„AIDS-Aktionsplan für Berlin!“ – unter diesem Titel versuchten Vertreter von Aids-Initiativen, Politik und Verwaltung die Zukunft der Aids-Politik in Berlin zu diskutieren.
„Im Jahr 2007 hat die Bundesregierung ihren aktuellen Aids-Aktionsplan vorgestellt. … In der Bundeshauptstadt fehlt bisher ein übergeordneter Aktionsplan, der den neuen Herausforderungen in der Aids-Bekämpfung gerecht wird.“ Mit dieser These war die Diskussion zur zukünftigen Fortentwicklung der Berliner Aids-Politik angekündigt.
Hintergrund der Debatten ist der ‚Integrierte Gesundheitsvertrag‘. Dieser „Integrierte Gesundheitsvertrag“ (pdf hier insbes. ‚Handlungsfeld HIV/Aids ab S. 22, sowie Anlage 9 Projektträger xls) regelt seit einigen Jahren die Förderung von Projekten im Gesundheitsbereich durch das Land Berlin. Er „definiert die vier Handlungsfelder chronische Erkrankungen und besondere gesundheitliche Bedarfslagen; HIV/AIDS, sexuell übertragbare Erkrankungen und Hepatiden, Verbundsystem Drogen und Sucht und einen Innovationsfonds, der Modellprojekte im Bereich Gesundheitsförderung und Prävention unterstützen soll.“ (Parität Berlin)
Das Gesamtjahresbudget des Integrierten Gesundheitsvertrags ist für 2006 mit 11,15 Mio € angesetzt, mit Kürzungen um 148.000€ pro Folgejahr. 2,175 Mio € des Jahresbudgets (2006) entfallen auf das ‚Handlungsfeld HIV/Aids, Sexuell übertragbare Erkrankungen und Hepatitiden‘.
Der Vertrag trat am 1. Januar 2006 in Kraft mit einer Laufzeit von fünf Jahren – per 1.1.2011 ist also eine Neu-Regelung erforderlich. Vor diesem Hintergrund fanden die von Kai-Uwe Merkenich (Berliner Aidshilfe) moderierte Podiumsdiskussionen im Rahmen des Kongresses ‚HIV im Dialog‘ statt.
Heike Drees (Parität Berlin) berichtete über die Evaluation der Aids-Projekte.
Der Bereich HIV/Aids sei der erste der Bereiche des IGV, bei dem eine Evaluation durchgeführt worden sei (März 2007 bis Juni 2008, von Fox GmbH Köln). Diese Evaluation habe zu Empfehlungen geführt:
– als wirkungsorientierte Empfehlung wurde die Entwicklung eines Rahmenkonzeptes vorgeschlagen (politische und strategische Zielsetzungen, künftige Arbeitsschwerpunkte, fachliche Leitlinien, Vereinbarung über Qualitätsstandards, Leistungsbeschreibungen sowie Dokumentationssystem und Berichterstattung);
– als bedarfsorientierte Empfehlung wurden Ausbau, Stärkung und Entwicklung vorgeschlagen (zielgruppenspezifischer Prävention und individueller Handlungskompetenzen (insbesondere für MSM und Migranten), spezifische Hepatitis- und STI-Prophylaxe sowie systemische personenzentrierte Hilfsprozesse).
Im Zeitraum Juli 2008 bis Juli 2009 sollen nun Ziele, Zielgruppen, Aufgabenschwerpunkte und Leistungsbeschreibungen konkretisiert werden, zudem sei die Verbesserung der Dokumentationssystematik geplant.
Drees betonte, es bedürfe ihrer Ansicht nach nicht eines zusätzlichen Aids-Aktionsplans Berlin, wohl aber einer Berliner Strategie zur Umsetzung des nationalen Aids-Aktionsplans. Dazu bedürfe es eines darauf abgestimmten differenzierten Angebots- und Hilfesystems sowie bedarfsorientierter Finanzierung der Projektarbeit bei bedarfsorientierter Weiterentwicklung der Versorgung.
Auf Nachfrage erläuterte Drews, als eines der wesentlichen Probleme habe die Evaluation aufgezeigt, dass bisher Zahlen und Daten der Projekte nicht vergleichbar seien. Hier seien dringend Änderungen erforderlich. Zudem würden Projekte bisher dazu tendieren, unter dem Stichwort ‚Prävention‘ undifferenziert „alles zu machen“, hier sei eine stärkere Konkretisierung und Fokussierung erforderlich. Es müsse klarer werden, welcher Träger für welche Aufgabenbereiche zuständig sei.
Dr. Ruth Hörnle (Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung Gesundheitsamt Berlin-Schöneberg) stellte die Arbeit der Gesundheitsberatungen vor.
Nach dem GDG 2006 (Gesundheitsdienste-Reform-Gesetz vom 25.5.2006) sei die Anzahl der Beratungsstellen ab 1.7.2008 reduziert worden auf nunmehr 5 Sozialmedizinische Dienste (vorher 11) und 4 STD/Aids-Beratungsstellen (vorher 6). Sie betonte u.a. die Probleme mit der Beratung und Versorgung von Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Als einen Lösungsansatz bevorzuge sie den Vorschlag eines (in Italien bereits angewandten) ‚anonymen Krankenscheins‘ (Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität, siehe auch Abschlussbericht pdf).
