Präventionsgedanken 2: weniger Patentrezepte

Abstinenz, Repression – alles keine zweckdienlichen Wege in der HIV-Prävention. Aber – wohin könnte sich Prävention weiter entwickeln? Welche Fragen stehen im Raum?

Weniger Patentrezepte

Heutige Präventionsbotschaften haben oft einen universellen Ansatz – eine auf alle Situationen und Zielgruppen anwendbare ‚Patentlösung‘ (von „Aids geht alle an“ über „immer mit“ bis „raus bevor’s kommt“).
In der persönlichen Situation und Einschätzung von potentiellen Gefährdungen und Risiken hilft das oftmals wenig, wird praxisfremd. Und nicht (effizient) in eigenes Handeln umgesetzt.

Können Präventionsbotschaften noch mehr als bisher auf die individuelle Situation abgestellt werden, auch um ein persönliches Risikomanagement zu ermöglichen? Wie weit können dabei unterschiedliche Infektionsrisiken und ihre Wahrnehmung deutlicher thematisiert werden?
Dies reicht von
Fehleinschätzungen von Infektionsrisiken (Beispiel Analverkehr / Risiko Darmschleimhaut) bis zur deutlich gesenkten Infektiosität bei erfolgreicher antiretroviraler Therapie, und sollte Verharmlosungen wie Übertreibungen vermeiden, aber auch konkrete lebbare Handlungsmöglichkeiten (z.B. für serodiskordante Paare) umfassen.
Nicht nur sagen, was nicht geht, sondern auch was (und unter welchen Umständen) geht.


Eine Veränderung der Botschaften in der Prävention könnte auch beinhalten, dass häufigere / regelmäßige Untersuchungen auf sexuell übertragbare Infektionen auch der eigenen Gesunderhaltung dienen.
Der früher in Großstadt-Szenen teilweise selbstverständliche „schwule
Gesundheits-Check“ ist weitgehend in Vergessenheit geraten.
Gesundheitsvorsorge, einschließlich Untersuchungen auf sexuell übertragbare Krankheiten, sollten dabei auch kostengünstig und niedrigschwellig möglich sein. Hierbei dürften sich Reduzierungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes (z.B. bei Beratung und Untersuchung in Gesundheitsämtern) eher als schädlich erweisen.

HIV ist nicht überall gleich
Wenn, wie das RKI feststellt, großstädtische Ballungsräume den Schwerpunkt der HIV-Epidemie in Deutschland bilden – brauchen wir dann auch eine stärkere Fokussierung der Mittel auf diese Räume? Und vielleicht in diesen Ballungsräumen auch neue Ansätze wie den in San Francisco geplanten ‚HIV-Präventions- Direktor‚?
Muss sich Prävention stärker den jeweiligen Gegebenheiten des jeweiligen Ballungsraums anpassen (was in München funktioniert, muss in Berlin noch lange nicht ebenso funktionieren)?

Die Sichtbarkeit von HIV
HIV und Aids sind heute aus den verschiedensten Gründen wesentlich weniger sichtbar als noch vor einigen Jahren.
Statt im (auch eigenen) Alltag, auf der Straße (Aids- Aktivismus) und in den eigenen Subkulturen (positive und erkrankte Bekannte etc) findet die Auseinandersetzung mit Aids heute weitgehend in der Arztpraxis statt.

Diese geringere Sichtbarkeit ist nicht nur ein Phänomen äußerer Wahrnehmbarkeit, sondern hat auch Wirkungen auf Verhalten.
Ein Beispiel ist das Serosorting (das in der Realität wohl doch oft eher ‚Seroguessing‚ ist – ein Vermuten (nicht Wissen) des HIV-Status des momentanen Partners): neuere Studien zeigen, dass besonders Schwule, die keine oder nur geringe Nähe zu HIV-Positiven haben, mit einer wohl naiv zu nennenden Arglosigkeit erwarten, dass alle Positiven ihren Serostatus vor sexuellen Handlungen offen legen (während Schwule, die größere Nähe zu Positiven haben, der Mitteilung des Serostatus keine besondere Bedeutung beimessen).
Wenn ein Partner nichts sagt, wird der eigene Serostatus auch bei ihm vermutet, entsprechendes (oft unsafes) Verhalten für möglich gehalten.

