dagnä: Position zum EKAF-Statement (akt.)

Die dagnä, die Arbeitsgemeinschaft niedergelassener HIV-Ärzte, hat sich erstmals zum EKAF-Statement geäußert.

In ihrer am 27. Oktober 2010 veröffentlichten Position unterstützt die DAGNÄ „in vollem Umfang“ die Stellungnahme, die die DAIG Deutsche Aids-Gesellschaft jüngst zum EKAF-Statement veröffentlicht hat. „Der Vorstand der dagnä schließt sich ausdrücklich der aktuellen Kommentierung der DAIG an.“

In ihrer Position formuliert die dagnä

„Das EKAF-Statement ist gut geeignet, darauf hinzuweisen, dass eine konsequent eingenommene antiretrovirale Kombinationstherapie das Risiko der HIV-Übertragung hochwahrscheinlich und mindestens in derselben Größenordnung reduziert wie das Kondom, wenn aktive sexuell übertragbare Erkrankungen ausgeschlossen sind.“

Sie betont dabei

„Die Schlussfolgerung des EKAF-Statements, eine HIV-Übertragung sei ausgeschlossen, weil der infizierte Partner/die infizierte Partnerin „nicht infektiös“ sei, wird in dieser Formulierung nicht geteilt. Das Risiko einer Übertragung von HIV ist – unter den skizzierten Bedingungen des EKAF-Statements – allerdings sehr gering, aber es ist – insbesondere auf Populationsbasis – nicht vernachlässigbar.“

Auch die dagnä betont die gemeinsame Verantwortung aller beteiligten Partner

„Die dagnä sieht beim Sex eine geteilte Verantwortung beider Sexualpartner, Vorkehrungen zur Vermeidung der Übertragung von HIV zu treffen. Im Einzelfall kann die ärztliche Beratung hier hilfreich sein. Die Übernahme der Verantwortung ist ausdrücklich auch unabhängig vom Serostatus stets von jedem Einzelnen zu fordern.“

Die DAIG Deutsche Aids-Gesellschaft hatte sich Anfang Oktober 2010 erneut zum EKAF-Statement geäußert (siehe „DAIG: Positive Stellungnahme zum EKAF-Statement zur Infektiosität von antiretroviral behandelten HIV-Patienten„; siehe auch Kommentar „Positiv – oder? Gedanken zur neuen Stellungnahme der DAIG zum EKAF-Papier“).

Die dagnä Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter e.V. wurde 1990 gegründet.
Erst jüngst hatten sich DAIG und dagnä in einer gemeinsamen Stellungnahme zur zahnärztlichen Versorgung HIV-Infizierter geäußert.

Als erste Organisation hatte die Deutsche Aids-Hilfe DAH im April 2009 ihre Position zum EKAF-Statement veröffentlicht: „HIV-Therapie und Prävention – Positionspapier der Deutschen AIDS-Hilfe „. Einer der damaligen Kern-Sätze: „Das heißt: Das Risiko einer HIV-Übertragung ist unter den oben genannten Bedingungen so gering wie bei Sex unter Verwendung von Kondomen.“

weitere Informationen:
DAGNÄ 27.10.2010: Die dagnä-Position zu EKAF
DAH 29.10.2010: HIV-Therapie und Infektionsrisiko: dagnä schließt sich DAIG-Stellungnahme an
alivenkickin 29.10.2010: DAIG und DAGNÄ: Stellungnahmen zum EKAF-Statement zur Infektiosität von antiretroviral behandelten HIV-Patienten
Matthias Gerschwitz 29.120.2010: Das »Gummi«-Statement
.

mit HIV beim Zahnarzt: gemeinsame Stellungnahme von DAIG und DAGNÄ (akt.)

Bei der Behandlung HIV-Infizierter beim Zahnarzt gelten keine über Standardhygiene hinaus gehenden hygienischen Anforderungen, betonen zwei ärztliche Organisationen der HIV-Therapie.

Die zwei bei der Versorgung HIV-Infizierter wichtigsten ärztlichen Gesellschaften, die DAIG (Deutsche Aids-Gesellschaft) und die DAGNÄ (Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter) äußern sich in einer gemeinsamen Stellungnahme zur Frage der zahnmedizinischen Betreuung HIV-Infizierter.

