HIV-Test – eine positive Perspektive

Derzeit wird auch in Europa und Deutschland eine (leider nicht sehr offene und zu wenig wahrgenommene) Debatte geführt um die Zukunft des HIV-Tests (siehe „quo vadis HIV-Test?„) – gerade heute auf dem Workshop über die Zukunft der HIV-Testung in Deutschland.
Gerade Menschen, die bereits eine Diagnose HIV-positiv hinter sich haben, verfügen über vielfältige Erfahrungen, was es bedeutet, als HIV-positiv diagnostiziert zu werden, wissentlich und dokumentiert mit HIV zu leben.

Die Frage der Zukunft des HIV-Tests aus positiver Perspektive – einige Gedanken:

Leben mit HIV hat sich verändert – gottseidank. Die Zeiten, in denen Freunde oder Bekannte reihenweise starben, wöchentlich mehrere Trauerkarten sich im Briefkasten fanden, sind vorbei. Ebenso seit Ende der 1990er Jahre die Zeiten, in denen keine oder fast keine wirksamen Medikamente zur Verfügung standen, die Diagnose ‚HIV-positiv‘ unweigerlich baldiges Aids, baldiges Leid, baldigen Tod zu bedeu­ten schien.

Doch die Diagnose ‚HIV-positiv‘ ist auch heute noch weit davon entfernt, der inzwischen so oft gehörten Bezeichnung ’normal‘ gerecht zu werden. Die Diagnose ‚HIV-positiv‘ ist etwas völlig anderes als die Diagnose ‚hohe Cholesterinwerte‘. HIV-positiv zu sein ist keine Bagatelle.

Leben mit HIV, das heißt auch heute, 2009, noch immer
– sozialrechtlich mit massiven Einschränkungen konfrontiert zu sein. Eine ba­nale Lebensversicherung abzuschließen, oder gar eine Berufsunfähigkeits- oder private Renten-Versicherung – für HIV-Positive immer noch nahezu ein Ding der Unmöglich­keit. Dies bedeutet nicht nur, dass z.B. die eigene Altersvorsorge drastisch gefährdet, oft unmöglich gemacht wird – sondern gefährdet auch berufliche Kar­rieren, wenn z.B. eine Selbständigkeit, ob als Handwerker oder Unternehmer, an der unmöglichen Ab­sicherung über eine Lebensversicherung scheitert.
– mit Medikamenten zu leben, die mit teils massiven Neben- und Langzeitwir­kungen und Beeinträchtigungen der Lebensqualität behaftet sind. Fettumverteilungsstörungen (Lipodystrophie-Syn­drom) führen dazu, dass HIV-Positive erneut als ‚Aids-Kranke‘ erkenntlich und Stigmatisierung ausgesetzt sind. Die Kosten möglicher Therapien hiergegen werden von Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung weiterhin nicht übernom­men.
– Viele Menschen mit HIV haben immer noch mit massiven Problemen und Einschränkungen im Arbeitsleben bis hin zu Berufsverboten zu rechnen.
– Menschen mit HIV sehen sich strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt, wobei ihnen oftmals einseitig die alleinige Verantwortung für Schutz zugeschoben werden soll.
– Gesellschaftlich werden HIV-Positive auch weiterhin ausgegrenzt, stigmatisiert, diskriminiert. In viele Staaten ist die Einreise als HIV-Positiver verwehrt oder stark erschwert, ein Aufenthalt streng reglementiert.

Die Diagnose ‚HIV-positiv‘ stellt schon aus diesen beispielhaften Gründen einen tief greifen­den Einschnitt in das Leben, in die künftige Biographie eines Menschen dar. Dies bedeutet auch, dass die Entscheidung, einen HIV-Test durchführen zu lassen, vorbereitet, wohl überlegt und gut informiert getroffen werden sollte – und nicht aus der momentanen Situation heraus, spontan.

Dies gilt auch für andere wohlklingende Namen, wie z.B. das Modell „european guidance“ (verkürzt: generell solle für bestimmte (von HIV besonders betroffene) Zielgruppen sowie Indikator-Erkrankungen ein HIV-Test angeboten / dringend empfohlen werden). Klingt akzeptabel – aber es gibt Konstellationen, Aids-Experten, die dahinter eine opt-out-Strategie verbergen. Dies scheint nicht viel mehr als „alter Wein in neuen Schläuchen“, eine Einführung von opt-out „durch die Hintertür“ – und könnte nur zu schnell z.B. zu regelmäßigen Massenscreenings auf HIV bei schwulen Männern führen.

Dies alles sind keine Argumente gegen einen HIV-Test – sondern für einen HIV-Test in einem adäquaten Setting und zu entsprechenden Standards.
Und dies ist ein Plädoyer auch für ein Beibehalten des Rechts auf Nicht-Wissen. Wer seinen HIV-Status nicht wissen will, hat auch dazu ein Recht.
Und wer seinen HIV-Status wissen möchte, hat ein Recht auf eine vorherige qualifizierte Beratung, nach der er sein informiertes Einverständnis erteilen kann.

Solange Menschen, allein weil und sobald sie den serologischen Status ‚HIV-positiv‘ haben, weitreichende negative persönliche und gesellschaftliche Konsequenzen zu befürchten haben, kann eine Test-Konstellation des ‚opt out‘ aus der Sicht HIV-positiver Menschen keine sinnvolle Alternative zum etablierten guten Standard sein.

Riskieren wir nicht unnötig erfolgreiche Errungenschaften – nur zugunsten eines Experiments namens opt-out, für das die Nutzen-Hinweise bisher (in Regionen wie Deutschland) mehr als dürftig sind. Behalten wir die bisher erfolgreiche Strategie des opt-in mit Beratung und informiertem Einverständnis bei.

22. Mai ab sofort in Kalifornien Harvey Milk Day (akt.4)

Der 22. Mai wird ab nächstem Jahr in Kalifornien der ‚Harvey Milk Day‘ sein. Gouverneur Arnold Schwarzenegger unterzeichnete in der Nacht zum 12.10.2009 ein entsprechendes Gesetz.

Lange hat er sich gesträubt, gar ein Veto gegen alle noch anstehenden Gesetzesvorhaben angekündigt. Nun jedoch hat Kaliforniens Gouverneur Arnold Schwarzenegger am in der Nacht zum 12. Oktober kurz vor Fristablauf um Mitternacht den ‚Harvey Milk Day bill‘ unterzeichnet. Dies berichtet das US-Blog ‚Gay Politics‘.

Harvey Milk vertritt Bürgermeister Moscone einen Tag lang im Jahr 1978
Harvey Milk vertritt Bürgermeister Moscone einen Tag lang im Jahr 1978

Der 22. Mai ist der Geburtstag Harvey Milks. Der 1930 nahe New York geborene Milk hätte im nächsten Jahr seinen 80. Geburtstag begangen.

Der Harvey-Milk-Tag soll zukünftig in ganz Kalifornien mit besonderen Aktionen begangen werden, insbesondere an öffentlichen Schulen und Bildungseinrichtungen soll dem Tag Rechnung getragen werden. Der ‚Harvey Milk Day‘ wird (aus Kostengründen) kein arbeitsfreier Feiertag sein, sondern ein sog. ‚day of significance‘, der fünfte dieser Art in Kalifornien.

Im Gesetzestext des Senats heißt es

„This bill would require the Governor to proclaim May 22 of each year as Harvey Milk Day, and would designate that date as having special significance in public schools and educational institutions and encourage those entities to conduct suitable commemorative exercises on that date.“

Harvey Milk war der erste offen schwule Stadtrat in San Francisco. Vermutlich war er der erste offen schwul lebende Politiker überhaupt in den USA. Am 27. November 1978 wurde Milk nach nur elfmonatiger Dienstzeit vom ehemaligen Stadtrat Dan White erschossen.