Die mangelnde Sichtbarkeit von HIV und HIV-Positiven berührt auch einen weiteren Punkt. Etwa ein Drittel aller Aids-Todesfälle seien heutzutage evtl. auf ein zu spätes Erkennen der eigenen HIV-Infektion zurückzuführen, schreibt das RKI. Todesfälle, die bei rechtzeitigem Erkennen der eigenen Infektion und entsprechender Behandlung evtl. vermeidbar wären.

Können in einer wieder stärkeren Sichtbarkeit von HIV und Aids neue Ansatzpunkte für die Prävention liegen? Z.B. in einer stärkeren Fokussierung? Oder in stärkerer Sichtbarkeit, Wahrnehmbarkeit HIV-positiver Menschen?
Und sind zusätzliche, klarere Informationen erforderlich, gerichtet sowohl an Ärzte als auch in die jeweiligen Szenen (z.B. über das eventuelle Erkennen einer eigenen Infektion)?

Überhaupt, die Ärzteschaft. Immer mehr rückt sie in den Mittelpunkt des Geschehens, der Arzt wird zum zentralen Ansprechpartner. Sollte er dann auch vermehrt Präventionsbotschaften vermitteln, informieren und beraten?
Oder führt die zunehmende Medikalisierung nicht gerade jetzt schon zu zusätzlichen Problemen?

Die HIV-Prävention muss und wird sich angesichts veränderter Rahmenbedingungen weiter entwickeln. Können und wollen neben Präventions-Experten, Politikern, Medizinern auch Menschen mit HIV und Aids sich als ‚Experten in eigener Sache‘ in die weitere Entwicklung einbringen?



Transmissionsrisiko unter HAART: ‚vernachlässigbar klein‘

Wie hoch ist das HIV-Übertragungsrisiko eines Positiven, der erfolgreich (Viruslast unter der Nachweisgrenze) antiretroviral therapiert wird?

Das Posting zu Infektionsrisiken sowie eine diesbezügliche Aussage in der Resolution des 120. Positiventreffens haben zu einigen Nachfragen geführt.

Deswegen hier ein interessantes Statement eines Schweizer Experten: Prof. Pietro Vernazza, Leiter des Fachbereichs Infektiologie am Kantonsspital St. Gallen, wird in der Ausgabe Juli/August 2007 von ‚Projekt Information‚ (Editorial) mit folgender Aussage zitiert:

„Eine Frage, die uns immer wieder beschäftigt, ist das Transmissionsrisiko unter HAART. Die Schweizer Fachkommission Klinik und Therapie HIV/Aids hat soeben ein Papier verabschiedet, in welchem das Risiko einer Transmission unter einer vollständig suppressiven HAART untersucht wird. Als vernachlässigbar kleines Risiko bezeichnen die Experten das Transmissionsrisiko beim ungeschützten Sexualkontakt mit einer Person mit vollständig suppressiver Therapie. Dies unter der Voraussetzung, dass bei beiden Partnern eine Geschlechtskrankheit ausgeschlossen werden kann. Diese Beurteilung basiert auf einer Fülle von epidemiologischen Daten und wird durch biologische Daten zur HIV-Konzentration in Genitalsekreten unterstützt.“

Der selbe Prof. Vernazza ergänzt konkreter hier (unter „Luxus oder Notwendigkeit?“):

„Das Risiko einer Übertragung unter einer vollständig suppressiven HAART ist unmessbar klein, es dürfte in der Grössenordnung von 1:100’000 bis 1: 1’000’000 oder noch kleiner liegen.“

Der selbe spricht schon 2006 auch hier von einem Übertragungsrisiko unter erfolgreicher HAART, das „vernachlässigt werden kann“.



Positiv – Negativ

Bisher gibt es beim Thema Menschen, die HIV-infiziert sind, eine beinahe klassische Dichotomie: „ich bin negativ“ vs. „ich bin positiv“.
Nur – diese Dichotomie führt -wie so manche schwarz- weiß-Malerei- in die Irre.

In eine Irre, die gleich mehrere Dimensionen hat.

– Die Veränderbarkeit: HIV-positiv zu sein ist ein Zustand, der (zumindest derzeit, solange es keine Heilung von HIV gibt) unumkehrbar ist. Einmal HIV-positiv, immer HIV-positiv. Ein Test-Resultat als eindeutige Wegmarke. HIV-negativ zu sein hingegen ist ein Zustand, der sich jederzeit ändern kann.

