Was bedeutet Solidarität? Ganz allgemein, und unter uns Positiven? Hat jede/r HIV-Positive erst einmal meine Solidarität? Ein Interview mit Michèle Meyer.
Michèle Meyer ist Präsidentin von LHIVE, der Schweizer Organisation für Menschen mit HIV und Aids, und hat u.a. die Welt-Aids-Tags-Rede 2009 in der Frankfurter Paulskirche gehalten: „Wenn Würde nicht gleich Würde ist – ein Spagat„.
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Michèle, Solidarität – was heißt das für dich, zunächst ganz allgemein?
Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker.“ (Che Guevara)
Solidarität ist für mich ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Ein Prinzip der Mitmenschlichkeit. Es kann und soll auch in Haltung und Handlung erkennbar sein, bzw. praktisch werden. Es heißt für mich: für einander eintreten, sich gegenseitig helfen, aus „freien Stücken“.
‚Aus freien Stücken‘ – heißt das auch, Solidarität ist ‚bedingungslos‘?
Oder muss man sich den Anspruch auf Solidarität vorher ‚erwerben‘?
Das ist wie mit der Würde, nicht? Ich meine, Solidarität als Grundlage/ Grundhaltung ist bedingungslos.
Wenn sich jedeR die Solidarität zuerst verdienen muss, werden wir uns kaum einig wem sie gebührt, geschweige denn wie sie zu verdienen wäre.
Genauso vehement, wie wir eintreten für unsere Diversität, den Reichtum unserer Vielfalt, und genauso vehement wie wir nicht hinnehmen in Verallgemeinerungen oder normativen Zwängen unterzugehen, genauso vehement müssen wir, meiner Meinung nach, Solidarität für alle Menschen mit HIV/AIDS einfordern und praktizieren, auch innerhalb der Communities.
Sonst sind wir nicht nur unglaubwürdig und selbst ausgrenzend, sondern leisten einen gehörigen Beitrag zu den diversen Versuchen von Seiten der Regierungen, Gesundheitssysteme und der Öffentlichkeit, uns mit „divide et impera“ [lat., „teile und herrsche“; politische Strategie den Gegner in Untergruppen aufzuspalten, damit er leichter beherrschbar ist; d.Hg.] nach ihrem Gusto in der Gesellschaft zu positionieren ( und dulden)!
Das heißt, wir positionierten uns im Thema und zeigten unsere Solidarität möglichst frei von Interpretationen oder Bewertung des Individuums und seinem wahrnehmbaren Verhalten, sondern beziehen uns auf die gemeinsamen Interessen, die gemeinsamen Ziele und das prinzipiell mitmenschlich-Handelnde.
Hat Solidarität Grenzen?
In den letzten Tagen wurde ja viel diskutiert – nehmen wir eine konkrete (in Kommentaren angesprochene) Konstellation: ein Positiver belügt, verschweigt wissentlich trotz Nachfrage seinen HIV-Status vor gemeinsamem Sex – Solidarität mit ihm, auch dann?
Natürlich hat Solidarität Grenzen und natürlich hat sie sie nicht!
Sprich: Ich mag solidarisch sein mit allen Menschen mit HIV/AIDS, weil z.b. Diskriminierung, Ausgrenzung, Benachteiligung und oft auch Kriminalisierung alle betrifft.
Der oder die Einzelne kann mir dabei unsympathisch sein, mehr sogar noch, oder sich selbst unsolidarisch oder nach meinem Verhaltenskodex „falsch“ verhalten. Das ändert aber an der Grundhaltung nichts. Das ändert nur etwas an meinem Bezug nehmen und meinem Engagement in der Sache und dem Mensch persönlich gegenüber!
Kurz ein Beispiel: in unserer Charta [die Charta von LHIVE; d.Hg.] steht klar und deutlich, dass wir solidarisch sind mit allen Menschen mit HIV/AIDS sind und als Organisation danach handeln. Insbesondere wenn Menschen wegen ihres Serostatus benachteiligt / ausgegrenzt etc. werden. Aber wer unsere Charta nicht unterschreibt, weil er oder sie vielleicht die „durban declaration“ [Erklärung von Durban; Erklärung zahlreicher Wissenschaftler, dass HIV die Ursache von Aids ist; d.Hg.] nicht akzeptiert und somit zu den AIDS-Dissidenten zu zählen ist, kann nicht Mitglied sein, geschweige denn stimmberechtigt. Hier kommen also im Bezug nehmen und im Handeln dem Individuum gegenüber Bedingungen zum Tragen.
Das von Dir genannte Beispiel enthält natürlich viel moralischen Zündstoff und scheint auf den ersten Blick klar bewertbar zu sein. Aber: warum wurde geschwiegen oder gelogen, welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stecken dahinter, die ein solches Verhalten begünstigen? Und sind es nicht diese, die trotzdem Solidarität fordern?
Und selbstredend ist ein Arschloch ein Arschloch, und es fällt mir schwer solidarisch mit ihm oder ihr zu sein. Und auch ich bin nicht gefeit, mich manchmal von Moralin leiten zu lasen und auch mal vorschnell zu urteilen.
Trotzdem meine ich, dass jedes Mal gut hingeguckt werden muss, um was es genau geht in der Sache! Und wem was nutzt …
Denn wie wollen wir zu wirklichen Veränderungen bei Stigma, Selbststigma, Kriminalisierung kommen, wenn wir uns nicht klar positionieren? Indem wir selbst solches NICHT auf uns und andere anwenden?
Solidarität verlangt Empathie und vielleicht auch immer wieder gemeinsames Aushandeln von Zielen und Haltungen. Ob uns das fehlt?
Was heißt Solidarität für dich ganz praktisch, Solidarität unter und mit HIV-Positiven?
Das ist wahrscheinlich eine „never-ending-story“…
… trotzdem ein, zwei Antworten:
Solidarität heißt für mich, dass wir uns in öffentlichen Konflikten, zum Beispiel, nicht gegenseitig in den Rücken fallen. Sondern in der Sache zusammenstehen.
…Dass wir immer oder meist auch global Bezug nehmen zu den Themen.
….Dass innerhalb unserer eigenen Communities wir hellhörig sind bei internen Ausgrenzungen und Anfeindungen
…Dass Menschen mit HIV/AIDS keine Menschen 2. oder 3. Klasse sind, für niemanden.
…Dass unsere Serostatus niemandem das Recht gibt uns zu bewerten und einzuordnen.
…Dass die Community oder Communities nicht versucht, andere chronisch Kranke auszublenden, zu übertönen oder gar auszustechen und vice versa!
…Dass ich, wenn ich mich öffentlich äussere, a) immer versuche möglichst zu betonen, nur ein Beispiel von vielen zu sein, und b) immer Bezug nehme auf ganz unterschiedliche Problemstellungen bzw. Lebenshintergründe und Auswirkungen der HIV-Infektion.
Und Solidarität heißt auch zu erleben, dass eine Bekannte mir diesen 1. Dezember 100.- CHF geschickt hat, einfach so, aus Solidarität und weil sie mein Engagement schätzt.
Oder dass eine andere Mutter mit HIV/AIDS extra nach Wien fährt an den Kongress um mich zu unterstützen und zu entlasten!
Liebe Michèle, danke für das Interview!