Das Harvey Milk Day – Gesetz (AB 2567) wurde im ersten Anlauf trotz positiver Verabschiedung im kalifornischen Senat am 30. September 2008 durch Gouverneur Schwarzenegger mit einem Veto verhindert.
Doch der Senator Mark Leno brachte das Gesetz (unter der neuen Bezeichnung SB 572) im Februar 2009 erneut im Senat ein. Am 14. Mai 2009 stimmte der kalifornische Senat diesem Gesetz zu. Aktivisten hatten bis zuletzt ein erneutes Veto Schwarzeneggers befürchtet, doch Gouverneur Schwarzenegger unterzeichnete es kurz vor Ablauf der Frist um Mitternacht.
Nahezu 40.000 Bürger Kaliforniens hatten eine entsprechende Petition unterstützt.

Mark Leno begründete seine erneute Initiative u.a. damit, Harvey Milk habe sich nicht nur für die Rechte von Schwulen und Lesben eingesetzt, sondern gehöre zu den bedeutenden Menschenrechts-Politikern.

„Harvey’s work was not only about the respect and dignity and validation of the LGBT community, but for all human life. That’s why I think he ranks among the other world-renown human rights leaders.“

Geoff Kors, Geschäftsführer von ‚Equality California‘, kommentierte, erstmals sei eine offen schwul-lesbisch-transgender Person offiziell durch eine Regierung anerkannt worden. Im Ergebnis würden nun die Errungenschaften Harvey Milks für Jahrzehnte an Schulen unterrichtet:

„The Milk Day Bill marks the very first time an openly LGBT person has been officially recognized by any state government.  As a result, Harvey’s legacy and our history will be taught for decades to come and youth will learn that they have a role model who sacrified everything to make the world safer and more equal for them.“

Gleichzeitig unterzeichnete Schwarzenegger den ‚Bill 54‘, mit dem in anderen Staaten geschlossene Homo-Ehen in Kalifornien zukünftig anerkannt werden.

weitere Informationen:
Equality California: Harvey Milk Day 2008, Harvey Milk Day 2009
GayPolitics.com 12.10.2009: Schwarzenegger signs Harvey Milk Day bill
Senat des Staates Kalifornien:  Bill Number AB 2567 – Bill text
Office of the Governor 30.09.2008: Governor Arnold Schwarzenegger has signed 81 bills and vetoed 58 bills
Arnold Schwarzenegger: attached veto message (pdf)
Senat des Staates Kalifornien: Senate Bill #572 (pdf)
Office of the Governor 12.10.2009: Governor Schwarzenegger has signed 226 bills and vetoed eight bills
Arnold Schwarzenegger: attached signing message bill 54 (pdf)
standformarriage 11.10.2009: Will Harvey Milk Day Be Vetoed?
LAWeekly 12.10.2009: Queer Town: Harvey Milk Gets His Day in California
LGBT pov 12.10.2009: Schwarzenegger signs Milk, marriage bills
towleroad 12.10.2009: Schwarzenegger signs Harvey Milk Day, marriage bills
pinknews 12.10.2009: Schwarzenegger signs bills to recognise Harvey Milk and out-of-state gay marriages
Advocate 12.10.2009: Schwarzenegger Signs Harvey Milk Bill
365gay 12.10.2009: Schwarzenegger signs Harvey Milk Day and Marriage Recognition bills
San Francisco Chronicle 12.10.2009: California’s official Harvey Milk Day „an idea whose time has come“
AP 12.10.2009: Schwarzenegger creates day honoring Harvey Milk
samstagisteingutertag 13.10.2009: Harvey Milk Day
Hamburger Abendblatt 13.10.2009: Kalifornien ehrt Schwulen-Rechtler Harvey Milk
queer.de 13.10.2009: Kalifornien führt Milk-Gedenktag ein
.

Schock-Prävention und die Inflation der Währung Aufmerksamkeit

Wie und warum funktioniert Schock-Prävention? Was hat Thilo Sarrazin damit zu tun? Und was Inflation und Ignorieren?

Thilo Sarrazin, seines Zeichens Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank und ex-Finanz-Senator von Berlin, hat wieder einmal deutliche Worte gefunden. Die verbreitet Anstoß erregen – und erinnern an den wohl bekannten Mechanismus, Aufmerksamkeit zu erzeugen, egal was es kostet – oder was die Folgen sind.

In einem Artikel in der Wochenend-Ausgabe der ‚Süddeutschen Zeitung‘ betrachtet Evelyn Roll die Frage öffentlicher Provokation. Und analysiert die zugrunde liegende Wirkweise:

„Es ist ja so: Viel wichtiger, lukrativer und karrierefördernder als Taten und Leistungen sind heute Bedeutung und Prominenz. Aufmerksamkeit ist die Währung. Und Provokation, der gezielte Tabubruch also, ist, was das Herstellen dieser Währung angeht, immer und zuverlässig erfolgreich. Die verbale Provokation, der unpassende Vergleich und die öffentliche Beleidigung sind also niemals wirklich Ausrutscher oder selbstentlarvende Versehen. Es handelt sich immer um eine so einfache wie nur gelegentlich gefährliche Medienstrategie im Durchlauferhitzer der Erregungsdemokratie. Sie stößt auf eine fein ausgesteuerte und leicht anzusteuernde Kultur von Empörung und Heuchelei, die zuverlässig anspringt. Jedes durch Sprech- und Denktabus eingeklemmte Publikum hasst und liebt deswegen den Provokateur.“

Wohl war, denke ich. Und ich fühle mich erinnert an Schock-Kampagnen, mit denen sich eine gewisse Stiftung, ein ominöser Verein gelegentlich hervortun. Bei denen mir auch oft der Eindruck kommt, es ginge hier um vieles, um Aufmerksamkeit, um Spenden, um mediale Hypes – nur nicht um die eigentliche und doch nur vordergründig plakatierte Frage, die Aids-Prävention.

Und genau darin liegt das Problem, auch in Rolls Analyse. Derartige Strategien können eben doch gefährlich sein. Sie konterkarieren bisher erfolgreiche HIV-Prävention, können erzielte Erfolge zunichte machen oder gefährden, produzieren Klärungs- und Richtigstellungs-Aufwand (bei anderen selbstverständlich, nicht beim Verursacher) – und verpuffen schon nach wenigen Tagen im Dunst des nächsten medialen Hypes. Die Arbeit ist getan, die Aufmerksamkeit erzielt, irgend etwas wird sicher hängen blieben – und die Arbeit und den Schaden haben andere.

Doch Roll weist auch Wege aus dieser medialen Aufmerksamkeits-Falle. Ein wenig mehr Bedacht in den Reaktionen, etwas weniger Aufregung und Empörung, überlegtere Kommentare, weniger Geschrei – indem wir ihnen ihre Währung, die Aufmerksamkeit entziehen, können wir ihren Schaden vielleicht begrenzen. Und ihre regelmäßige Wiederkehr vielleicht nach und nach unattraktiver, da erfolgloser machen. Die Inflation der Währung ‚Schock-Aufmerksamkeit‘. Wir können handeln – schalten wir ihn zumindest in unserem Bereich wenn schon nicht ‚aus‘, dann doch einige Stufen kälter, den ‚Durchlauferhitzer der Erregungsdemokratie‘.
Stattdessen könnten wir von der Bedeutung der Aufmerksamkeit, der Prominenz, des Image vielleicht wieder ein wenig mehr zurück kehren zur Bedeutung von Taten, von Handeln, von Ergebnissen für die Menschen (und nicht für die Initiatoren).

Schock-Kampagnen & co. – in die Mülltonne. Aber vielleicht nicht immer durch lauten Protest, sondern gelegentlich auch durch überlegte Gelassenheit, vielleicht auch geflissentliches Ignorieren?

.

weitere Informationen:
Evelyn Roll: „Das musste mal gesagt werden“ (Süddeutsche Zeitung 10./11.10.2009)
(online zweiteilig unter dem Titel „Thilo Sarrazin und die Folgen„)

Ärzte in die Prävention – wirklich eine gute Idee ?