– Das Bewusstsein: Wenn ich (nach einem positiven Testergebnis) weiß, dass ich HIV-positiv bin, kann (muss) ich mir dessen für die Zukunft sicher sein. Eine unumkehrbare Faktizität.
Wenn ich nach dem selben Test erfahre, dass das Ergebnis HIV-negativ lautet, so heißt das maximal, dass ich bis vor drei Monaten nicht HIV-infiziert war, dieser Zustand sich jedoch (riskantes Verhalten vorausgesetzt) ändern kann. Ändern kann auch ohne dass ich mir dessen bewusst bin. Ein unsicherer Zustand.

– Das Ergebnis: eine Begriffs-Verwirrung, die dennoch heute weiterhin gerne verwendet wird. Mit weit reichenden Konsequenzen.

So gibt es eine (zahlenmäßig nicht zu unterschätzende) Gruppe von Menschen, die mit HIV infiziert sind, dies jedoch nicht wissen. Umgangssprachlich möchte man meinen, sie seinen HIV-positiv. Nur – davon wissen sie nichts, gehen vermutlich in der Regel davon aus, sie seien HIV-negativ.
Menschen ohne bisherigen HIV-Test, aber auch Menschen mit einem (zurückliegenden) negativen HIV-Test-Ergebnis können durchaus HIV-infiziert sein – halten sich aber für ‚HIV-negativ‘.

Oder anders ausgedrückt: jeder, der kein positives Testergebnis hat, hält sich für negativ – unabhängig vom Infektionsstatus.

Negativ – Positiv, diese bipolare Unterscheidung führt in eine Präventions-Sackgasse.
Die Konstellation, HIV-infiziert zu sein, jedoch bisher kein positives Testergebnis zu haben, von seinem Infektions- Status nicht zu wissen, diese Konstellation findet in der Begriffs-Bipolarität positiv-negativ nicht statt.

Diese Unterscheidung mag zunächst akademisch erscheinen. Leider hat sie jedoch ganz praktische Konsequenzen – z.B. bei den HIV-Neu-Infektionen.
Das Problem: ich halte mich für HIV-negativ, und verhalte mich (mit anderen vermeintlich ebenfalls nicht HIV-Infizierten) nicht immer safe (Serosorting).
Die Folge: HIV-Negative (oder besser: Personen, die selbst davon ausgehen, derzeit HIV-negativ zu sein) erhöhen ihr Risiko sich mit HIV zu infizieren durch diese Strategie, wie Studien zeigen. Der Grund: unerkannte HIV-Infektionen – Menschen, die sich für HIV-negativ halten, tatsächlich jedoch HIV-infiziert sind, nur bisher nicht von ihrer Infektion wissen.
Einer der Gründe für ein erhöhtes Risiko könnte darin liegen, dass ‚ungetestet HIV-Positive‘ scheinbar besonders häufig zu unsafen Sexpraktiven tendieren, wie eine
CDC-Studie zeigt.

Die Termini ‚positiv‘ und ’negativ‘ sagen streng genommen nichts über den Infektions-Status aus, sondern nur etwas über ein Test-Ergebnis. Die Lücken, die genau dazwischen liegen können, bleiben bisher verdeckt.

Den Infektionsstatus gibt zutreffend nur wieder das Begriffspaar ‚infiziert‘ und ’nicht infiziert‘. Nur, dass jemandem, der infiziert ist, davon aber nichts weiß, damit nicht geholfen ist.

Ergo: brauchen wir eine neue Begrifflichkeit?

Eine Begrifflichkeit, in der weiterhin ‚positiv‘ diejenigen Menschen sind, die positiv getestet sind (die HIV-infiziert sind und davon nach einen positiven Testergebnis wissen). Aber – welcher Begriff bietet sich für die anderen, eventuell unklareren Zustände an?

Über das Infektionsrisiko

Lässt sich das HIV-Infektionsrisiko durch die Partnerwahl senken? Oder durch eine wirksame anti-HIV-Therapie? Ein Blick in Zahlen und Studien und eine sachliche Debatte über neue Wege der HIV-Prävention hilft sicher mehr als Aufgeregtheiten à la Spahn.