Als Ziele benannte Hörnle die langfristige Sicherung der Personalmittel sowie der Sachkosten für die Zentren für sexuelle Gesundheit und Familienplanung sowie die Sicherstellung der Therapie von HIV und Aids für Menschen ohne Papiere und ohne Krankenversicherung.
Marcel de Groot (Vorstand LABAS Landesverband Berliner Aids-Selbsthilfegruppen e.V. und Geschäftsführer Schwulenberatung e.V.) verwies nach einer umfangreichen Erläuterung der Aufgabenbereichen der Labas-Mitglieder u.a. auf das Problem schwer erreichbarer MSM (MSM = Männer die Sex mit Männern haben). Er betonte die Schwierigkeiten der Labas-Gruppen aufgrund steigenden Aufgaben-Umfangs bei sinkenden verfügbaren Mitteln.
Karin Lompscher, Senatorin für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz, betonte eingangs, Ursache vieler Probleme sei das fehlende Bundes-Präventionsgesetz (siehe Post ‚Referentenentwurf Präventionsgesetz‚) als Handlungsgrundlage. Sie betonte, dass der Bereich HIV/Aids bisher von Kürzungen und Streichungen weitgehend ‚abgeschirmt‘ worden sei.
Der Integrierte Gesundheitsvertrag habe sich als Modell bewährt und solle prinzipiell beibehalten werden. Allerdings werde es für eine Neuauflage des IGV erforderlich sein, veränderten Rahmenbedingungen zu entsprechen und z.B. neue Zuständigkeiten bei den Handlungsfeldern zu definieren. Gerader angesichts der Haushaltssituation des Landes sei es erforderlich, in die zukünftigen Verhandlungen mit guten inhaltlichen Argumenten zu gehen.
Lompscher verwies auf veränderte Aufgabenstellungen. So sei es sicher richtig, das Problem schwer erreichbarer Gruppen zu benennen. Das allein sei allerdings weder neu, noch reiche es aus. Vielmehr müssten endlich auch Lösungsansätze, die Frage des ‚wie‘ behandelt werden. Zudem sei gerade diese Gruppe (der schwer erreichbaren MSM) bisher auch nicht gerade im Fokus der Arbeit der Projekte – dies müsse sich ändern. Fragen wie die Migration und insbesondere Menschen ohne Papiere / illegaler Aufenthaltsstatus müssten stärker einbezogen werden, aber auch die spezifischen Probleme von Menschen aus einkommensschwachen Gruppen.
Lompscher verwies darüber hinaus darauf, Strukturen innerhalb der Projektelandschaft stärker zu vernetzen, z.B. die Frage, wie ÖGD (Öffentlicher Gesundheitsdienst) und Aids-Projekte besser mit einander kooperieren könnten.
Auf Nachfragen aus dem Zuhörerkreis betonte Lompscher, zukünftig sei eine deutlich bessere Bedarfsorientierung der vorhandenen Träger erforderlich. Wenn dies nicht klappe, Rollen nicht ausgefüllt, Dokumentationen nicht erstellt, Daten nicht geliefert werden, stelle sich für sie die „Frage, haben wir die richtigen Träger?“.
Werden Menschen mit HIV und Aids (die ja nicht nur Teil der Zielgruppe, sondern auch Kunden und Verbraucher sind, an den politischen Entscheidungsprozessen für die Weiterentwicklung der Förderpolitik im Aidsbereich beteiligt? Senatorin Lompscher stellte klar, die Einbindung von Positiven in die politischen Prozesse sei nicht nur über die an den Diskussionen ja auch beteiligten Selbsthilfe-Projekte gewährleiste. Sie begrüße zudem auch, wenn Positive selbst direkt ihre Vorstellungen und Interessen formulieren und sich an sie wenden würden.
zum Thema siehe auch die Post-Serie „sexuelle Gesundheit in Berlin„:
1. HIV/Aids in Berlin
2. HIV-Neuinfektionen in Berlin
3. Syphilis in Berlin
4. Hepatitis C in Berlin
5. Berlin im Vergleich mit Hamburg und Köln
6. Ausblick und mögliche Konsequenzen
Dass eine Evaluation der Aids-Projekte und ihrer Arbeit stattfindet, ist zu begrüßen – allerdings sollte in der Konsequenz daraus für einen zukünftigen Gesundheitsvertrag nicht nur eine Fortschreibung des status quo resultieren. Vielmehr wäre eine strategische inhaltliche Weiterentwicklung wünschenswert.
Umso erstaunlicher und frustrierender war es, zu erleben dass Vertreter von Projekten bei einer Diskussion über einen Weiterentwicklung der Aids-Arbeit ihre Beiträge weitgehend darin erschöpfen, ihre vielen Aufgaben aufzuzählen und über fehlende Mittel und die dringende Notwendigkeit von Aufstockungen zu lamentieren. Derlei ist seit Jahren zu hören, und so berechtigt es in einigen Fällen sein mag, es ist ermüdend, nicht ausreichend und bringt eine Diskussion um einen Aids-Aktionsplan nicht gerade nach vorne.
Positiv anzumerken ist, dass zumindest die Senatorin in die Zukunft gerichtete Statements machte, schemenhaft Ansätze einer zukünftigen Entwicklung von Prioritäten und Aufgaben skizzierte – und den Willen zu strategischer Neu-Gestaltung zeigte. Menschen mit HIV und Aids in Berlin sollten die Chance nutzen, sich aktiv in diesen Prozess einzubringen.