Die gemeinsame, an Zahnärztinnen und Zahnärzte gerichtete Stellungnahme formuliert noch einmal das Problem, mit dem sich viele HIV-Positive bei Zahnarzt-Besuchen konfrontiert sehen:

„HIV-Patienten berichten immer wieder darüber, dass es für sie schwer sei, eine adäquate Behandlung für ihre Zahngesundheit zu erhalten. Das Spektrum der Reaktionen, die sie wahrnehmen, reicht von offener Ablehnung und Diskriminierung über Verweise auf arbeitsintensive Hygienerichtlinien bis hin zu verzögerten Terminvergaben und separaten Behandlungszeiten.“

Sie zeigen nochmals einige der problematischen Folgen auf:

„Etliche Patienten fühlen sich auf Grund negativer Erfahrungen mit einer Offenlegung [ihrer HIV-Infektion, d.Verf.] gesellschaftlich stigmatisiert. Das begünstigt Situationen, in denen Patienten ihre Infektionen mit z.B. HIV, HBC oder HCV dem behandelnden (Zahn)Arzt verschweigen. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit wird dadurch oft erheblich erschwert.“

DAIG und DAGNÄ weisen darauf hin, dass die Standard-Hygienemaßnahmen für alle Patienten gleichermaßen gelten und betonen nochmals, dass

„bei der Behandlung HIV-Infizierter keine über die o.g. Maßnahmen hinausgehenden hygienischen Anforderungen gelten bzw. erforderlich sind, um eine HIV-Übertragung zu verhindern.“

DAIG und DAGNÄ weisen explizit hin auf

„die Ergebnisse verschiedener Studien …, die nahe legen, dass sich das Risiko einer sexuellen HIV-Übertragung durch eine effektive antiretrovirale Therapie des HIV-infizierten Partners bei einer im Blut nicht nachweisbaren Viruslast (<50 Kopien HIV-RNA/ml Plasma) drastisch reduziert. Diese Risikoreduktion kann in gewissem Umfang auch für medizinische Eingriffe angenommen werden, obwohl keine verlässlichen Daten dafür vorliegen, und ohne dass sich daraus Änderungen der o.g. Hygienestandards herleiten müssen.“

Hygiene in der Zahnmedizin: HIV-Infizierte und Nicht-Infizierte gleich behandeln“ hatte Dr. med. Albrecht Ulmer, Stuttgart, Anfang Juni 2010 in einem Artikel gefordert – und damit eine Debatte ausgelöst. Das Robert-Koch-Institut reagierte mit der Stellungnahme „Zahnarzt: routinemäßige Hygiene genügt“ und betonte insbesondere: „Nach Behandlung eines Patienten mit HIV-Infektion genügen die routinemäßig erforderlichen Hygienemaßnahmen.“

weitere Informationen:
DAGNÄ / DAIG: Die zahnmedizinische Betreuung HIV-infizierter Menschen (pdf)
.

Danke an Matthias Gerschwitz für den Hinweis !

Freispruch oder Verurteilung – und das Schweigen der Fachgesellschaften (akt.)

Eine erfolgreiche Therapie reduziert die Infektiosität – aber welche Konsequenzen hat das? Insbesondere vor Gericht? Zwei Fachgesellschaften können nicht zu einer gemeinsamen Haltung finden. Die Leidtragenden: die Rechtssicherheit – und Menschen mit HIV, die mit dem Vorwurf der Körperverletzung vor Gericht stehen.

Wenn HIV-Positive vor Gericht stehen, spielt bei der Beurteilung der Frage, wie eine etwaige bzw. mögliche Übertragung von HIV juristisch zu beurteilen ist, neben vielen anderen immer wieder auch die Frage eine Rolle, ob der Positive infektiös war – oder ob aufgrund erfolgreicher Therapie ein reales Infektionsrisiko kaum gegeben war.

Gerichte haben diese Frage in Deutschland in den letzten beiden Jahren immer wieder in unterschiedlichem Umfang berücksichtigt – und sind zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Verkürzt gesagt, von Verurteilung trotz erfolgreicher Therapie bis Freispruch, eben aufgrund erfolgreicher Therapie (und fehlender Infektiosität) – das Spektrum der Urteile ist breit.

