Bundestag verabschiedet Gesetz zur Regelversorgung mit Diamorphin

Bundestag verabschiedet Gesetz zur Regelversorgung mit Diamorphin – Deutsche AIDS-Hilfe: Gesetz ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einer praxisnahen Versorgung Heroinabhängiger

Berlin, 28.05.2009. Der Deutsche Bundestag hat heute mit deutlicher Mehrheit einer Veränderung des Betäubungsmittelgesetztes zugestimmt: Damit ist die seit Jahren von der Deutschen AIDS-Hilfe geforderte gesetzliche Grundlage geschaffen, um die Behandlung mit Diamorphin in den Katalog der Regelversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung bundesweit aufzunehmen. Mehrjährige wissenschaftliche Studien in sieben Städten haben belegt, dass es Heroinabhängigen besser geht und sie stabilisiert, wenn sie unter strengen Auflagen regelmäßig mit künstlich hergestelltem Heroin (sog. Diamorphin) behandelt werden.

Dazu erklärt Hansmartin Schön, Bundesvorstand der Deutschen AIDS-Hilfe e.V. (DAH):

„Die Veränderung des Betäubungsmittelgesetzes und die hiermit verbundene Einstufung von Diamorphin als verschreibungsfähiges Medikament rettet Menschenleben. Der entscheidende Durchbruch ist die Umwandlung eines Straftatbestandes in eine verschreibungspflichtige Behandlung. Gerade die Heroinabhängigen, bei denen alle anderen Behandlungsoptionen nicht den gewünschten Erfolg brachten und die bisher unter menschenunwürdigen Bedingungen leben mussten, bekommen nun eine Möglichkeit, den Ausstieg aus dem Kreislauf von Illegalität und Beschaffungskriminalität zu finden. Nun gilt es, zügig im gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) die Kriterien für die Abrechenbarkeit der heroingestützten Substitutionsbehandlung festzulegen, damit weitere Städte Anträge bei den entsprechenden Landesbehörden stellen können.“

„Dieser Schritt war längst überfällig“, ergänzt Dirk Schäffer, Referent Drogen und Strafvollzug in der DAH: „Im Sinne schwerkranker Menschen haben fachliche und ethische Überlegungen nun Vorrang vor Parteitaktik und ideologischen Schranken gewonnen. Die DAH bedankt sich bei allen Bundestagsabgeordneten, die dazu beigetragen haben, dass sich nun endlich eine Parlamentsmehrheit für das seit Jahren von uns geforderte Gesetz gefunden hat.“

(Pressemitteilung der Deutschen Aids-Hilfe vom 28.05.2009)

eine Karte an Frau Merkel

Die heroingestützte Behandlung Opiatabhängiger hat im bisherigen Modellprojekt nach Überzeugung aller Beteiligten ihren Erfolg gezeigt. Doch Unionspolitiker gefährden nun eine Fortsetzung des erfolgreichen Modells. Eine Postkarten-Kampagne soll auf die Erfolge aufmerksam machen.

Seit dem 2002 initiierten Modellprojekt können Schwerstabhängige statt mit Methadon auch mit Heroin behandelt werden. Die das Projekt begleitenden Forscher, Fachverbände, Selbsthilfe, Wohlfahrts- Verbände wie auch die am Projekt beteiligten Städte sind (unabhängig von ihrer politischen Couleur) der Überzeugung, dass das Projekt erfolgreich ist.

Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass eine heroingestützte Behandlung

  • die gesundheitliche und soziale Situation verbessert,
  • illegalen Drogenkonsum und Delinquenz reduziert, und
  • die Wohn- und Arbeitssituation verbessert.

Doch dieses erfolgreiche Modellprojekt ist nun gefährdet. Unionspolitiker (unter ihnen auch der u.a. durch seinen Aids-Antrag bekannte Jens Spahn) verweigern eine Fortsetzung. Wollen mit aller Macht, entgegen aller positiven Ergebnisse aus ideologischen Gründen verhindern, dass Heroin für bestimmte Anwendungsfälle als Medikament anerkannt und in die Regelversorgung übernommen wird.

Da der Widerstand nur aus Teilen der CDU/CSU- Bundestagsfraktion kommt, soll nun mit einer bis Ende August laufenden Postkarten-Aktion Bundeskanzlerin Merkel aufgefordert werden, die heroingestützte Behandlung abzusichern.
HeroinKarteDie Angaben auf den Karten sind authentisch: die Zitate sind von DrogengebraucherInnen, die mit Heroin behandelt werden, selbst Ort und Vorname sind real. Nur die dargestellten Personen sind Modelle. Die Karten sind über die Aidshilfen erhältlich.