Ärzte auch in der Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen mehr einzusetzen – dieses Konzept wird nicht nur im Aidsbereich diskutiert. Es ist auch Thema einer Veranstaltung in der Deutschen Aids-Hilfe am Mittwoch, 7. Oktober 2009. Ein Kommentar.

Immer noch wird eine HIV-Infektion bei vielen Menschen sehr spät festgestellt (late diagnosis) – mit vielen möglichen oder sehr realen potentiellen negativen Folgen auch für den oder die Betroffene/n. Gerade hier Ärzte zu sensibilisieren, scheint eine gute Idee. Die schnell weiterführt zum Gedanken, Ärzte doch generell in der Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen einzusetzen.

Untersuchungen laufen, auch zur Frage, wie weit Patienten eigentlich mit ihren Ärzten über sexuelle Fragen sprechen, sprechen wollen, sprechen können.
Und die Aids-Hilfe NRW arbeitet an einem Gesprächsleitfaden, der Ärzten helfen soll, mit ihren Patient/innen auch über Fragen des Sexualverhaltens und sexuell übertragbarer Erkrankungen ins Gespräch zu kommen.

Doch Vorsicht – was schnell plausibel scheint, muss nicht unbedingt im Interesse der Patienten sein.
Einige Gedanken …

Die Ausforschung des Sex

Das harmlos scheinende Gespräch über Fragen des Sexualverhaltens hat potentiell so seine Tücken. Möchte ich als Patient eigentlich, dass mein Arzt auch möglichst alle (Un)Tiefen und Details meines Sexlebens kennt?  Wie freiwillig ist dieses Gespräch, wenn ich anschließend auch „ganz normal“ behandelt werden möchte? Was davon wird dokumentiert? Und wer erfährt davon? Oder wie ausgeforscht fühle ich mich, werde ich?
Diese potentielle Ausforschung hat Konsequenzen. Wir verhält sich der Mediziner, die Medizinerin, die erfährt, dass ihr Patient sich unter Präventions-Gesichtspunkten „kontraproduktiv“ verhält? Wie wirkt sich dieses Wissen aus, wenn der gleiche Arzt, die gleiche Ärztin dann später genau diesen Patienten behandeln muss, z.B. aufgrund einer sexuell erworbenen Erkrankung? Wir leben Ärztinnen und Ärzte mit diesem Spagat? Und wie erst Patientinnen und Patienten? Wohl wissend, ja, der Arzt hat ja gesagt dass … und trotzdem hab ich …
Was macht dieser Spagat, was machen die potentiell daraus resultierenden Konfliktlinien mit dem Arzt-Patient-Verhältnis?
Und weiter noch – ärztliche Leistungen wollen dokumentiert sein (nicht nur, aber auch aus Gründen der Abrechnung). Wie steht es um den Datenschutz? Gerade bei derart sensiblen Daten wie zu Sexualverhalten? Natürlich entgegnen Ärzte und Verbände uns, es gebe das Arztgeheimnis, den Datenschutz, die Vertraulichkeit des Arzt-Patient-Verhältnisses. Aber – wie steht es darum in der Praxis? In Zeiten von Internet, elektronischer Gesundheitskarte oder Beschlagnahme von Patientenakten durch Staatsanwaltschaften (wie jüngst im Fall Nadja Benaissa)?

Die Reglementierung des Sex

Sexualität, Sexualverhalten ist ein Bereich, der persönlichsten, privatesten Angelegenheiten des Menschen zuzurechnen ist. Oft genug hat der Staat (aus vielfältigsten Interessen) versucht, gerade den Sex zu regulieren – über Normen, Kontrolle, Paragraphen. Gerade in den letzten Jahrzehnten ist es diversen Emanzipationsbewegungen gelungen, den Einfluss des Staates zurück zu drängen, vielfältige Ausdrucksformen menschlicher Sexualität als Bereich rein persönlicher Freiheit zu gewinnen.
In Zeiten von Aids gab es immer wieder aufscheinenden Bemühungen, Sexualität zu medikalisieren, erneut zu reglementieren. Sie konnten weitgehend abgewehrt werden. Kommen sie nun wieder, im mühsam neue verkleideten Gewand der ‚ärztlichen Prävention‘? Dies Konzept könnten sich nur zu schnell als Weg zurück, als Weg zu mehr staatlicher Reglementierung und Kontrolle des Sex erweisen.

Die Pathologisierung des Sex

Wie weit wird (dem französischen Philosophen Michèl Foucault folgend) eine stärkere Einbindung von Ärzten in die Prävention zu einer weiteren bzw. erneuten Pathologisierung von Sexualität führen?
Ist das Vorhaben, Ärzte auch in der Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten einzusetzen, nicht letztlich ein weiterer (zudem bedeutender) Baustein dazu, dass Sexualität immer mehr betrachtet wird als etwas zu Regulierendes? Als ein Feld von staatlichem Belang? Letztlich Sex als etwas betrachtet wird, das potentiell gefährlich ist, risikobehaftet, aufgrund z.B. sexuell übertragbarer Erkrankungen gesellschaftlich potentiell schädlich? Sex als (präventiv zu steuernder, regulierunsbedürftiger Störfaktor – statt als Lust und Privatsache?

Und nun?

Ärzte, die naturgegeben umfassende Kontakte zu einer großen Anzahl Menschen haben, in die Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen einzubeziehen – dieser Gedanke scheint in seiner Einfachheit und Direktheit naheliegend. Und Ärzte finden ihn geradezu bezaubernd – folgt diesem Gedanken doch direkt die Frage, welche neuen Abrechungs-Ziffer dafür eingeführt werden kann, soll, ja geradezu muss – und wieviel Geld jede ärztliche Präventionsmaßnahme bringt.
Und doch, viele Argumente lassen Fragezeichen aufscheinen, den Gedanken mehr als fragwürdig erscheinen. ‚Ärzte in die Prävention‘ – ein Vorhaben, das sich bald als Weg in die Vergangenheit und nachteilig für Patienten erweisen könnte.

Staat und Medizin haben im Sexualleben jedes einzelnen zunächst nichts zu suchen. Sexualität ist Privatsache, Sphäre der persönlichen Freiheit – und sollte dies auch bleiben. Eingriffe, zumal Eingriffe tendenziell reglementierender Art, sollten möglichst unterbleiben. Und wenn sie erfolgen, müssen sie durch starke Argumente begründet, legitimiert sein.
Im Fall von Aids und der Installierung sich im Nachhinein als sehr erfolgreich erweisender Aids-Prävention war dieser Eingriff durch die (reale oder gefühlte) Bedrohung (der Gesamtbevölkerung oder einzelner gesellschaftlicher Gruppen) zunächst legitimiert. Zudem wurde u.a. mit der beispielhaften Arbeitsteilung zwischen Staat (hier: BzgA) und Aidshilfen ein Weg gefunden, Eingriffe und Reglementierungen (auch durch Normsetzungen) weitestgehend einzugrenzen oder wo vermeintlich unabwendbar zumindest betroffenen- und lebensnah zu gestalten.

Bei den derzeitigen Planspielen, Ärzte in der Prävention sexuell übertragbarer Erkrankungen einzusetzen, wird der Reglementierung und Kontrolle von Sexualität Tür und Tor geöffnet. Besteht ein ausreichender Grund, der diesen Eingriff in persönliche Freiheit rechtfertigen könnte, eine Notlage, eine Gefährdung? Wurden Alternativen angedacht, alle Möglichkeiten ausgeschöpft, bevor Eingriffe des Medizinssystems erfolgen? Wohl nicht.