Ein Unding, findet der Blogger „diego62“, und wundert sich. Irritiert wendet er sich an die Bundesregierung, bittet um Klarheit. Wie steht es mit der Frage des EKAF-Statements, der Frage der stark reduzierten Infektiosität bei erfolgreicher Therapie, und deren Einbeziehung und Bewertung vor Gericht?
Der Blogger betont in seiner Anfrage an das Bundesministerium für Gesundheit

„Nur in deutschen Gerichten vermisst man diesen Sachverhalt in den Urteilen der letzten Monate. Hier werden, je nach dem der Gutachter den Verhalt auslegt, sehr unterschiedliche Urteile [gefällt; d.Verf.].“
und erläutert seine Anfrage
„Es kann nicht sein, dass hier ein HIV-Positiver unter Nachweisgrenze wegen schwerer (versuchter) Körperverletzung verurteilt wird, weil dem Gutachter/Richter die EKAF-Studie egal oder unbekannt ist und anders wo in einem gleichen Fall ein Freispruch gefällt wird.“

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) betont in seiner Antwort den verfassungsmäßigen Grundsatz der  Gewaltenteilung – ein Ministerium könne keinen „Einfluss auf die rechtsprechende Gewalt nehmen“.
Zugleich betont das BMG die Bedeutung möglicher Stellungnahmen von Fachgesellschaften:

„Bei verallgemeinerungsfähigen Fragestellungen wirken sich allerdings Veröffentlichungen von juristischen Fachkreisen und insbesondere die Rechtsprechung der Obergerichte und des Bundesgerichtshofs vereinheitlichend auf die Rechtsprechung aus.“

.

Das Statement der EKAF Eidgenössischen Kommission für AIDS-Fragen (keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs) hat nach seinem Erscheinen im Januar 2008 (!) bei HIV-Positiven, in Aidshilfen sowie in medizinischen Fachkreisen zu teils aufgeregten Diskussionen geführt. Diese Aufregung hat sich inzwischen gelegt, was einst umstritten war, ist längst weitgehend einhellige Meinung. Nationale und Internationale Organisationen wie UNAIDS und UNDP unterstützen EKAF-Statement und Viruslast-Methode (siehe Nachtrag 09.10.2010).

Das Potential, das in der Stellungnahme liegt, ist auf Seiten von Epidemiologen längst erkannt, bis hin zu Diskussionen über neue Strategien wie „test and treat“ (eine Viruslast unter der Nachweisgrenze senkt drastisch die Infektiosität, dadurch sinkt in Folge auch die Zahl der HIV-Neuinfektionen – möglichst viele Positive möglichst früh zu behandeln, könnte also helfen die Zahl der neuen HIV-Infektionen niedriger zu halten).

Die Deutsche Aidshilfe hat nach intensiven Diskussionen inzwischen (seit April 2009 !) längst eine Position zum EKAF-Statement (HIV-Therapie und Prävention – Positionspapier der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. (DAH)). Sie kommt hierin zu der klaren Aussage

„Das heißt: Das Risiko einer HIV-Übertragung ist unter den oben genannten Bedingungen so gering wie bei Sex unter Verwendung von Kondomen.
Unsere bisherigen Safer-Sex-Botschaften werden durch diese Aussage sinnvoll und wirksam ergänzt; in der Prävention eröffnen sich dadurch neue Möglichkeiten.“

Die DAH spricht in Übersetzung des EKAF-Statements in die Praxis der Aids-Arbeit von der

„Präventionsmethode „Senkung der Viruslast unter die Nachweisgrenze““

Nicht einigen hingegen können sich – auch zweieinhalb Jahre nach Vorliegen des EKAF-Statements – anscheinend die beiden in Deutschland zuständigen Fachgesellschaften, die Deutsche Aids-Gesellschaft (DAIG) und die Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte für die Versorgung HIV-Infizierter (DAGNÄ).

Diese Uneinigkeit der betreffenden Fachgesellschaften führt zu eben jener Rechtsunsicherheit, die der Blogger in seiner Anfrage an das BMG moniert hat. Eine Rechtsunsicherheit, die bei ihm den Eindruck erweckt, dass

„eine Verurteilung oder ein Freispruch eher vom Gutdünken oder Informationsstand eines Sachverständigen abhängt, nicht jedoch von einer wirklichen Gefährdung durch den Betroffenen.“

Der Blogger steht mit seiner Wahrnehmung nicht allein. Auch Corinna Gekeler und Karl Lemmen (Deutsche Aids-Hilfe) kommen in ihrem Beitrag „(Versuchte) HIV-Übertragungen vor Gericht: Welche Rolle spielt eine nicht nachweisbare Viruslast?“ zu dem Schluss:

„Man kann sich hier im Moment auf nichts verlassen und ist in jedem Fall der „Willkür“ der jeweils geladenen Gutachter ausgeliefert. Zumindest so lange, wie Fachverbände wie DAIG und DAGNAE hier nicht mit einer Stimme sprechen.“

Eine klare und soweit möglich eindeutige Haltung der beiden zuständigen Fachgesellschaften könnte hier, darauf weist das Bundesministerium für Gesundheit in seiner Antwort nochmals explizit hin, zu deutlich mehr Rechtssicherheit vor deutschen Gerichten führen.