Dass die Zahl der HIV-Neu-Infektionen möglichst gering gehalten werden sollte, ist unstrittig. Über den Weg, dieses Ziel zu erreichen, hingegen gibt es große Meinungsunterschiede – bis hin zu Äußerungen, die darauf zielen, Positiven einseitig die Verantwortung zu zu weisen, oder gar Vorschlägen, die de facto versuchen mit dem Strafrecht Prävention zu betreiben.
Diese Aufgeregtheiten führen sicherlich nicht zu einer seriösen Debatte, die sie die jüngste Resolution des 120. Positiventreffens einforderte. Ein Blick in einige Zahlen und Studien hingegen vielleicht schon. Zahlen, die einige Informationen liefern können

– wo Infektionen stattfinden,
– ob es hilft, seinen Sexpartner nach dem HIV-Status zu suchen (Serosorting), oder
– wie sich eine Kombitherapie auf die Infektiosität auswirkt.

Wo finden Neu-Infektionen statt?
Wenn diskutiert wird, wie auf steigende Zahlen an HIV- Neudiagnosen zu reagieren sei, lohnt neben einer differenzierten Betrachtung nach Regionen auch ein Blick darauf, in welchem Kontext denn Infektionen stattfinden: Ein wesentlicher Teil (etwa 25%) findet in Beziehungen statt, bei Heteros sogar etwa 50% 1).
Ein weiterer großer Teil findet statt durch Menschen, die selbst erst kurze Zeit HIV-infiziert sind (und dies u.U. nicht einmal selbst wissen): eine kanadische Studie kam zu dem Ergebnis, dass 50% der HIV-Übertragungen durch Menschen mit primärer HIV-Infektion stattfinden. Eine US-Studie geht sogar von 70% aus, eine weitere US-Studie ergab, dass 77% der jungen HIV-infizierten US-Großstadt-Schwulen sich ihrer HIV-Infektion nicht bewusst sind.
Der Anteil von (HIV-Übertragungen durch) Positive mit chronischer unbehandelter oder behandelter HIV- Infektion hingegen lag in der kanadischen Studie bei 15% bzw. 12%.
Der hohe Prozentsatz bei Menschen mit primärer HIV- Infektion trat dabei in allen Betroffenengruppen (homo, hetero, iv-Drogengebrauch) auf, und unabhängig von der Zahl der Sexualpartner. Einer der Gründe könnte darin liegen, dass diese ungetestet HIV-Positiven scheinbar besonders häufig zu unsafen Sexpraktiken tendieren, wie eine CDC-Studie zeigt.

Die hohe Infektiosität in den ersten Monaten der HIV- Infektion könnte ein sinnvoller Ansatz für Präventions- Maßnahmen sein – viel eher als ziellose Präventions- Kampagnen à la „… geht jeden an“ oder blinde Schuldzuweisungen an Positive.

Schützt Serosorting? oder – die vermeintlich ‚Negativen‘ …
Eine beliebte Strategie, Risiken (vermeintlich?) besser zu managen ist das Serosorting – HIV-Positive suchen sich als Sexpartner möglichst Positive, Negative suchen sich möglichst Negative.

Allerdings: HIV-Negative (oder besser: Personen, die selbst davon ausgehen, derzeit HIV-negativ zu sein) erhöhen ihr Risiko sich mit HIV zu infizieren durch diese Strategie, wie Studien zeigen.
Der Grund: unerkannte HIV-Infektionen – Menschen, die sich für HIV-negativ halten, tatsächlich jedoch positiv sind, nur bisher nicht von ihrer Infektion wissen. Menschen, die diese Serosorting-Strategie anwenden, tendieren (denkend sie seien ja negativ) mit anderen vermeintlich ‚Negativen‘ zu unsafem Verhalten, wie mehrere Studien z.B. aus Australien und den USA zeigen. Und wenn die Annahmen über den Serostatus eines der Beteiligten sich als falsch erweisen, kann aus der vermeintlichen Schutz-Strategie leicht ein Gefährdungs-Szenario werden.