Das Themas „Ärzte in der Prävention“ wird diskutiert auf einer Veranstaltung der Deutschen Aids-Hilfe am 7. Oktober 2009 im Rahmen der Reihe ‚Salon Wilhelmstraße‘:

„Können Ärzte eine größere Rolle in der Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen einnehmen? Wie weit ist HIV- und STD-Prävention in der Arztpraxis überhaupt möglich? Was wünschen sich die Patient(inn)en? Was die Aidshilfen?“

Unter der  Moderation von Holger Wicht diskutieren Prof. Dr. Norbert H. Brockmeyer, Ruhr-Universität Bochum; Dr. Christoph Mayr, Vorstand DAGNÄ e.V.;  Dirk Meyer, Geschäftsführer LV AIDS-Hilfe NRW e.V.; Helga Neugebauer, Ärztin in der Aidshilfe Hamburg; Stephan Jäkel, Pluspunkt e.V.; Klaus Stehling, Geschäftsführer LV AIDS-Hilfe Hessen e.V. (angefragt); Stefan, Rollenmodell der MSM-Kampagne “IWWIT” und Steffen Taubert, Deutsche AIDS-Hilfe e.V.

weitere Informationen:
DAH-Blog 27.09.2009: 7.10.09: Salon Wilhelmstraße “Ärztliche Prävention”
DAH-Blog 24.10.2009: Prävention beim Arzt?
.

Darf man das? Gedanken über Kürzungen, Kritik und einen Preis …

Am Montag, 22. Juni 2009 hat die Deutsche AIDS-Stiftung der Öffentlichkeit eine „neue Schwerpunktsetzung“  vorgestellt. Diese läuft de facto auf eine gravierende Kürzung der Einzelfall-Hilfen hinaus.

Am Mittwoch, 24. Juni 2009 hat die deutsche AIDS-Stiftung ihren Medienpreis 2007/2008 verliehen, unter anderem an mich für das Internetangebot www.ondamaris.de.
In der Laudatio heißt es unter anderem:

„Die Stiftung zeichnete ihn für sein innovatives Projekt der Selbsthilfe von Menschen mit HIV und AIDS in Deutschland aus. … Inzwischen ist ondamaris für viele – nicht nur für HIV-positive und schwule Nutzer – eine wichtige Informationsquelle, wenn es um aktuelle Themen rund um das Virus geht.“

Die Stiftung, die mich mit einem Medienpreis auszeichnet, kritisieren, auch mit deutlichen Worten, darf ich das? Oder – muss ich das vielleicht sogar?

Eigentlich ist es ja ganz schön frech. Gerade noch haben sie mich mit einem renommierten Medienpreis ausgezeichnet, und schon dresche ich auf sie ein. Meine Güte, wie undankbar.

Musste denn das sein? Kann man denn nicht einfach einmal unkritisch genießen?

Ja, das musste sein.

„… darüber hinaus ist ondamaris zu einem Forum geworden, in dem sich die vielen Nutzer teils kontroverse Diskussionen auf einem hohen Niveau liefern.“

Danke, liebe Stiftung.
Genau darum geht es. Um lebhafte, auch kontroverse, offene Debatte.

Auch zwischen Schweizer Bergen, Scheinwerfern und Risotto kann ich doch nicht so tun, als gäbe es das soziale Elend vieler HIV-Positiver, ob in Berlin oder andernorts, nicht.

Die Deutsche AIDS-Stiftung hat sich in den vergangenen 22 Jahren ihres Wirkens sehr viele Verdienste erworben. Gerade in Zeiten, in denen sich der Staat zunehmend aus seiner sozialen Verantwortung zurück zieht, die Situation vieler HIV-Positiver zunehmend desolat wird, brauchen wir Knowhow und auch Unterstützung der Deutschen AIDS-Stiftung. Auch deswegen ist die angekündigte Kürzung von vielen so schmerzlich empfunden worden.

Ich habe mich über den Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung sehr gefreut.
Dieser Preis bedeutet für mich unter anderem, mich auch weiterhin zu bemühen kritisch-konstruktiv zu berichten und zu kommentieren, und zu offenen Debatten einzuladen.

Aus diesem Grund bin ich der Überzeugung, dass auch Kritik, konstruktive Kritik an der Entscheidung der Stiftung sich sehr gut mit dem Medienpreis eben dieser Stiftung verträgt. Dass Kritik nicht nur erlaubt, sondern -auch um der Integrität willen- geradezu erforderlich ist. Im Sinne des gemeinsamen Erfolgs.

Foto-Impressionen vom lesbisch-schwulen Strassenfest 2009

In Berlin feiern Schwule Lesben und allerlei sonstig Interessierte am 20. und 21. Juni 2009 unter dem etwas sperrigen Motto „Gleiche Rechte für Ungleiche“ das 17. Lesbisch-Schwule Strassenfest am Nollendorfplatz.

Hunderttausende Besucher an zwei Tagen, 25.000 Quadratmeter Fläche, und ein breites Spektrum vom Café PositHiv bis zum Tierschutzverein, von schwulen und lesbischen Sportvereinen bis zu queeren und homosexuellen Parteigliederungen, von Regenbogen-Nippes bis zum Sling-Geschäft.

Nebenbei, Antiteilchen scheint sich auf dem lesbisch-schwulen Stadtfest weniger amüsiert zu haben – ich durchaus, nette Menschen getroffen 🙂

Biowaffen und Meinungsfreiheit

HIV-Positive dürfen als Bio-Waffe bezeichnet werden. Der SPD-Abgeordnete und stellvertretende Vorsitzende des Medienausschusses Ehrmann hat mit dieser Äußerung sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung genutzt.

Der SPD-Bundestagsabgeordneten Siegmund Ehrmann wurde Mitte April 2009 von einer Boulevard-Zeitung (Ausgabe 17.04.2009) im Zusammenhang mit der Verhaftung einer Sängerin zitiert mit der Aussage

„Wenn jemand seinen Körper als Bio-Waffe einsetzt, ist umfassende Berichterstattung ein dringendes öffentliches Anliegen und wichtiger als die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen.”

Ist man mit HIV vogelfrei?, und darf man HIV-Positive als ‚Bio-Waffe‘ bezeichnen?, diese Fragen stellten sich viele nach diesen Aussagen.

Man darf, kann muss nun  resümiert werden.
Die ‚unbeantwortete Frage‘ ist nun beantwortet.

Am 24. April 2009 hatte ich aufgrund seiner Äußerungen via Internetwache gegen Herrn Ehrmann Strafanzeige wegen Verdachts der Volksverhetzung gem. StGB gestellt.

Gestern, am 11.6.2009, traf ein Schreiben der Staatsanwaltschaft Berlin ein. Wie bereits erwartet teilte sie mit, man habe das Ermittlungsverfahren eingestellt. Es bestehe kein Anlass, in strafrechtliche Ermittlungen einzutreten:

„Die von Ihnen geschilderte Äußerung des Beschuldigten mag auf Unverständnis und Befremden stoßen, eine strafrechtliche Relevanz hat die Äußerung jedoch nicht.“

Die Äußerung sei

„vor dem Hintergrund, vor dem sie gefallen ist, noch vom Grundrecht der freien Meinungsäußerung gedeckt“.

Ich schätze unser Grundgesetz und seine Grundrecht, auch das auf freie Meinungsäußerung. Ich kann mit der Entscheidung der Staatsanwaltschaft leben.
Die Äußerung Ehrmanns empfinde ich allerdings weiterhin als prekär und bestürzend, auch nach seiner seltsamen ‚Klarstellung‘ (pdf). Bestürzend besonders auch, da sie von einem Politiker stammt, und zudem nicht einem mit Medien wenig erfahrenen Politiker, sondern dem stellvertretenden Vorsitzenden des Medienausschusses.
Und wie diese Äußerung mit seiner kirchlichen Tätigkeit vereinbar ist, wird wohl auch sein Geheimnis bleiben …

.

Bayrischer Massnahmen-Katalog 1987

Bayrischer Massnahmen-Katalog  zur Verhütung und Bekämpfung der Immunschwächekrankheit AIDS wurde heute vor 22 Jahren bekannt gemacht mit einer Veröffentlichung im Amtsblatt.