DAGNÄ und DAIG hatten zweieinhalb Jahre Zeit, ihre Position zu finden und aus beiden Haltungen eine gemeinsame Stellungnahme zu entwickeln. Allein, eine klare und gemeinsame Haltung fehlt bisher weiterhin. Im Gegenteil, in Gesprächen könnte manchmal der Eindruck entstehen, beide Gesellschaften verträten beinahe entgegengesetzte Meinungen …

Freispruch oder Verurteilung – die Konsequenzen, die nahezu gleiche Sachverhalte aufgrund des Nicht-Berücksichtigens des EKAF-Statements sowie des Fehlens einer gemeinsamen Stellungnahmen der beteiligten Fachgesellschaften haben, sind gravierend. Zu Lasten der Rechtssicherheit, und zu Lasten derjenigen Menschen mit HIV, die mit dem Vorwurf der Körperverletzung vor Gericht stehen.

Zweieinhalb Jahre sollten genügen, seine Position zu finden und mit dem ‚Kollegen‘ abzustimmen – es wird Zeit, dass sich etwas tut, dass beide Fachgesellschaften endlich zu einer den heutigen Realitäten gerecht werdenden gemeinsamen Stellungnahme kommen.

.

.

Nachtrag 14.8., 23:45:
(1) Man kann das Thema auch anders angehen: Prof. Pietro Vernazza, einer der Väter des EKAF-Statements: „Ein weiteres Ziel des EKAF-Statements war gewesen, die in der Schweiz bis dahin recht häufigen Verurteilungen von HIV-Positiven (wegen Gefährdung Anderer trotz Beachtung der genannten Voraussetzungen) zu reduzieren. Dies ist gelungen.“ (nach einem Bericht „EKAF-Statement: 2 Jahre danach „)
(2) Zwar gab es Anfang 2008 den Versuch einer „Gemeinsame Stellungnahme von DAH, DAIG, DAGNÄ, RKI, BZgA, WZB“. Bekannt wurde aus dem Treffen allerdings nur eine „Gemeinsame Stellungnahme – Die bewährten Präventionsbotschaften zum Schutz vor HIV/AIDS gelten nach wie vor“ vom 27.2.2008, gezeichnet damals von BZgA, RKI und DAH – nicht DAIG und DAGNÄ. Diese Stellungnahme sprach von „Gefährdungslage“ und Kondomen als entscheidendem Schutz. Zum Versuch einer gemeinsamen Stellungnahme vermeldet der HIV-Report nach einem Jahr (Ausgabe vom 25.2.2009) lakonisch „nicht miteinander vereinbare Positionen bei den Akteuren“.
(3) Die DAIG ringt sich in einer Stellungnahme vom 23.4.2009 immerhin zu der Aussage durch „Auch durch die erfolgreiche Unterdrückung der Virusvermehrung mittels wirksamer antiretroviraler Therapie wird die Übertragung von HIV deutlich reduziert“ – schließt allerdings kurz darauf an „Sie [die DAIG, d.Verf.] weist jedoch darauf hin, dass diese Annahme überwiegend auf Modellrechnungen beruht und für den einzelnen Menschen weiterhin ein fassbares Risiko der HIV-Infektion besteht.“ Sie betont „Aus Sicht der DAIG lässt sich das Problem der HIV-Übertragung nicht strafrechtlich lösen.“ Neuere Stellungnahmen der DAIG zum EKAF-Statement und der Frage der Infektiosität bei HAART, auch angesichts neuer wissenschaftlicher Publikationen, sind nicht bekannt.
(4) Von der DAGNÄ sind keine Stellungnahmen zum EKAF-Statement bekannt.

Nachtrag 09.10.2010:
UNAIDS hat sich vor dem Human Rights Council zur Reduktion der HIV-Transmission durch Therapie geäußert und auch auf das EKAF-Statement verwiesen, sich jedoch nicht zur Frage des Kondomgebrauchs geäußert.