Repressive Mottenkiste im Bundestag

Am Freitag hat der Bundestag in einer weniger als einstündigen (von Phoenix live übertragenen) Sitzung einige Anträge zur Aids-Politik beraten und beschlossen.

Neben dem Aids-Aktionsplan der Bundesregierung stand dabei auch ein Antrag zahlreicher Abgeordneter (bes. Jens Spahn/CDU) sowie der Fraktionen von CDU/CSU und SPD zur Abstimmung.

Jens Spahn (CDU) ging -geschmückt mit einem Red Ribbon- insbesondere auch auf den von ihm mit initiierten Antrag ein. Er betonte die ‚große Einigkeit bei diesem Thema – im Grundsatz zumindest‘.
Er sprach dabei munter von ‚dramatisch steigenden Infektionszahlen‘, und von ‚Risikogruppen‘ (und nicht etwa ‚Betroffenengruppen‘), als ginge von Schwulen, DrogengebraucherInnen oder Frauen per se ein Risiko aus. Zudem betonte er zum Thema der Selbstverpflichtung bei ‚Anbietern anonymer sexueller Kontakte‘, dass in Großstädten ’stark steigende Infektionszahlen‘ festzustellen seien.

Spahn betonte im Vorgriff auf vermutete Äußerungen von seiten Becks (Grüne) und Parrs (FDP), ihm ginge es nicht um die Kriminalisierung Einzelner, sondern darum die Partybetreiber zu erreichen.

Die meisten folgenden Redner der Debatte gingen mehr auf verschiedene Aspekte des Aids-Aktionsplans ein, lobten die Regierung und betonten einzelne Lücken wie das Fehlen des Themas Heroinvergabe für Schwerstabhängige (Bender/Grüne; nebenbei: eben jener Spahn ist ebenfalls einer der deutlichen Gegner auch der Heroinvergabe) oder illegalisierte MigrantInnen (Knoche/Linke).

Auffällig war quer durch die Beiträge aller Redner, dass keiner der Abgeordneten es schaffte, zwischen der Zahl der Neu-Diagnosen und der der Neu-Infektionen zu unterscheiden.

Besonders erstaunlich war der Beitrag der Abgeordneten Knoche (Die Linke. PDS). Sie (die früher immerhin einmal Gesundheitsexpertin und drogenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag war, bevor sie als Parteilose stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken wurde) bezeugte die ‚Anerkennung‘ ihrer Fraktion für den Aids-Aktionsplan der Bundesregierung und sprach von einem ’sehr guten Bericht‘. Kurz wurde kritisch auf die patentrechtliche Situation eingegangen. Zum Spahn-Antrag: nichts.

Fast folgerichtig, dass die Fraktion ‚Die Linke‘ sich bei der Abstimmung über diesen Antrag (16/4111) der Stimme enthielt. Hat die ‚linke‘ ‚Opposition‘ hierzu keine Meinung? Oder teilt sie etwa stillschweigend gar Spahns Ansichten?

Es blieb den Abgeordneten Bender und Beck von den Grünen vorbehalten, besonders zum Spahn-Antrag auch inhaltlich kritische Anmerkungen zu machen. Frau Bender bezeichnete Spahns Vorschläge als „Griff in die Mottenkiste der Repression“. Zu einer Infektion gehörten immer mindestens zwei Beteiligte. Sie nahm sein so gern zitiertes Beispiel der Österreichischen und Schweizer Maßnahmen auseinander: die Neuinfektions-Zahlen pro Million Einwohner lägen dort mit 55 und 95 deutlich über den deutschen (32) – und daran solle man sich ein Beispiel nehmen? (Spahn reagierte darauf mit dem Hinweis, selbst die österreichische Aidshilfe betone, wie unterstützend die dortigen Maßnahmen seien. Gekontert von Bender, wie wenig erfolgreich dies bei der Senkung der Neuinfektions-Zahlen sei).

Beck betonte (unter Beifall auch von Parr/FDP), man solle das Strafrecht beiseite lassen und Prävention und den realistischen Umgang mit Gefährdungs- Situationen in den Vordergrund stellen, nicht Tabus aufbauen.

Nach Abschluss der Debatte wurde der Spahn-Antrag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD angenommen, bei Gegenstimme der Grünen und Enthaltung der FDP und der Linken.