Serosorting à la „Negativ sucht Negativ für unsafen Sex“- eine Strategie, die sich gerade bei (vermeintlich?) HIV-Negativen als ein äußerst problematischer Weg erweisen könnte …

Über den Einfluss der Therapie
Dass die HIV-Viruslast (neben weiteren Faktoren wie dem Vorhandensein oder Fehlen von ‚Geschlechts- Krankheiten‘) ein wesentlicher Faktor für die Infektiosität ist, ist seit längerem bekannt, ebenso dass eine erfolgreiche Therapie, die die Viruslast deutlich absenkt, damit auch die Infektiosität senkt.
Eine neuere Studie fand, dass erfolgreich antiretroviral behandelte Positive mit niedrigerer Wahrscheinlichkeit HIV übertragen – sowohl im Vergleich mit unbehandelten Positiven als auch mit Positiven, die eine Therapiepause einlegen. Neben der niedrigeren Viruslast wurde als weitere Ursache festgestellt, dass Positive, die eine antiretrovirale Therapie machten oder gemacht hatten, in geringerem Umfang zu sexuell riskanten Praktiken tendierten.
Die Erkenntnis, dass eine erfolgreiche Therapie die Übertragungs- Wahrscheinlichkeit reduziert, ist übrigens nicht so neu – schon 2005 zeigte eine spanische Studie einen deutlichen Therapie-bezogenen Rückgang der HIV-Übertragung zwischen stabilen heterosexuellen Paaren mit unterschiedlichem HIV-Status. Und auch eine ugandische Studie von 2003 (die sich mehr mit dem hohen Infektionsrisiko während der Phase der Primär- Infektion befasste, s.o.) kam zu dem Ergebnis, dass bei Heteros unter einer Viruslast von 1.500 Kopien keine HIV-Übertragung stattfand. Seitdem wird von vielen Forschern davon ausgegangen, dass über einer Viruslast von 1.500 Kopien ein signifikantes HIV-Übertragungsrisiko besteht.

Das Resumé? Im Interview mit der posT 1) antwortet Roger Staub auf die Frage des Interviewers zum Infektionsrisiko „lange unter der Nachweisgrenze, das Risiko können Sie vernachlässigen“ mit „das Risiko besteht wahrscheinlich gar nicht“.

Es geht hier nicht darum, unsafen Sex in welcher Konstellation auch immer zu propagieren, oder gar Reklame für Pillen-Konsum zu machen, oder für einen frühen Therapie-Beginn. Eine antiretrovirale Therapie zu beginnen ist eine wichtige persönliche Entscheidung, die jedem Positiven frei überlassen bleiben muss. Viele Positive wollen oder können keine antiretrovirale Therapie nehmen. Sei es z.B. wegen Problemen mit dem Aufenthaltsstatus oder fehlender Kranken- Versicherung, weil sie angesichts ihres Immunstatus keine Therapie brauchen oder für erforderlich halten, oder auch weil sie generell die Kombitherapie ablehnen. Auch die (aus welchem Grund auch immer getroffene) Entscheidung, keine Therapie zu machen, ist zu respektieren.

Es geht vielmehr darum anhand der Fakten über Infektionsrisiken zu informieren – und nicht einseitig Verantwortung oder gar ‚Schuld‘ (z.B. für vermeintlich deutlich steigende Infektionszahlen) bei Positiven oder Barebackern abzuladen.

Und es geht darum, jedem aufgrund zutreffender Informationen selbst eine freie Entscheidung zu ermöglichen, welche Risiken er eingehen möchte, welche nicht, und in welchen Situationen er sich wie verhalten und schützen möchte.

Schließlich sollten auch Entscheidungen über eine zielgerichtete Weiterentwicklung von Präventions- Maßnahmen zur Stabilisierung und Absenkung der Rate der Neu-Infektionen auf Fakten basiert sein, nicht auf Hysterie oder Propaganda.

1) Roger Staub ist Leiter der Sektion Aids beim schweizerischen Bundesamt für Gesundheit (BAG). Das komplette Interview mit Roger Staub ist zu lesen in der Ausgabe Juli/August 07 der „posT“ (S. 15-24), als pdf hier

Immer mehr HIV-Infektionen – und nun?

Die Zahl der HIV-Diagnosen 2006 ist gestiegen – und wieder gehen Meldungen voller Sensationsgier und Aktionismus durch die Medien. Schon ein kurzer Blick in die Zahlen gibt ein differenzierteres Bild – wieder einmal sind Bedacht bei den Zahlen und Blicke in die Details angeraten.