 

 

Diego62 19.07.2010: Rechtssicherheit
Diego62 13.08.2010: Antwort vom Bundesministerium für Gesundheit
Deutsche Aids-Gesellschaft (DAIG)
Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte für die Versorgung HIV-Infizierter (DAGNÄ)
„HIV-Transmission und Schutzmöglichkeiten für diskordante Paare – Gemeinsame Stellungnahme von DAH, DAIG, DAGNÄ, RKI, BZgA, WZB“. in: HIV-Report 04/2008 (pdf)
BZgA, RKI, DAH 27.02.2008: Gemeinsame Stellungnahme – Die bewährten Präventionsbotschaften zum Schutz vor HIV/AIDS gelten nach wie vor
„The Year After“. in: HIV Report 01/2009 (pdf)
infekt.ch 01.02.20210: EKAF-Statement: 2 Jahre danach
DAIG / presseportal 23.04.2009: Stellungnahme der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG) zur Frage der Infektiosität von Patienten unter HIV-Therapie
.

(Versuchte) HIV-Übertragungen vor Gericht: Welche Rolle spielt eine nicht nachweisbare Viruslast?

Immer wieder stehen auch in Deutschland Menschen vor Gericht mit dem Vorwurf, andere fahrlässig oder vorsätzlich mit HIV infiziert zu haben. ‚Bei mir ist die Viruslast unter der Nachweisgrenze‘, mag der ein oder andere denken, sich an das EKAF-Statement und die Viruslast-Methode erinnern. Doch – wie sieht es in der Realität vor Gericht aus? Welche Bedeutung haben Viruslast und EKAF-Statement vor Gericht?  In einem Gastbeitrag beleuchten Corinna Gekeler und Karl Lemmen von der Deutschen Aids-Hilfe drei aktuelle Urteile und ihre Bedeutung.

(Versuchte) HIV-Übertragungen vor Gericht – Welche Rolle spielt eine nicht nachweisbare Viruslast?

von Karl Lemmen & Corinna Gekeler, Deutsche AIDS-Hilfe

Die deutsche Rechtsprechung weist große Unterschiede auf. Insbesondere die Viruslust unter HAART wird sehr verschieden beurteilt. Würde man die „EKAF-Kriterien“ auch als rechtstaugliche Maßstäbe 1:1 umsetzen, müsste die von den Schweizern vorgesehene Herstellung eines Informed Consent zwischen den Beteiligten nämlich auch eine Rolle spielen.
Wir  dokumentieren hier aktuelle Fälle aus der Presse und ergänzt die Bewertung eines Würzburger Urteils aus 2007 durch neue Information aus einem medizinrechtlichen Fachblatt.

Urteil 1: Fulda
Das Amtsgericht Fulda verurteilte Anfang März eine 32-Jährige zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr1. Der HIV-Positiven wurde zur Last gelegt, durch ungeschützten Sex eine Infektion ihres 41-jährigen Freunds „billigend in Kauf“ genommen zu haben. Die Frau erwartet das zweite Kind von ihrem Partner, der inzwischen wieder ungeschützten Sex mit ihr habe. Weder er noch das erste Kind wurden infiziert, jedoch ein Kind aus erster Ehe. Der Ex-Mann hatte laut Berichten in der Lokalpresse ausgesagt, seinen Nachfolger von der HIV-Infektion seiner Ex-Frau informiert zu haben. Auch die Verurteilte bestritt, über ihre Infektion gelogen oder geschwiegen zu haben.
„Zudem habe ihr eine Ärztin gesagt, die Viruslast sei so gering, dass sie nicht ansteckend sei. Doch während eines Gesprächs mit dem Richter hatte die Ärztin dieser Behauptung widersprochen. Auch ein medizinischer Sachverständiger aus Fulda, bei dem die Angeklagte in Behandlung ist, gab an, dass man eine Ansteckungsgefahr nie ganz ausschließen könne“, so die Lokalpresse.