Dies bedeutet in der Umsetzung nun u.a., dass

  • die bisherigen Präventions- Kampagnen weiterentwickelt werden sollen, einschließlich neuer Ansätze bei Migranten (der Antrag nennt nur die männliche Form) sowie zu ‚bare backing‘

  • Private-Public-Partnerships (in dieser Reihenfolge) in der HIV-Prävention wohl ausgebaut werden, einschließlich Beteiligung der Pharmaindustrie

  • der Druck auf ‚Anbieter von Orten sexueller Begegnung‘ erhöht wird, Kondome und Gleitmittel auszulegen, sowie auf Werbung und Unterstützung für unsafen Sex ‚vollständig‘ zu verzichten (womit Anbieter von sog. Bareback- oder ‚Biohazardmen‘- Parties nun wohl auf sehr dünnem Eis stehen dürften und auch z.B. Saunen- und Darkroom-Betreiber mit neuen Problemem rechnen könnten).

Nach zwei Jahren soll dies in einem Bericht geprüft werden, ggf. sind Vorschläge für eine rechtliche Regelung (!) vorzubereiten.
Zudem soll die Bundesregierung prüfen, ob die (wie von Bender dargestellt ja so Infektionszahlen-senkenden) Erfahrungen aus Österreich und der Schweiz bei der Verschärfung des Strafrechts in Deutschland handhabbar wären zur ‚Eindämmung der kommerziellen Angebote von ungeschützem Sex‘.

Wieder ist also ein Schritt mehr zu einer repressiveren Aids-Politik in Deutschland zu konstatieren. Ein Schritt, den der Bundestag mit großer Mehrheit und kaum Widerspruch vollzog.

Nebenbei bemerkt: es fiel auf, dass sowohl der Abgeordnete Parr (FDP) als auch eben jener Spahn (CDU) sich für das Kompetenznetz und dessen Kohortenstudie stark machten. Das scheint das Kompetenznetz gute Lobbyarbeit geleistet zu haben. Auf welchen bedeutenden Projektergebnissen oder wichtigen Forschungsergebnissen des Kompetenznetz hingegen die positive Einschätzung seitens der beiden Politiker beruht, blieb ungenannt. Auch strukturelle Probleme und die Fragen rund um den Datenschutz in der Kohortenstudie blieben unberührt.

Materialien:
Links auf die Bundestagsdrucksachen gibt’s in diesem früheren Posting

Gesundheit: weitere Rückwärtsrollen …

Die Zahl der Fälle, in denen gegen Positive juristisch vorgegangen wird, steigt. In Großbritannien, wo eh schon zahlreiche Positive verurteilt wurden, ist nun ein weiteres Urteil bekannt geworden.

Ein 38jähriger Italiener wurde in Glasgow wegen bewusster Übertragung von HIV und Hepatitis C verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen seine frühere Freundin infiziert zu haben, indem er bewusst keine Kondome verwandte.
Erstmals erfolgte damit in Großbritannien eine Verurteilung auch aufgrund einer Infektion mit Hepatitis C, wie Aidsmap berichtet.

Eine fahrlässige oder vorsätzliche Infektion mit HIV ist auch in Deutschland bereits seit langem strafbar. Auch erfolgen Verurteilungen wegen HIV-Infektion, i.d.R. mit der Anklage der fahrlässigen Körperverletzung.

Dennoch planen Politiker, unter ihnen mit federführend der CDU-Obmann im Gesundheitsausschuß Jens Spahn (26), eine weitere Verschärfung der Gesetzeslage: ein Gesetz gegen fahrlässige HIV-Verbreitung befindet sich auf dem parlamentarischen Weg (derzeit in den Ausschüssen).

Spahn ist auch beteiligt an der ablehnenden Haltung der CDU-Bundestagsfraktion zur Heroin-Abgabe an Schwerstabhängige. Es gehe darum, keine harte Droge zu enttabuisieren oder zu legalisieren, so Spahn (z.B. gegenüber N24 oder via Tagesspiegel, außerdem sei eine Heroin-Therapie zu teuer. Spahn stellt sich damit selbst gegen Politiker aus der eigenen Partei, die an erfolgreichen Modellprojekten beteiligt sind und auf deren Fortführung dringen.

Spahn, der u.a. auch Mitglied der ‚Kerntechnischen Gesellschaft‘ und des ‚Förderkreises deutsches Heer‘ ist, der auch an der umstrittenen parteiübergreifenden Initiative ‚Generationen- Gerechtigkeit‘ einiger Jung-Parlamentarier beteiligt war, als weiteres Anzeichen dafür, wie Aids- und Gesundheitspolitik insgesamt nach und nach in immer konservativeres Fahrwasser gerät?