Interview mit Michèle Meyer, Präsidentin von LHIVE, der Organisation von Menschen mit HIV und AIDS in der Schweiz. Michèle Meyer weiß seit 1994 von ihrer HIV-Infektion. Die 43Jährige ist Mutter zweier Kinder.
Michèle, du bist Präsidentin von LHIVE. Wie kam es zur Gründung von LHIVE?
Nachdem die nationale Organisation P.W.A-Schweiz [PWA = People with Aids, Menschen mit Aids, d.Verf.] 1997 liquidiert wurde, gab es nur noch vereinzelte, kleine, regionale Organisationen. Eine Handvoll AktivistInnen hatte schon länger im Sinn endlich wieder etwas ins Leben zu rufen, als uns das Schweizer AIDS-Forum im Dezember 2005 die nötige Plattform gab um laut darüber nachzudenken. Wir stellten dieselben Bedürfnisse in einer grösseren, anwesenden Gruppe von Menschen mit HIV und AIDS fest und sind das Wagnis mit sofortiger Aufbauarbeit eingegangen.
Unschwer erkennbar war damals eine große Unzufriedenheit mit einerseits dem Einzel- Klienten-Status, den Menschen mit HIV und AIDS bei der AIDS-Hilfe Schweiz inne haben und andererseits mit der Privatisierung und Isolation in einer spürbar repressiven und unsolidarischen Alltagsrealität, die immer mehr von den realen Möglichkeiten eines Lebens mit HIV und AIDS abwich.Wir haben uns zu zehnt durchgebissen und konnten am 5. Mai 2007 LHIVE mit 45 Gründungsmitglieder ins Leben rufen.
Was sind die Ziele von LHIVE?
Ich zitiere aus unserem Leitbild: Das Ziel von LHIVE ist E-Quality.
E-Quality steht für Gleichstellung von Menschen mit HIV und AIDS und eine vom Serostatus unabhängige Lebensqualität in allen Lebensbereichen. Das bedeutet eine Lebenserwartung und Lebensqualität, die mit jener der Gesamtbevölkerung übereinstimmt.
Um unser Ziel zu erreichen, müssen wir uns mit den Themen Stigma, Selbststigma, Solidarität und Diversität auseinandersetzen und uns der aktuellen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Haltungen und Veränderungen bewusst sein.
Wir nutzen Selbstvertretung, Selfempowerment, GIPA ( greater involvement of people living with HIV and AIDS, der Einbezug von Menschen mit HIV und AIDS auf allen strategischen und operativen Ebenen der AIDS- Arbeit. Siehe dazu: Paris 1994 Unaids) , Visibilität, Aufklärung und Networking als Arbeitsinstrument.
Was heißt das konkret?
LHIVE gibt der Überwindung von Selbststigma ein großes Gewicht. Bei größtem Respekt vor den persönlichen Lebenshintergründen des Einzelnen, wollen wir die Menschen mit HIV/AIDS in die Lage versetzen, ihre Selbstverwirklichung ohne Bezug auf das Virus und die entsprechenden negativen Effekte, umzusetzen.
Grundpfeiler unserer Zielsetzung und Voraussetzung für nachhaltige Prävention ist Solidarität.
Wir orientieren uns an der Paris Deklaration und den Denver Principles.
Das heißt, wir befähigen uns selbst, in allen relevanten Gremien zu den aktuellen Themen rund um HIV und AIDS mitbestimmen zu können. Wir arbeiten aktiv bei der strategischen Gestaltung der schweizerischen AIDS-Arbeit mit.
Jüngst ist ja der Beschluss der EKAF zu Infektiosität bei erfolgreicher Therapie erschienen. Waren Menschen mit HIV/Aids an dem Entstehen dieser Stellungnahme in der Schweiz in irgend einer Form beteiligt?
Ja, das waren wir. Und sind es noch. LHIVE hatte bereits im März 2007 innerhalb der nationalen HIV und AIDS-Landschaft deutlich dazu aufgefordert die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Nicht-Infektiosität öffentlich kohärent zu kommunizieren. Wir haben klar Stellung genommen für eine transparente Aufklärung der gesamten Bevölkerung, um der Glaubwürdigkeit der Prävention nicht weiter zu schaden, und um der Zensur auf Kosten der Lebensqualität von Menschen mit HIV und AIDS ein Ende zu setzen.
Die EKAF und das Bundesamt für Gesundheit musste damit rechnen, dass wir nicht mehr lange warten und das Schweigen brechen würden auch ohne Rückendeckung.
Wie das?
LHIVE ist seit März 2007 ständiger Gast bei der EKAF und seit Januar dieses Jahres stimmberechtigtes Mitglied der Komission. Wir konnten zwar stimmlos aber beratend bei der Vernehmlassung zur Veröffentlichung mitwirken.
Rund um die Veröffentlichung hatte Herr Prof. Vernazza unsere Organisation angefragt in zwei, drei Medienbeiträgen mitzuwirken. LHIVE hat dann auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung hin auch eine eigene Medienmitteilung versandt.