Urteil 2: Kiel
Seit April 2010 ist ein 47-Jähriger wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen (HIV-Übertragungen) und wegen versuchter Körperverletzung in fünf Fällen vor dem Kieler Landgericht angeklagt. Der HIV-Positive sitzt wegen Wiederholungsgefahr seit Oktober 2009 in U-Haft. Als Zeuginnen geladene Sexpartnerinnen sagten aus, er habe in Internetforen gezielt „Sex ohne Gummi“ gesucht.
Er gibt zu, seine HIV-Infektion trotz ausdrücklicher Nachfragen seiner Partnerinnen zum Teil verschwiegen und in einem Fall sogar geleugnet zu haben. Dies verteidigt er damit, dass er sich immer „super“ gefühlt habe und aufgrund seiner nicht nachweisbaren Viruslast davon ausgegangen war, nicht mehr ansteckend zu sein. Er hatte sogar die Medikamente einige Zeit abgesetzt, da er sich für „geheilt“ hielt. Auf Anraten seines Arztes nimmt der Angeklagte jetzt wieder HIV-Medikamente, obwohl er sich über die Notwendigkeit wundere. Die Idee, dass die Viruslast ohne die Pillen wieder steigt, sei ihm nicht gekommen. Er habe sich darüber keine Gedanken mehr gemacht. Sein Arzt sagte vor Gericht aus, er habe den Mann auf die weiterhin bestehenden Risiken hingewiesen. Weitere Experten stellten dem interessierten Richter die Bedeutung der Viruslast vor, was wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde.
Voraussichtlich im Juni und Juli werden drei weitere Verhandlungstage folgen. Momentan wird ein psychiatrisches Gutachten über den Angeklagten erstellt.2

Urteil 3: Würzburg
INFO erfuhr neue, interessante Details zu einem Urteil vom Landesgericht Würzburg aus dem Jahr 2007 (1) aus einem Beitrag im Fachblatt für Medizinrecht (2). Darin schreibt RA Dr. Jörg Teumer, der Angeklagte wurde wegen gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung in neun Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Aufgrund antiretroviraler Mittel sei seine Viruslast unter der Nachweisgrenze gewesen, wodurch er davon ausgegangen war, es könne keine Übertragung stattfinden. Bei einer der Partnerinnen konnte medizinisch eine auf den Angeklagten zurückgehende HIV-Infizierung nachgewiesen werden.
Das Gericht betonte, dass bei den Sexualpartnerinnen, die über die HIV-Infektion Bescheid gewusst und dennoch mit dem angeklagten sexuell verkehrt hätten, eine strafausschließende eigenverantwortliche Selbstgefährdung bzw. eine wirksame Einwilligung vorliege, aus der sich keine Strafbarkeit ergebe. Ein solcher „Informed Consent“ zur Selbstgefährdung bietet demnach weiterhin Schutz vor Klagen oder gar Verurteilungen – unabhängig von der Höhe der Viruslast. Aber natürlich nur, wenn die Absprache allen Beteiligten ‚erinnerlich‘ ist.
Was die Beurteilung der Viruslast im Infektionsgeschehen betrifft, gibt es nach wie vor unterschiedliche Expertenaussagen. Gerichte urteilen ebenfalls sehr unterschiedlich, wie dieses Würzburger Urteil und der Nürtinger Fall belegen.

Für den Autor Jörg Teumer trägt das LG Würzburg mit seinem Urteil dem aktuellen Behandlungsstand Rechnung: „Solange es keine 100 % sicheren wissenschaftlichen Belege dafür gibt, dass eine Infizierung Anderer bereits aufgrund der regelmäßigen Einnahme dieser Medikamente vollständig (!) ausgeschlossen ist, darf eine Kondombenutzung beim Sexualverkehr nicht unterbleiben und führt das Unterlassen dieser Schutzmaßnahme zur Strafbarkeit. Ärzte, Apotheker oder Mitarbeiter von Aids-Beratungsstellen etc., die dennoch einen Sexualverkehr ohne Kondombenutzung befürworten oder gar anregen, laufen daher Gefahr, sich wegen Beihilfe oder Anstiftung zu einem Körperverletzungsdelikt strafbar zu machen.“

Fazit
Die Urteile aus Fulda und Würzburg zeigen, dass das Thema Viruslast in den Gerichten angekommen ist und wie unterschiedlich es bewertet wird, nämlich meist in Abhängigkeit von der Stellungnahme der geladenen medizinischen Experten. Man kann sich hier im Moment auf nichts verlassen und ist in jedem Fall der „Willkür“ der jeweils geladenen Gutachter ausgeliefert. Zumindest so lange, wie Fachverbände wie DAIG und DAGNAE hier nicht mit einer Stimme sprechen.
Ein Ausweg für alle Fälle (unabhängig von der Viruslast) könnte die Herstellung eines „Informed Consent“ zum Kondomverzicht sein; denn wer im Wissen um die HIV-Infektion des Gegenübers in ungeschützten Sex einwilligt, der begeht eine „strafausschließende Selbstgefährdung“. Frage ist natürlich, wie realistisch eine Vereinbarung ist, und ob man bei Bedarf immer Papier und Bleistift zur Hand hat bzw. haben möchte, um sich vor Gericht vor eventuellen „Erinnerungslücken“ seiner Sexualpartner schützen zu können.