Das Robert-Koch-Institut hat die neuesten Zahlen zu den Neu-Infektionen mit HIV veröffentlicht. Selbst eher bedächtige Medien sprechen von „HIV-Infektionen auf dem Höchststand“, „trotz aller Warnungen“, „Anstieg im 81%“ (und erwähnen nur kleingedruckt den Zeitraum: 2001 bis 2006). Und es steht zu erwarten, dass sich bald schon wieder die kuriosesten Meldungen und Vorschläge überschlagen werden. Einige fühlen sich ja schon seit längerem in ihren Vorstellungen bestätigt und fordern (in der irrigen Meinung, mit Strafrecht könnne man Prävention betreiben) eine Verschärfung der Gesetze.

Worum geht es?
Im Jahr 2006 wurde nach Angaben des Robert-Koch- Instituts bei 2.611 Personen in Deutschland eine neue HIV-Infektion festgestellt. Im Jahr 2005 lag diese Zahl bei 2.500 Personen. Diese Zahlen veröffentlicht das Robert-Koch-Institut (RKI) im Detail in seinem ‚Epidemiologischen Bulletin‘.

Das RKI spricht selbst davon, im Vergleich zum Vorjahr sei die Zahl der „gemeldeten HIV-Neudiagnosen nochmals leicht um 4%“ angestiegen.

Vielen der aufgeregten Medienberichte liegt zunächst ein Mißverständnis zugrunde. Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldet HIV-Neudiagnosen, nicht Neu-Infektionen.
Dieser Unterschied ist (z.B. für die aus den Zahlen möglicherweise zu ziehenden politischen Konsequenzen) bedeutend: Nicht jeder, dessen Infektion mit HIV im Jahr 2006 diagnostiziert wurde, hat sich auch in diesem Jahr infiziert. Vielmehr werden viele Infektionen erst Jahre später diagnostiziert. Die Zahlen über die Neu-Diagnosen geben also nicht ein Bild des Infektions-Geschehens im vergangenen Jahr, sondern nur der diagnostizierten Fälle!

So ist auch der Anstieg der vom RKI gemeldeten Zahlen nicht ausschließlich auf einen Anstieg der Zahl der Neu-Infektionen zurückzuführen. Vielmehr kommen weitere Faktoren hinzu:

– HIV-Infizierte lassen sich früher testen (dies zeigen auch Untersuchungen über die Zahl der CD4-Zellen bei Erst-Diagnose).
– In einigen (insbes. auch Groß-) Städten haben Aidshilfen offensiv für einen HIV-Test geworben. Auch dies dürfte in diesen Regionen den Trend zur früheren Diagnose verstärkt haben.
– Und schließlich: das RKI hat 2006 sein Melde- System verbessert (bessere Unterscheidung zwischen Erst- und Folgemeldungen möglich). Dies führt dazu, dass nun mehr Meldungen als Erstmeldungen gezählt werden.

Insgesamt bedeutet dies: nur ein Teil des Anstiegs der Neu-Diagnosen ist auch auf einen Anstieg der Neu- Infektionen zurückzuführen.
So formuliert das RKI selbst vorsichtig, dass von dem gemeldeten Anstieg um 81% zwischen 2001 und 2006 wohl etwa 40% auf einen ‚tatsächlichen Anstieg der HIV-Erstdiagnosen‘ zurückzuführen sei.

Wie schon in den letzten Jahren erfolgte ein Teil des Anstiegs der Zahl der Neu-Infektionen in der Gruppe, die so dezent mit „MSM“ bezeichnet wird (Männer, die Sex mit Männern haben). Die Zahl stieg um 9,2% von 1.250 (2005) auf 1.358 (2006). Ein besonders deutlicher Anstieg zeigte sich mit 15% bei iv-Drogengebraucher- Innen, während die Zahl der Neu-Diagnosen bei Menschen aus Hoch-Prävalenz-Regionen um 13% zurück ging.