Auf dieses traurige Jubiläum weist Steven Milverton in einem sehr lesenswerten Beitrag hin: „Der Angst-Staat“.

Bayrischer Massnahmen-Katalog – ein skuriler Punkt der Zeit- und Aids-Geschichte? Eine Erinnerung an aufgeregte Tage, an Gauweiler und Gauweilereien, aber letztlich doch Vergangenheit?
Bei weitem nicht, wie Steven Milverton betont:

„Es könnte sich als fataler Irrtum herausstellen, anzunehmen mit dem besseren Wissen über HIV und AIDS wäre das Gauweiler’sche Bekämpfungsinstrumentarium aus den Köpfen verschwunden. Es gibt immer noch Ewiggestrige in durchaus verantwortungsvollen Positionen, die HIVpositive Menschen per se als Kriminelle hinstellen und entsprechend behandeln wollen.“

Kriminalisierung ist kein probates Mittel der Aids-Bekämpfung, HIV ist ein Virus, kein Verbrechen – diese Erkenntnis ist nicht neu, dennoch nicht bei jedermann angekommen. Zu oft immer noch werden HIV-Positive als vogelfrei betrachtet, stigmatisiert, diskriminiert, ausgegrenzt. Wohin das und ähnliche Gauweilerein führen kann – in den „Angststaat“, wie Steven Milverton seinen sehr lesenswerten Beitrag titelt.

.

siehe auch
DAH-Blog 24.02.2012: Pogrome statt Kondome
.

„Man merkt ihr die Krankheit nicht an“ – Plaudereien einer „Aids-Betreuerin“

Aids-Beratung – kompetent, verlässlich, vor allem: vertraulich. Eigentlich selbstverständlich. Außer wenn. Zum Beispiel wenn es um Prominente geht. Oder wenn „Aids-Betreuer“ in der Presse plaudern.

Beratung sollte unabhängig, kompetent und vor allem vertraulich erfolgen. Ganz selbstverständlich erscheint vielen, dass kompetente Aids-Beratung diese Kriterien erfüllt und diesen Ansprüchen auch in der praktischen Arbeit gerecht wird.

Doch – was für Aids-Berater der Aids-Hilfen selbstverständlich gilt (und durch umfangreiche Qualitätssicherungs-Maßnahmen auch fortlaufend sichergestellt und optimiert werden soll), ist noch lange nicht in jeder anderen Aids-Organisation üblich.

So gibt es auch „Aids-Betreuer“ und „Aids-Betreuerin“.

‚Aids-Betreuerin‘ mag keine gängige Bezeichnung sein – aber scheinbar eine, deren Standards zumindest andere, vermutlich weit lockerere als die professionellen Standards der Aidshilfe sind.

Wie sonst ist es zu erklären, dass -angesichts der von der Deutschen Aids-Hilfe kritisierten Verhaftung einer Sängerin– eine ‚Aids-Betreuerin‘ in der Boulevard-Presse freimütig über ihre Arbeit plaudert?

„Sie hat einen völlig gesunden Eindruck gemacht, man merkt ihr die Krankheit nicht an“, so die Ärztin, die sich seit 22 Jahren um HIV-Patienten kümmert. „Es gibt auch einen Arzt, der sie im Gefängnis behandelt. Trotzdem war sie ganz dankbar dafür, dass ich ihr mein Wissen angeboten habe.“

So berichtet eine ‚Aids-Betreuerin‘ über die gesundheitliche Situation und Versorgung der verhafteten Sängerin, und ergänzt direkt zu deren psychischer Verfassung

„Sie schien mir nicht stabil zu sein und auch nicht zuversichtlich. Verständlich in dieser Situation. Ich konnte nur versuchen, sie zu trösten.“

Damit ist das Ende der Indiskretionen noch nicht erreicht, so wird auch über Kleidung, Körperpflege, Haftbedingungen berichtet.
Das ganze nicht bei einer Berater-Schulung, z.B. um eine Weiterbildung mit einem Fallbeispiel anonym zu illustrieren. Sondern in der Boulevard-Presse, mit Nennung des Namens der ‚betreuten‘ Person, unter dem Titel „Aids-Beraterin X hat sie in der Zelle besucht und berichtet in der Y“ [Name der ‚Betreuerin‘ mit X und der Zeitung mit Y ersetzt].

„Alle Beraterinnen und Berater verfügen über ausreichende Erfahrung, wurden speziell für die Online-Beratung geschult und dem Datenschutz verpflichtet“  – der Anspruch, der selbstverständlich ist für Beraterinnen und Berater der Aidshilfen (hier am Beispiel der Online-Beratung), scheint für andere andere Organisationen so nicht uneingeschränkt zu gelten.

Danke an K. für den Hinweis!

Mit HIV vogelfrei für die Medien“ – schade, dass sich auch manche „Aids-Betreuer“ an dieser fragwürdigen Inszenierung beteiligen.

„vertraulich – verlässlich – kompetent“, unter diesem Motto wirbt die Online-Beratung der Aidshilfen für ihre Angebote. Und skizziert damit kurzgefasst den Standard, der für jegliche Gesundheitsberatung gelten sollte.

Vertraulichkeit steht dabei nicht grundlos an erster Stelle. Dass Privates z.B. zu Gesundheit und Psyche in den Medien ausgeplaudert wird, ist bei diesen Standards nicht vorgesehen.

Leider halten sich nicht alle, die im Aids-Bereich aktiv sind, an diese Standards. Ein Grund mehr, genau hinzuschauen, von wem man sich beraten lässt. Und im Zweifelsfall sich auf die bewährte Arbeit derjenigen Organisationen zu verlassen, die sich verpflichtet haben diese Standards einzuhalten: die in der Deutschen Aids-Hilfe zusammengeschlossenen Aids-Hilfen.

Darf man HIV-Positive als „Bio-Waffe“ bezeichnen?

„Körper als Bio-Waffe“ – darf man, darf ein MdB, darf ein stellvertretender Vorsitzender des Medienausschusses so Menschen mit HIV bezeichnen?

Der SPD-Bundestagsabgeordneten Siegmund Ehrmann wird von der BILD-Zeitung (Ausgabe 17.04.2009) im Zusammenhang mit der Verhaftung einer Sängerin zitiert mit der Aussage

„Wenn jemand seinen Körper als Bio-Waffe einsetzt, ist umfassende Berichterstattung ein dringendes öffentliches Anliegen und wichtiger als die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen.”

Die Aussage ist u.a. dokumentiert beim Medien-Journalisten Stefan Niggemeier.

Herr Ehrmann ist seit 2002 Mitglied des deutschen Bundestags (SPD-Fraktion, direkt gewählt Krefeld II – Wesel II) und seit 2005 ordentliches Mitglied im Innenausschuss und stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Kultur und Medien.

Herr Ehrmann hat in einer auf den 23.4.2009 datierten schriftlichen Stellungnahme (pdf) seine Äußerungen inzwischen bestätigt.

In seiner Stellungnahme äußert Herr Ehrmann, er würde „die Formulierung ‚Körper als Biowaffe‘ … heute so nicht mehr verwenden, weil sich durch ihn die weit überwiegende Zahl der sich verantwortlich verhaltenden HIV-Infizierten diskreditiert werden können.“ Dies liege ihm fern.

Herrn Ehrmann scheint nicht daran zu liegen, seine Äußerung als falsch, unzutreffend oder politisch gefährlich zu bezeichnen. Sich zu entschuldigen. Bei der betreffenden Person, oder bei allen HIV-Infizierten. und sei es nur für Stigmatisierung und Diskriminierung.

Seine Entschuldigung lässt m.E. zudem den Schluss zu, dass Herr gegenüber HIV-Positiven, die sich nicht „verantwortlich verhalten“ (ohne zu erläutern, was das denn sei), diese Bezeichnung weiterhin für angebracht hält.