(1) Quellen: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,679064,00.html und http://www.fuldaerzeitung.de/newsroom/regional/Fulda-amp-Region-Ungeschuetzter-Sex-HIV-Infizierte-verurteilt%3Bart25,251310
(2) Quellen: http://breaking-news.de/blog/2010/04/05/kiel211-hiv-infizierter-bestreitet-ausreichende-kenntnis-von-ansteckungsgefahr/, http://www.kiel-informativ.de/news-442.html und ein mündlicher Bericht einer Prozessbesucherin
(3) 1 Ks 901 Js 9131/2005 25
(4) RA Dr. Jörg Teumer: Neues zum Thema Aids und Strafrecht. In: MedR 2010 Heft 1

Vielen Dank an Corinna Gekeler und Karl Lemmen für diesen Beitrag!

Fortsetzung: „Kieler Urteil gegen HIV-Positiven: Fünf Jahre in Haft & Psychiatrie-Unterbringung

die Kosten von HIV – alles eine Frage des Geldes?

In einer bereits seit längerer Zeit laufenden Studie wird in Deutschland untersucht, welche Krankheitskosten HIV-Positive verursachen. Brisantes Material für gesundheitspolitische Diskussionen. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie … ja wen?

„Krankheitskosten- Kohortenanalyse (K3A)“ – so nennt sich kurz und knapp eine Studie, die die DAGNÄ (Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter) zusammen mit dem Lehrstuhl für Medizinmanagement der Universität Duisburg-Essen derzeit durchführt.

Ziel der Untersuchung, so die Autoren, sei es, „die Krankheitskosten der HIV-Infektion in Deutschland anhand eines in HIV-Schwerpunktpraxen behandelten Patientenkollektivs zu erheben“. Die Kosten sollen dabei sowohl „aus Sicht der Gesellschaft“ als auch „aus der Perspektive der Krankenkassen“ dargestellt werden.
Die Studie läuft bereits seit 1. Januar 2006 (erste Einschleusung von Patienten). Die Rekrutierung der insgesamt 630 Patienten an 34 teilnehmenden Zentren ist inzwischen abgeschlossen. Für jeden Patienten sollen 18 Monate lang Daten gesammelt werden; die Datenerhebung soll Mitte 2009 abgeschlossen sein. Mit ersten Ergebnissen wird für Ende 2009 gerechnet.

Welche Art Ergebnisse?
Die Autoren dazu: Die Ergebnisse werden „erstmalig eine Abschätzung der finanziellen Belastung für die Gesellschaft durch die HIV-Erkrankung ermöglichen“. Zudem sollen sie „eine Aussage darüber zulassen, welche finanziellen Ressourcen die GKV [Gesetzliche Krankenversicherung, d.Verf.] für diese Erkrankung aufbringen muss“. Die Studie soll „Informationen für die gesundheitspolitische Diskussion zur Allokation [Zuteilung, Bereitstellung, d.Verf.] von Ressourcen erbringen“.

Welche Art Ergebnisse zu welchen Fragen mit den Daten der Studie möglich werden, lässt sich u.a. aus dem Aufbau der Studie und Daten erahnen.

So sollen im Rahmen der Studie verschiedene Sub-Gruppen untersucht werden, Therapie-naive Positive (ohne ART) genauso wie Positive unter ihrer ersten, zweiten oder dritten ART oder unter vierter und weiterer ART.
Analysiert werden soll in der Studie „ggf.“ auch auf andere Sub-Gruppen, nämlich die ‚HIV-Transmissions-Risiko-Gruppen‘ (sprich: Männer die Sex mit Männern haben (MSM), iv-DrogengebraucherInnen, über heterosexuelle Kontakte Infizierte, ‚Personen aus Endemiegebieten‘).

Zudem sollen bei den Daten zu den einzelnen Patienten „Umstellungs- und Abbruchgründe dokumentiert“ werden – wiederum, um „Subgruppen bilden zu können“.
Abgefragt (und vermutlich ausgewertet?) wird u.a. weiterhin auch die „psychosoziale Situation des Patienten“ (siehe „Arztcheckliste“, hier als pdf), sowie ob der Patient die Pillen regelmäßig, termintreu und zeitgerecht nimmt (mit mindestens sieben detaillierten Fragen, siehe pdf hier, Seite unten links vergrößern, oder der gesamte ‚Patienten-Reminder‘ als pdf hier).