Ich habe vor kurzem von dir auf die Stellungnahme der EKAF und einige aufgewühlte Reaktionen hier in Deutschland die einfache Frage gelesen „warum freuen wir uns nicht einfach?“
Ja, warum freuen wir uns nicht einfach?
Ich glaube, da spielen viele Faktoren eine Rolle:Die Angst vor der noch grösseren Entsolidarisierung. Infektiös gegen nichtinfektiös als neue Gruppierungsmöglichkeit. Dann die Angst vor neuen Abhängigkeiten und Zwängen.
Und die tief verwurzelte Spannung zwischen den eigenen Interessen und dem Märtyrium. Dieses „AIDS stops with me“ in uns, diese dringende Aufopferung in der Primärprävention und die Unmöglichkeit sich davon ganz zu lösen, weil wir sonst nur noch außerhalb der Gesellschaft stehen und die ahnbaren Folgen und Konsequenzen davon, verhindern nackte, auf uns selbst bezogene Freude.
Du hast geäussert, viele „HIV-Positive verstecken sich nicht zuletzt, weil sie keine Möglichkeit sehen, dem Bild des hochgefährlichen und verantwortungslosen (und unanständigen) Menschen, das in der Öffentlichkeit noch immer vorherrscht, zu begegnen“.
Sicher sind immer noch viele HIV-Positive nicht ‚offen‘. Aber gibt es dieses Bild des hochgefährlichen, verantwortungslosen Positiven heutzutage noch so?
Ja. Es hat sich nicht viel verändert in den letzten 25 Jahren. Die HIV-Infektion ist eine unanständige Krankheit der Anderen, der Fremden.
Dieses Bild wurde teilweise auch durch Präventionsbotschaften und -Strategien bewusst hochgehalten, oder zumindest in Kauf genommen, als Mittel zum Zweck: Das Schüren von Angst, Verunsicherung vor und somit Ausgrenzung von Menschen, von Menschen mit HIV und AIDS sollte weitere Infektionen verhindern.
Darunter fällt auch das (8!) jahrelange Verschweigen der Erkenntnisse rund um die Infektiosität/ Nicht-Infektiostät, das Benennen der Zielgruppen bzw. die wiederholte Bekanntgabe in welche Zielgruppe wie viele Neu-Diagnosen stattfinden, die Plakatkampagnen (in der Schweiz) von den Degenfechterinnen über die armen versteckten Opfer…
Wird der neue Beschluss der EKAF Auswirkungen auch im Bereich ‚HIV und Strafrecht‘ haben?
Das hoffen wir natürlich sehr. Das Epidemiegesetz ist soeben in der Vernehmlassung für die Revision (einer Art schriftlichen Anhörung mit „Korrektur“wünschen bei Parteien, Kantonen, beteiligten Behörden und Akteure der zivilen Gesellschaft, als Arbeitsgrundlage für die Entscheidungsorgane). Wir arbeiten in dieser Vernehmlassung mit, und die bereits unterbreiteten Vorschläge z. B. zur Änderung des Artikel 231 des StrafGesetzBuches weisen in diese Richtung. Das heißt, die Rechtssprechung würde dann nur die „böswillige Übertragung“ betreffen und nicht mehr die „versuchte Verbreitung“ einer gefährlichen menschlichen Krankheit.
Noch einmal zurück zu LHIVE. „Menschen mit HIV und Aids Gesicht und Stimme geben“, ist das Motto von LHIVE. In Deutschland gibt es ja keine große bundesweite Organisation von und für Menschen mit HIV/Aids. So mancher mag sich da fragen: warum ist das nach 25 Jahren Aids immer noch erforderlich?
HIV und AIDS ein Gesicht und eine Stimme zu geben? Unsichtbarkeit täuscht schon länger. Wenn wir uns nicht hörbar und sichtbar den Herausforderungen stellen, werden wir in der Privatisierung und Globalisierung untergehen. Das klingt plakativ, und soll es auch. Weißt Du, wir sind länger schon gut eingebettet, verwaltet und verpflegt mit medizinischen und rechtlichen Informationen, Kursen und Kürschen, etwas touchy-feely und viel individuell zugeschnittenen Feuerwehrübungen, Beratungsangeboten und auch alltäglicher und finanzieller Hilfe. Alles aber immer unter dem Aspekt des Kliententums und des Opfer-Täter-Schemas.
Das birgt einiges an guter Versorgung und Sonderstatus, aber es ist auch eine Falle, es zementiert schlussendlich nur Stigma und Selbststigma. Und genau da wollen wir entgegenwirken: der Weg in eine Normalität, in der die HIV-Infektion gesundheitliche Einschränkungen bedeutet, denen mann und frau sich widmen und eigene Ressourcen freilegen und nutzen kann, ohne sich an Fremdbild und Selbstbild andauernd abzustrampeln, führt über hör-und sichtbar Werden, über Einmischung und Integration.
Michèle, vielen Dank für dieses Interview!
Mehr Informationen zu LHIVE finden Interessierte auf www.lhive.ch
Oder auf dem Postweg: LHIVE 4434 Hölstein Schweiz, Tel: 0041 61 951 20 88