Paragraph 130 Absatz 1 Strafgesetzbuch lautet:

„Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören,
1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder
2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet,
wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“

Abgesehen davon, dass gerade von einem stellvertretenden Vorsitzenden des Medienausschusses ein umsichtigeres Umgehen mit Persönlichkeitsrechten und der öffentlichen Bezeichnung HIV-Infizierter erwartet werden kann: Ich fühle mich durch die Äußerungen von Herrn Ehrmann (‚Bio-Waffe‘) böswillig verächtlich gemacht und in meiner Menschenwürde angegriffen. Die Bezeichnung von HIV-Positiven als ‚Bio-Waffe‘ ist eindeutig geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören.

Aus diesem Grund habe ich heute Strafanzeige wegen Verdachts der Volksverhetzung gem. StGB gestellt.

Ein Bekannter schrieb mir heute folgende Gedanken:

Wie werden es nicht mehr zulassen das man uns weiterhin stigmatisiert, diskriminiert und kriminalisiert. Wir werden es nicht mehr zulassen das die Medien weiterhin unsere Würde mit den Füßen treten. Wir werden es nicht mehr zulassen das die Medien sich zum Sprachrohr derjenigen machen die HIV Positive als Virenschleudern und Bio Waffen bezeichnen. Wir werden es nicht mehr zulassen das die Medien über uns Mythen und Lügen erzählen, das die Medien die Wahrheit verzerren.
Ich bin das Schweigen leid, also werde ich darüber sprechen. Und ich will, das auch Ihr darüber sprecht.

Ich kann nur sagen, er hat mir aus der Seele gesprochen …

siehe auch:
Andreas Bemeleit 21.05.2009: “Biowaffe Mensch” – unbeantwortete Fragen
.

mit HIV vogelfrei für die Medien? – Fragen an den Staatsanwalt (akt.)

Eine junge Frau wird unvermittelt verhaftet – und die Medien geraten in Aufruhr, die Schlagzeilen der Titelseiten glühen rot. Aids, Schuld, Gefängnis schreien sie uns an. Als habe es keine jahrelange Aids-Prävention gegeben, werden alte Klischees bemüht – und Präventionserfolge riskiert.

Rufen wir uns zunächst den Sachverhalt in Erinnerung. Einer jungen Frau wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, Sexpartner mit HIV infiziert zu haben. Sie wird verhaftet, mit dem Vorwurf gefährlicher Körperverletzung. Dabei geht es bisher um staatsanwaltliche Ermittlungen – nicht um eine Anklage, geschweige denn um eine Verurteilung. Sondern um einen Verdacht.

Die Medien erfahren von diesen Ermittlungen – von der ermittelnden Staatsanwaltschaft.
Und nicht nur das, der zuständige Pressesprecher der Staatsanwaltschaft gibt darüber hinaus gerade Boulevard-Medien bereitwillig Interviews (Quelle: (1)).

Eine Pressearbeit der Staatsanwaltschaft, die Fragen aufwirft, hier z.B.:
– War es überhaupt erforderlich, die Person festzunehmen?
– Und war es erforderlich, angesichts einer eventuellen Tat, die schon vor Jahren (2004 und 2005) stattgefunden haben soll?

Aber neben dem konkreten Ermittlungs-Verhalten stellen sich erst recht Fragen an die freudige Auskunftsbereitschaft der Staatsanwaltschaft:
– Was macht erforderlich, dass die Staatsanwaltschaft sich in diesem Fall von sich aus aktiv an die Presse wendet?
– Warum war es notwendig, den vollen Namen der betreffenden Person zu nennen?
– War es tatsächlich zwingend notwendig, den HIV-Status dieser Person offen zu legen, und dann gegenüber den Medien? Ist der HIV-Status der beschuldigten Person als Faktum bekannt, oder wurde auch hier nur ein Verdacht an die Medien gegeben?
– Worin besteht der „dringende Tatverdacht“ verbunden mit „Wiederholungsgefahr„, die als Begründung für die plötzliche Festnahme angeführt werden?
– Was hat die Staatsanwaltschaft veranlasst, die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen so völlig hintan zu stellen gegenüber dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit?
– Besteht die Unschuldsvermutung nicht mehr?

Fragen über Fragen, denen sich weitere hinzu gesellen, wie die, ob aktuelle Erkenntnisse in Sachen Infektiosität (EKAF-Statement) überhaupt berücksichtigt wurden, oder die, warum -wenn die Gesundheit der Bevölkerung so wichtig ist- derart lange mit Reaktionen gewartet wurde.

Für die Medien wurde der ‚Fall‘ durch das Verhalten der Staatsanwaltschaft, durch Pressemitteilung und bereitwillige Interviews erst recht zum ‚gefundenen Fressen‘ – und mit zusätzlicher Attraktivität versehen, gab es doch gar Staatsanwälte als Quelle zu zitieren.
Entsprechend gerieren sich Medienvertreter auch, als die Anwälte der Verhafteten sich mit einer einstweiligen Verfügung zur Wehr setzen. Und sich auf die Pressefreiheit berufen.

Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Darmstadt, Ger Neuber, kommentierte Kritik am Verhalten der Staatsanwaltschaft kühl mit den Worten „Wir kriminalisieren nicht, wir verfolgen eine Straftat.“
Ganz im Gegenteil, man wolle weiter machen: „“In der konkreten Situation sehen wir uns nach wie vor verpflichtet, den äußeren Tatbestand der Vorwürfe den Medien mitzuteilen.“ (laut taz)

Geraten so Staatsanwaltschaften in Gefahr, sich bewusst oder unbewusst zum Helfer der Medien zu machen – und die Belange, insbesondere die Schutzinteressen der betroffenen Personen, gegen die sie ermitteln, aus den Augen zu verlieren?
Und – beschwören Staatsanwaltschaften nicht so geradezu die Gefahr herauf, dass jegliches faire Verfahren unmöglich oder zumindest erschwert wird, die Unschuldsvermutung ausgehöhlt, der Beklagte in seinen Rechtspositionen beeinträchtigt und das Verfahren vorgeprägt wird?

Oder ist die Staatsanwaltschaft gar nur ganz modern, setzt sich auf den Zug der „litigation PR“ (dem Managen der Kommunikation in rechtlichen Auseinandersetzungen)? Und die Anwälte spielen gar mit, mit ihrer einstweiligen Verfügung, die gerade Boulevard-Journalisten nur noch mehr herausfordern muss?

Der bzw. hier die Dumme im ganzen Vorgang: die Verhaftete mit ihren Persönlichkeitsrechten – und indirekt HIV-Positive und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, sowie die Aids-Prävention.
Oder ist der Staatsanwaltschaft, die kühl sagt “Wir kriminalisieren nicht, wir verfolgen eine Straftat” nicht bewusst, welche Folgen ihr Handeln für das Bild von HIV-Positiven und für HIV-Prävention haben kann? Wie sehr sie Diskriminierung und Stigmatisierung Tür und Tor öffnet?

Ist der Staatsanwaltschaft nicht bewusst, dass sie hier -wie selbst die Deutsche Aids-Stiftung beklagt und die TV-Nachrichten (2) bemerken – potenziell Präventionserfolge gefährdet?

Über Unschuldsvermutung und Persönlichkeitsrechte hinaus – die eigentliche, über den konkreten Fall hinaus weisende Kernfrage lautet deswegen m.E.: seit wann betreiben Staatsanwaltschaften Aids-Prävention?

Was (und wer) legitimiert, vor allem auch was qualifiziert eine Staatsanwaltschaft, sich als Player auf dem Gebiet der Aids-Prävention zu gerieren?

.