Über eine etwaige Beteiligung von HIV-Positiven oder der Deutschen Aids-Hilfe bei der Studien-Gestaltung oder -Auswertung ist nichts bekannt.

.

Die HIV-Infektion ist eine kostenintensive Erkrankung, sowohl in ihrer medikamentösen Therapie (Kosten der Aids-Medikamente) als auch der Betreuung und Behandlung der Patienten, keine Frage. Und ‚Wirtschaftlichkeit‚ ist längst eines der Entscheidungskriterien auch im deutschen Gesundheitswesen.
Aber – ist diese Studie erforderlich, sinnvoll? Für wen?

Worum geht es den Initiatoren? Wirklich um „gesundheitspolitische Diskussion“? Man könnte -wenn man sich den Begriff der ‚Ressourcen-Allokation einmal auf der Zunge zergehen lässt- beinahe den Eindruck gewinnen, dass Ärzte mehr Geld erhalten wollen und dafür Argumente suchen? Ein Artikel aus 2006 (pdf hier), der bezeichnenderweise die Studie u.a. in den Zusammenhang des ‚Bundesmantelvertrags HIV‚ (Schlagzeile ‚das liebe Geld‘) stellt, weist vielleicht den Weg …

Die Daten und Ergebnisse dieser Studie, wenn sie erst einmal in der Welt sind, dienen aber sicherlich nicht nur ärtzlichen Entlohnungs-Debatten.
Was sich zunächst harmlos anhört, könnte gewaltige Sprengkraft entwickeln. Die Daten, die zunächst ‚unschuldig‘ wirken, könnten brisante Ergebnisse bringen – und noch brisantere Folge-Diskussionen.

Nur einige erste Beispiel: angenommen z.B. die Daten zeigen, dass DrogengebraucherInnen im Vergleich zu Schwulen ‚teurere‘ Patienten sind. Oder Migranten, oder Asylbewerber. Oder dass Therapie-Abbrecher oder Menschen mit Problemen bei der ‚Therapietreue‘ weit höhere Gesamtkosten verursachen.
Was geschieht dann mit diesen Daten, wenn sie erst einmal in der Welt sind? Wer ‚wertet‘ sie aus? Wer zieht aus ihnen politische Konsequenzen?

Ob an der Studie beteiligten Positiven bewusst ist, welche Aussagen mit ihren Daten möglich werden könnten? Oder dass sie, falls sie ihre Kombi in nennenswertem Umfang nicht vollkommen korrekt einnehmen, ihre Chroniker-Regelung (Chronikerregelung: 1% Zuzahlung statt 2%) gefährden könnten (genau wegen fehlender Therapietreue)? Und dass für Politiker, die genau diese Leistungseinschränkungen durchsetzen wollen, Studien wie diese auch noch die erforderlichen Daten und Argumente liefern könnte?

Oder die bewusste Wahl auch der Perspektive der Krankenkassen für die Datenauswertung. Wenn Kassen jetzt schon versuchen, nach dem Sex-Partner zu fragen, durch den eventuell eine Infektion stattgefunden haben könnte (wegen möglicher Kosten-Regressforderungen, siehe ‚Fall Barmer‚), was wird dann erst mit Daten zur Ökonomie von Therapie, Therapietreue und Therapieabbruch angestellt? Wo „Therapietreue“ eh gerade als Kriterium der GKV eingeführt werden soll?

Ob den Autoren der Studie bewusst ist, welche Büchse der Pandora sie möglicherweise aufmachen?
Bedenken mögen zunächst unbegründet oder ‚ängstlich‘ erscheinen. Wenn ich jedoch allein einmal daran denke, dass Begriffe wie Verantwortung, Eigenverantwortung, Schuld zunehmend Einzug in den gesundheitspolitischen Diskurs halten, sich selbst in Gesetzesentwürfen und -texten wiederfinden …

Die aktuelle Ausgabe des ‚Retrovirus Bulletin‘ mit dem Artikel „HIV-Behandlung – die gesundheitsökonomische Perspektive“ (S.1-3) steht hier als pdf online.
Die Studie wird auch im Rahmen der (in Berlin stattfindenden) Münchner Aids-Tage präsentiert – am 15. März 2008, Workshop B27