Die Zahl der HIV-Diagnosen 2006 ist gestiegen – und wieder gehen Meldungen voller Sensationsgier und Aktionismus durch die Medien. Schon ein kurzer Blick in die Zahlen gibt ein differenzierteres Bild – wieder einmal sind Bedacht bei den Zahlen und Blicke in die Details angeraten.
Das Robert-Koch-Institut hat die neuesten Zahlen zu den Neu-Infektionen mit HIV veröffentlicht. Selbst eher bedächtige Medien sprechen von „HIV-Infektionen auf dem Höchststand“, „trotz aller Warnungen“, „Anstieg im 81%“ (und erwähnen nur kleingedruckt den Zeitraum: 2001 bis 2006). Und es steht zu erwarten, dass sich bald schon wieder die kuriosesten Meldungen und Vorschläge überschlagen werden. Einige fühlen sich ja schon seit längerem in ihren Vorstellungen bestätigt und fordern (in der irrigen Meinung, mit Strafrecht könnne man Prävention betreiben) eine Verschärfung der Gesetze.
Worum geht es?
Im Jahr 2006 wurde nach Angaben des Robert-Koch- Instituts bei 2.611 Personen in Deutschland eine neue HIV-Infektion festgestellt. Im Jahr 2005 lag diese Zahl bei 2.500 Personen. Diese Zahlen veröffentlicht das Robert-Koch-Institut (RKI) im Detail in seinem ‚Epidemiologischen Bulletin‘.
Das RKI spricht selbst davon, im Vergleich zum Vorjahr sei die Zahl der „gemeldeten HIV-Neudiagnosen nochmals leicht um 4%“ angestiegen.
Vielen der aufgeregten Medienberichte liegt zunächst ein Mißverständnis zugrunde. Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldet HIV-Neudiagnosen, nicht Neu-Infektionen.
Dieser Unterschied ist (z.B. für die aus den Zahlen möglicherweise zu ziehenden politischen Konsequenzen) bedeutend: Nicht jeder, dessen Infektion mit HIV im Jahr 2006 diagnostiziert wurde, hat sich auch in diesem Jahr infiziert. Vielmehr werden viele Infektionen erst Jahre später diagnostiziert. Die Zahlen über die Neu-Diagnosen geben also nicht ein Bild des Infektions-Geschehens im vergangenen Jahr, sondern nur der diagnostizierten Fälle!
So ist auch der Anstieg der vom RKI gemeldeten Zahlen nicht ausschließlich auf einen Anstieg der Zahl der Neu-Infektionen zurückzuführen. Vielmehr kommen weitere Faktoren hinzu:
– HIV-Infizierte lassen sich früher testen (dies zeigen auch Untersuchungen über die Zahl der CD4-Zellen bei Erst-Diagnose).
– In einigen (insbes. auch Groß-) Städten haben Aidshilfen offensiv für einen HIV-Test geworben. Auch dies dürfte in diesen Regionen den Trend zur früheren Diagnose verstärkt haben.
– Und schließlich: das RKI hat 2006 sein Melde- System verbessert (bessere Unterscheidung zwischen Erst- und Folgemeldungen möglich). Dies führt dazu, dass nun mehr Meldungen als Erstmeldungen gezählt werden.
Insgesamt bedeutet dies: nur ein Teil des Anstiegs der Neu-Diagnosen ist auch auf einen Anstieg der Neu- Infektionen zurückzuführen.
So formuliert das RKI selbst vorsichtig, dass von dem gemeldeten Anstieg um 81% zwischen 2001 und 2006 wohl etwa 40% auf einen ‚tatsächlichen Anstieg der HIV-Erstdiagnosen‘ zurückzuführen sei.
Wie schon in den letzten Jahren erfolgte ein Teil des Anstiegs der Zahl der Neu-Infektionen in der Gruppe, die so dezent mit „MSM“ bezeichnet wird (Männer, die Sex mit Männern haben). Die Zahl stieg um 9,2% von 1.250 (2005) auf 1.358 (2006). Ein besonders deutlicher Anstieg zeigte sich mit 15% bei iv-Drogengebraucher- Innen, während die Zahl der Neu-Diagnosen bei Menschen aus Hoch-Prävalenz-Regionen um 13% zurück ging.
Bei allen jetzt wieder zu erwartenden Aufgeregtheiten sollte vermieden werden, einige Details der Analysen aus den Augen zu verlieren, wie z.B. die aufschlussreiche regionale Verteilung. So konstatiert das RKI für die meisten Bundesländer eine Stagnation oder nur geringe Anstiege – mit Ausnahme von Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. In NRW sei zudem die hohe Zahl der Syphilis-Meldungen bemerkenswert.
Die äußerst angespannte Mittelsituation in den Aids- Hilfen – besonders in NRW – dürfte vor diesem Hintergrund nochmals neue Brisanz bekommen. Wurden hier seitens der Politik Weichen in die verkehrte Richtung gestellt?
Und umgekehrt erstaunt so manche Berliner Hektik, wenn das RKI davon spricht, dass in den östlichen Bundesländern (einschl. Berlin) die Zahlen unter Schwulen stagnieren oder zurückgehen (Berlin: im Jahr 2006 unter MSM 271 gemeldete Neu-Diagnosen).
Unabhängig davon, dass (s.o.) nicht der gesamte Anstieg der Neu-Diagnosen auch einem Anstieg der Neu-Infektionen entspricht, ist zu fragen, ob und wie zu reagieren ist.
So wird sich die Politik (insbesondere in einigen Bundesländern) fragen lassen müssen, ob die immer stärkere Verknappung von Mitteln für die Aids- Prävention sich nicht zunehmend als kontraproduktiv erweist.
Und auch die Aids-Hilfe auf die Entwicklung der Zahlen reagieren müssen. Wird prüfen müssen, ob und wo Defizite in der Prävention bestehen und wie dem begegnet werden kann.
Vielleicht finden dabei neuere Studien Beachtung, die (erneut) zeigen dass die Hälfte der HIV-Übertragungen während der Phase der akuten HIV-Infektion stattfinden – knapp 50% der Übertragungen erfolgen von Personen, die selbst erst kurze Zeit HIV-infiziert sind.
Damit gewinnt auch die Frage neue Bedeutung, ob die alte Präventions-Polarität negativ-positiv noch situationsgerecht ist. Viele dieser Infektionen dürften erfolgen, weil Menschen (fälschlicherweise) meinen sie seien HIV-negativ – in dieser Situation der Fehleinschätzung der eigenen Situation dürfte z.B. kaum eine Strategie des Serosortings greifen, da hilft nur ’safer sex‘.
Hier könnten neue Strategien der Prävention erforderlich sein, die z.B. auch auf Annahmen über den Serostatus (den eigenen wie den des Partners) eingehen.
Schärfere Gesetze hingegen dürften wenig hilfreich, Repression vermutlich eher kontraproduktiv sein.
PS: Die Internetseiten des RKI ermöglichen auch eigene Recherchen in den Daten zu HIV-Neu-Diagnosen (auf der Ebene Bundesländer, Regierungsbezirke, Großstädte). Zu finden unter www3.rki.de/SurvStat > Meldekategorie: Nichtnamentlich direkt an das RKI“