Bei allen jetzt wieder zu erwartenden Aufgeregtheiten sollte vermieden werden, einige Details der Analysen aus den Augen zu verlieren, wie z.B. die aufschlussreiche regionale Verteilung. So konstatiert das RKI für die meisten Bundesländer eine Stagnation oder nur geringe Anstiege – mit Ausnahme von Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. In NRW sei zudem die hohe Zahl der Syphilis-Meldungen bemerkenswert.
Die äußerst angespannte Mittelsituation in den Aids- Hilfen – besonders in NRW – dürfte vor diesem Hintergrund nochmals neue Brisanz bekommen. Wurden hier seitens der Politik Weichen in die verkehrte Richtung gestellt?
Und umgekehrt erstaunt so manche Berliner Hektik, wenn das RKI davon spricht, dass in den östlichen Bundesländern (einschl. Berlin) die Zahlen unter Schwulen stagnieren oder zurückgehen (Berlin: im Jahr 2006 unter MSM 271 gemeldete Neu-Diagnosen).

Unabhängig davon, dass (s.o.) nicht der gesamte Anstieg der Neu-Diagnosen auch einem Anstieg der Neu-Infektionen entspricht, ist zu fragen, ob und wie zu reagieren ist.
So wird sich die Politik (insbesondere in einigen Bundesländern) fragen lassen müssen, ob die immer stärkere Verknappung von Mitteln für die Aids- Prävention sich nicht zunehmend als kontraproduktiv erweist.

Und auch die Aids-Hilfe auf die Entwicklung der Zahlen reagieren müssen. Wird prüfen müssen, ob und wo Defizite in der Prävention bestehen und wie dem begegnet werden kann.

Vielleicht finden dabei neuere Studien Beachtung, die (erneut) zeigen dass die Hälfte der HIV-Übertragungen während der Phase der akuten HIV-Infektion stattfinden – knapp 50% der Übertragungen erfolgen von Personen, die selbst erst kurze Zeit HIV-infiziert sind.
Damit gewinnt auch die Frage neue Bedeutung, ob die alte Präventions-Polarität negativ-positiv noch situationsgerecht ist. Viele dieser Infektionen dürften erfolgen, weil Menschen (fälschlicherweise) meinen sie seien HIV-negativ – in dieser Situation der Fehleinschätzung der eigenen Situation dürfte z.B. kaum eine Strategie des Serosortings greifen, da hilft nur ’safer sex‘.

Hier könnten neue Strategien der Prävention erforderlich sein, die z.B. auch auf Annahmen über den Serostatus (den eigenen wie den des Partners) eingehen.

Schärfere Gesetze hingegen dürften wenig hilfreich, Repression vermutlich eher kontraproduktiv sein.

PS: Die Internetseiten des RKI ermöglichen auch eigene Recherchen in den Daten zu HIV-Neu-Diagnosen (auf der Ebene Bundesländer, Regierungsbezirke, Großstädte). Zu finden unter www3.rki.de/SurvStat > Meldekategorie: Nichtnamentlich direkt an das RKI“

Gesundheit: weitere Rückwärtsrollen …

Die Zahl der Fälle, in denen gegen Positive juristisch vorgegangen wird, steigt. In Großbritannien, wo eh schon zahlreiche Positive verurteilt wurden, ist nun ein weiteres Urteil bekannt geworden.

Ein 38jähriger Italiener wurde in Glasgow wegen bewusster Übertragung von HIV und Hepatitis C verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen seine frühere Freundin infiziert zu haben, indem er bewusst keine Kondome verwandte.
Erstmals erfolgte damit in Großbritannien eine Verurteilung auch aufgrund einer Infektion mit Hepatitis C, wie Aidsmap berichtet.

Eine fahrlässige oder vorsätzliche Infektion mit HIV ist auch in Deutschland bereits seit langem strafbar. Auch erfolgen Verurteilungen wegen HIV-Infektion, i.d.R. mit der Anklage der fahrlässigen Körperverletzung.

Dennoch planen Politiker, unter ihnen mit federführend der CDU-Obmann im Gesundheitsausschuß Jens Spahn (26), eine weitere Verschärfung der Gesetzeslage: ein Gesetz gegen fahrlässige HIV-Verbreitung befindet sich auf dem parlamentarischen Weg (derzeit in den Ausschüssen).