(1) Schertz Bergmann Rechtsanwälte: „Einstweilige Verfügung gegen BILD im Fall X“, online auf presseecho.de
(2) ZDF heute journal 16.04.2009
Litigation-PR-Blog 16.04.2009: PR-Periskop I: Bärendienst für X
3A 16.04.2009: HIV-Behandlerinnen fordern sofortige Freilassung von Nadja Benaissa – Inhaftierung unverhältnismäßig
.
auch lesen:
koww 17.04.2005: Keine Gelegenheit auslassen …
Antiteilchen 17.04.2009: Manchmal fragt man sich wer in Bwerlin alles Richter werden darf
alivenkickin 17.04.2009: Der Spießrutenlauf
taz 17.04.2009: Ende der Unschuldsvermutung
SZ 16.04.2009: Intimes, inszeniert und vorgeführt
SZ 16.04.2009: Auf das Wie kommt es an
„Medien können sich doch bei der Entscheidung, was und wie sie berichten, nicht nur von der Frage leiten lassen, was erlaubt ist. Sie müssen sich die Frage stellen, was richtig ist. Und was notwendig ist. Ich weiß nicht, ob es erlaubt war, über den Verdacht gegen eine Sängerin, über ihr Intimleben und ihre HIV-Infektion zu berichten. Aber ich bin überzeugt davon, dass es nicht notwendig war.“ Stefan Niggemeier
Steven Milverton 18.04.2009: HIV in der öffentlichen Wahrnehmung
FAZ 19.04.2009: Der Staatsanwalt in meinem Bett
DAH-Blog 15.05.2009: Deutschland disst den Superstar
.

Kommentar: was lange währt, wird endlich gut – die Präventionsmethode Senkung der Viruslast unter die Nachweisgrenze

Die Deutsche Aids-Hilfe hat ihr Positionspapier „HIV-Therapie und Prävention“ vorgelegt.

„was lange währt, wird endlich gut“ – ein abgegriffener Spruch, und doch, er scheint gut geeignet, zutreffend für das abschließende Positionspapier, das die Deutsche Aids-Hilfe zur Frage der Senkung der HIV-Viruslast unter die Nachweisgrenze und Konsequenzen für den Einzelnen sowie für die HIV-Prävention vorgelegt hat.

„was lange währt, wird endlich gut“
Ja, die DAH hat sich Zeit gelassen. Über 14 Monate sind seit der Publikation des EKAF-Statements vergangen, eines Statements zudem, dessen Inhalte und wesentliche Botschaften zumindest in Fachkreisen schon weit vorher bekannt waren.

14 Monate sind eine lange Zeit, und viele (Positive , Aktivisten, Mitarbeiter/innen in Aids-Hilfen und -Beratungen… ) wurden ungeduldig, drängelten. Andere hingegen betätigten sich mit Verve als Bremser, gar Blockierer, wollten eine -womöglich gar ‚zu positive‘- Stellungnahme verhindern oder doch verzögern.

14 Monate sind eine lange Zeit – die aber vielleicht erforderlich war. Erforderlich, um zu einer überlegten, reflektierten und tragfähigen Position zu kommen. Zu einer Position, die auch in den nun sicherlich neu aufflammenden Debatten argumentiert, begründet werden kann, Bestand haben wird. Und eine Position, die -das darf nicht vergessen werden- auch innerhalb von Aidshilfe(n) tragfähig ist.

Denn Lebens- und Präventions-Realität wird diese Position nur, wenn möglichst viele, HIV-Positive, Ungetestete wie auch HIV-Negative, Aids-Hilfe Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen, Berater und Beraterinnen davon überzeugt sind, überzeugt werden können, dass dies die richtige, die zukunftsweisende Position ist. Dieses Positions-Papier bietet die Voraussetzungen dafür.

was lange währt, wird endlich gut
Gut – diese drei Buchstaben, dieses eine Wort genügen, um das Positions-Papier der DAH im ersten Ansatz zu bewerten.

Es ist gut, denn es prüft das Statement der EKAF,wägt ab – und kommt zu einer eigenen, lang erwarteten Position der DAH.

Gut aber vor allem, weil es neben der reinen Positionierung zwei weitere bedeutende Schritte geht:
Das Positions-Papier setzt sich öffentlich, für jeden nachvollziehbar und transparent, mit Argumenten, mit Für und Wider auseinander, wägt ab, kommt zu einer Entscheidung – und begründet diese.
Vor allem aber: das Positions-Papier bleibt nicht verharren bei der trockenen, abstrakten Position. Es geht vielmehr mutig gleich zwei weitere Schritte: es übersetzt in lebensnahe, den Situationen, dem Lebensalltag, dem Liebes- und Sexleben gerecht werdende Empfehlungen, und es weist den Weg in neue Chancen für die HIV-Prävention.

„Ja, und was heißt das für mich? Für meine Situation?“ – Diese Fragen waren oft zu hören in den letzten Monaten, in vielen Diskussionen über „die EKAF“. Und zumindest die laut geäußerte Antwort lautete meist „nix genaues weiß man nicht“. Das EKAF-Statement blieb das, als was es ursprünglich publiziert wurde, eine Stellungnahme von Medizinern zu Fragen der Infektiosität.

Die Deutsche Aids-Hilfe hat in ihrem Positions-Papier die Stellungnahme der EKAF nun mit ‚Fleisch‘, mit Leben versehen. HIV-Positive, HIV-Negative, Ungetestete in verschiedensten Lebenssituationen, von HIV Betroffene und von HIV Bedrohte, ob schwuler Mann, Hetero mit gelegentlichen ‚Männer-Kontakten‘, Frau mit oder ohne Kinderwunsch, Drogengebraucher(in), Mensch in Haft – sie finden nun lebensnahe, lebensbejahende Empfehlungen, wie das Statement der EKAF, wie die Frage der ‚Präventionsmethode Senkung der Viruslast unter die Nachweisgrenze‘ in ihrem Leben integriert, gelebt werden kann.

Die Chancen des EKAF-Statements nicht nur abstrakt aufzuzeigen, sondern sie in konkreten Empfehlungen lebbar zu machen – das ist das eigentliche Verdienst dieses Positionspapiers.

das gesellschaftliche Trauma Aids überwinden – die eigentliche Chance des EKAF-Statements

Die Debatte um die Stellungnahme der EKAF zur Nicht-Infektiosität erfolgreich therapierter HIV-Positiver schient langsam zu verstummen. Doch reicht es als Stellungnahme zu sagen, Positive sind unter diesen Umständen nicht infektiös? Steckt nicht mehr an Potenzial in der Stellungnahme der EKAF?

Das Statement der Eidgenössischen Aids-Kommission, ein HIV-Positiver sei „ohne andere STD unter einer antiretroviralen Therapie (ART) mit vollständig supprimierter Virämie … sexuell nicht infektiös“ ist nun über ein Jahr alt.

Bei seinem Erscheinen sorgte das Statement der EKAF für heftige Reaktionen, in der Fachwelt aber vor allem auch bei HIV-Positiven.

Inzwischen aber scheint es ruhiger geworden zu sein um das Thema EKAF, sehr viel ruhiger. Die Deutsche Aids-Hilfe hat im Januar 2009 eine Stellungnahme zu EKAF abgegeben, auf den Positiven Begegnungen 2009 wurde EKAF schon nur noch ruhig und distanziert diskutiert. Ansonsten: eher kaum noch Debatte, Ruhe.

Ist in Sachen des Statements der EKAF alles erreicht?
War eine klare Position der DAH alles, was es anzustreben galt?

Nein.
Das Potenzial an Veränderung, das das Statement der EKAF ermöglicht, scheint bisher kaum bewusst. Es reicht wesentlich tiefer.

Um dieses Potenzial des EKAF-Statements zu erkennen, hilft es (so man / frau älter als etwa 45 ist) sich zu erinnern an Facetten schwul-lesbischen Lebens in Zeiten vor Aids – und zu fragen, was Aids daran geändert hat.

Denn Aids war und ist weit mehr als „nur“ eine Epidemie, weit mehr als „nur“ ein medizinisches Syndrom. Aids war immer auch das massenhafte Sterben von Freunden, Bekannten, das massive Verändern schwuler Szenen. Und das Ende eines möglichen schwulen Lebensstils, wie er als Ergebnis der 70er-Schwulen-Emanzipation von nicht wenigen versucht wurde zu leben.

