstellung und das Verhalten des Rathauses in Gang ( – gottseidank aber ohne die eigentliche Arbeit zu übertönen, schließlich ist es nur ein Randgeschehen). Unverständnis und eine gewisse Empörung machen sich Luft.
(„Damit machen sie vielen Menschen Mut und helfen mit, dass sachgerechte und auf Erfahrung basierende Entscheidungen getroffen werden können.“ Programmheft, Grußwort der Landessozialministerin Stolz)
In der folgenden Plenarsitzung erläutert nun der DAH-Vorstand (der die Sache bisher aus Rücksicht auf die Gastfreundschaft hinter den Kulissen ausgefochten hat) den 400 Teilnehmenden die Vorgänge.
Das inkriminierte Foto, das ohne das ganze Theater dezent unter zwanzig anderen in der Ausstellung gehangen hätte, strahlt jetzt als 12 Quadratmeter-Diashow im Großen Sitzungssaal und wird vom Publikum mit ausgiebigem Beifall bedacht.
(„ Sich dem Fremd- und Selbststigma zu stellen, erfordert Mut und eine gewisse Kraft zur Auseinandersetzung. Am Ende des Prozesses kann jedoch eine neu gewonnene (innere) Freiheit stehen, die mehr Unabhängigkeit, Selbstzufriedenheit und Identitätsstärkung beinhaltet.“ Programmheft)
Kann man nun aus dieser Posse etwas lernen?
Zumindest hat sich einmal mehr gezeigt, daß sich Zensur nicht lohnt, daß sie im besten Fall sogar – wie hier – den Zensor bloßstellt.
Und für die Aidshilfe war es gewiss gut, wieder einmal zu erleben, daß sie sich gegen Versuche, ihre Arbeit aus sachfremden (meist parteipolitischen) Gründen zu behindern, erfolgreich wehren kann – mit Unterstützung ihrer „Zielgruppen“.
Insofern gehört auch dieser kleine „Bilderkampf“ zu den fruchtbaren Erlebnissen, die die Schwabenmetropole möglich gemacht hat.
Ob aber im Stuttgarter Rathaus auch etwas gelernt wurde, ist zu bezweifeln…