Spahn ist auch beteiligt an der ablehnenden Haltung der CDU-Bundestagsfraktion zur Heroin-Abgabe an Schwerstabhängige. Es gehe darum, keine harte Droge zu enttabuisieren oder zu legalisieren, so Spahn (z.B. gegenüber N24 oder via Tagesspiegel, außerdem sei eine Heroin-Therapie zu teuer. Spahn stellt sich damit selbst gegen Politiker aus der eigenen Partei, die an erfolgreichen Modellprojekten beteiligt sind und auf deren Fortführung dringen.

Spahn, der u.a. auch Mitglied der ‚Kerntechnischen Gesellschaft‘ und des ‚Förderkreises deutsches Heer‘ ist, der auch an der umstrittenen parteiübergreifenden Initiative ‚Generationen- Gerechtigkeit‘ einiger Jung-Parlamentarier beteiligt war, als weiteres Anzeichen dafür, wie Aids- und Gesundheitspolitik insgesamt nach und nach in immer konservativeres Fahrwasser gerät?

Bedacht bei den Zahlen

„Die Schwulen infizieren sich wieder mehr mit HIV“ – so oder ähnlich geistert es langsam wieder durch die Medien. Ein wenig Bedacht mit den Zahlen ist angebracht.

Der Welt-Aids-Tag naht, und viele starren gebannt auf die neuen HIV-Infektions-Statistiken. Die ersten Blogs und Journale vermelden bereits, schon wieder seien die Zahlen gestiegen, die Schwulen wären wieder unvorsichtig, usw. Fast meint man manchmal, eine verquere Sehnsucht nach ‚damals‘ und allerlei Gauweilereien durch die Zeilen riechen zu können.

Aber Vorsicht. Die Zahlen wollen schon interpretiert werden.

Das Robert-Koch-Institut spricht in seinen Statistiken von „neu diagnostizierten HIV-Infektionen“.“Neu diagnostiziert“, nicht „neu infiziert“. Es gilt also, nicht Neu-Infektionen und Neu-Diagnosen miteinander zu verwechseln. Was jetzt gemessen (=diagnostiziert) wird, muss sich nicht auch jetzt (im Betrachtungszeitraum) infiziert haben. Gemessen werden Neu-Diagnosen.

Hinzu kommt: in einigen Städten (wie z.B. schon länger München, jetzt auch Berlin) wird unter Schwulen teils massiv für den HIV-Test geworben [manchmal mit dem mir seltsam anmutenden Gedanken, das sei Primärprävention], werden ganze Testkampagnen durchgeführt.
Das bleibt nicht ohne Folgen, auch für die Statistik: wer viel misst – fördert logischerweise auch mehr Infektionen zutage. Und, da gezielt unter Schwulen der Test propagiert wird, führt dies auch zu einer Erhöhung des Anteils der Gruppe der Schwulen (statistisch MSM) unter den gesamten Neu-Diagnosen.
Und – auch diese Neu-Diagnosen sind nicht zwingend auch (jetzige) Neu-Infektionen.

Aus Anstiegen in den Zahlen also einfach zu schließen, die Zahl der Neu-Infektionen unter Schwulen wäre jetzt gestiegen, wäre gleich zweifach (Neu-Diagnosen ungleich Neu-Infektionen, statistische Auswirkungen der Testkampagnen unter Schwulen) zu kurz gedacht …

Noch eine persönliche Anmerkung:
Auch ich habe Bauchschmerzen bei der Tatsache, dass sich jedes Jahr um die 2.000 Menschen allein in Deutschland mit HIV infizieren. Ja, ich habe „die schlimmen Jahre“ Ende der 80er bis Mitte der 90er Jahre miterlebt, weiß was es bedeutet Aids zu haben, jämmerlich daran zu sterben. Auch ist mir unwohl bei dem Gedanken, wie sehr wir uns daran gewöhnt haben, an diese 2.000 Neu-Diagnosen pro Jahr, sie als etwas beinahe ‚Normales‘ hinnehmen.
Aber wenn wir wirksam dagegen handeln wollen, statt nur plakativ ‚drauf einzuschlagen‘, zu abgestandenem ‚law and order‚ zurückzukehren, dann ist es doch erforderlich bei den Zahlen genauer hinzu sehen. Nicht voreilig bequeme Schlüsse ziehen, die doch oft nur bestehende Vorurteile bestätigen sollen, sondern bedacht analysieren und gezielt handeln.