Michael Callen texte damals

„How to have sex in an epidemic,
without being caught up in polemic?“

Doch – es ging und geht um mehr als ’nur‘ Sex. Es geht um Formen schwuler Lebensstile.
Wilhelm Trapp (1) spricht dazu von der

„Aids-Epidemie, die den schwulen Traum von einer erotisch unrestriktiven Gemeinschaft zerstörte.“

Eine Zerstörung, die schwules Leben für viele massiv verändert hat. Trapp fragt später im gleichen Text fragt Trapp

„Ob die ideologisierte Lust sich ohne Aids und Mauerfall anders entwickelt hätte als zum Hedonismus der Love Parade, zum coolen Sexkonsum?“

Die Antwort auf diese Frage scheint müssig, ein auf die Vergangenheit gerichteter Konjunktiv.
Aber hinter seiner Frage verbirgt sich -nach vorne gedacht- ein wichtiger Gedanke:

Was, wenn diese Zerstörung rückgängig gemacht werden könnte?
Wären dann auch Entwicklungen anderer Art (wieder) denkbar?
Wären dann auch wieder Experimente „einer erotisch unrestriktiven Gemeinschaft“ denkbar, lebbar?

Das ist für mich (unabhängig davin, das langfristiges Zeil weiterhin eine völlige Heilung von HIV sein muss) eine der wahren, tieferen Chancen des EKAF-Statements für schwule Szenen – Experimente schwulen Miteinanders wieder unrestriktiver, oder doch weniger restriktiv denk- und lebbar zu machen.

Und – diese Chance betrifft bei weitem nicht nur Menschen mit HIV und Aids – sie betrifft potenziell z.B. die gesamten schwulen Szenen, die aus den Folgen des EKAF-Statetments heraus -so sie denn wollen- neue Freiheiten gewinnen könnten, neue Chancen auf mehr Experimente, weniger Restriktionen und Repressionen, mehr Freiheit.

.

(1) Wilhelm Trapp: Eine sehr heftige Variante des Lockerseins (über: Matthias Frings / Der letzte Kommunist – Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau), in Süddeutsche Zeitung Nr. 55/2009, 7./8. März 2009

Deutsch-Österreichisch-Schweizer Aids-Kongress – quo vadis?

Die aktive Einbeziehung von HIV betroffener Communities ist ein seit 1998 international etablierter Standard. Der SÖDAK 2009 bemüht sich engagiert, mit diesem Prinzip zu brechen.

Die aktive Einbeziehung von HIV betroffener Communities ist ein seit 1998 international etablierter Standard. Der SÖDAK 2009 bemüht sich engagiert, mit diesem Prinzip zu brechen.

Der „1. Schweizerisch-Österreichisch-Deutsche Aids-Kongress“ (SÖDAK 2009) findet vom 24. bis 27. Juni im Schweizerischen St. Gallen statt. Das Präsidium des Kongresses besteht aus Elisabeth Puchhammer-Stöckl, Annette Haberl und Pietro Vernazza.

Das Motto des Kongresses lautet ‚Prepare for the long run …‘. „Die AIDS Epidemie ist noch lange nicht besiegt, weder in Europa noch weltweit. Wir brauchen deshalb einen langen Atem und dürfen im Kampf gegen die Infektionskrankheit nicht nachlassen,“ schreiben die Organisatoren.

„Der SÖDAK zeichnet sich durch seine im Europäischen Raum einzigartige interdisziplinäre Ausrichtung aus“, betonen die Veranstalter.  Eine Interdisziplinarität, bei der die Betroffenen wie es angesichts aktueller Entwicklungen scheint nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Das Genfer Prinzip (erstmals bei der Genfer Welt-Aids-Konferenz 1998, dann beim Deutschen Aids-Kongress 1999 erfolgreich umgesetzt) besagt, die von HIV betroffenen Communities auf allen Ebenen der Kongress-Planung und Durchführung gleichberechtigt zu beteiligen.

„Community involvement in the planning of an International AIDS Conference is as important as that of the scientific community and that representatives of both groups should participate on an equal footing towards this goal.“ (IAS)

Dieses einst erfolgreich etablierte Genfer bzw. Essener Prinzip wird vom SÖDAK 2009 trotz intensiver Bemühungen und Proteste aus den Communities nicht weitergeführt. Die Deutsche Aids-Hilfe zeigte sich bereits erstaunt darüber und geht davon aus, dass es sich um einen einmaligen Vorfall handelt und bei zukünftigen Konferenzen wieder eine reguläre Community-Einbindung stattfindet.

Doch nicht nur die Einbindung von Community-Vertretern in Planung und Durchführung des Kongresses gestaltete sich scheinbar äußerst schwierig, selbst die Teilnahme von HIV-Positiven wird nicht eben erleichtert.
Gab es bei früheren Kongressen Scholarships, die HIV-Positiven die Teilnahme ermöglichten (z.B. durch Erlass der nicht unerheblichen) Kongressgebühren, 50 bis 290€), so fehlen diese Community-Scholarships beim SÖDAK 2009 völlig – es gibt 2009 kein Scholarship-Programm. Selbst ob es Community-Foren gibt, ist bisher unklar.

Noch am 12. Mai 2008 formulierte das Kongresspräsidium selbst „die Antworten sollen durch eine Vielzahl von interessierten Teilnehmern aus der Forschung, Klinik, Epidemiologie, Präventionsarbeit bis hin zu den von HIV Betroffenen selbst diskutiert werden“. Fehlende Scholarships und Community-Programme erleichtern diesen doch scheinbar gewünschten Dialog nicht gerade.

Während die Zusammenarbeit mit den Communities nur äußerst eingeschränkt erfolgt, scheint die Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie umso intensiver.  So beginnt und endet jeder einzelne Post auf dem Blog des Kongresses mit Dank an die (industriellen) Sponsoren und Einblendung eines Sponsoren-Logos.

„Eine gesunde Partnerschaft mit der Industrie muss aber im Interesse der von HIV-Betroffenen stehen, und darf sich nicht an den wirtschaftliche Interessen der Industrie orientieren“, formuliert das Kongresspräsidium selbst (am 12.5.2008).

Eine gesunde Partnerschaft – was für die Pharmaindustrie gilt, sollte für die von HIV betroffenen Communities in gleichem Umfang gelten. Dass dieses Prinzip in St. Gallen gebrochen wird, vom Kongresspräsidium von Beginn an nicht als Ziel verstanden wurde, ein Rollback zu alten Strukturen versucht und gegen Community-Vertreter durchgesetzt wird, überrascht und bestürzt. Dass dies unter Beteiligung eines Community-Boards erfolgt, überrascht umso mehr. Die Organisatoren zukünftiger Kongresse sind aufgefordert, wieder zum Genfer Prinzip zurück zu kehren.

Kompetenznetz HIV: die problematische Rolle der DAH

Die Doppelrolle der DAH im Kompetenznetz HIV als Interessenvertretung und Projektbeteiligter erscheint konfliktträchtig. Kann eine Organisation, die tief in die Strukturen eingebunden ist, andererseits kritisch ihre Rolle als Interessenvertretung wahrnehmen?

Nach Teil 1 „Kompetenznetz HIV – der steigende Einfluss der Pharmaindustrie“ nun Teil 2 der Gedanken zum Kompetenznetz HIV/Aids – „Kompetenznetz HIV: die problematische Rolle der DAH“:

Das Kompetenznetz HIV/Aids bezeichnet (in seiner Image-Broschüre „Kompetenznetz HIV/Aids – Das Virus hat viele Gesichter. Die Forschung auch.“) als eines seiner Ziele auch den „vertikalen Wissenstransfer zu … den Betroffenen“. „Beratung und Unterstützung der Betroffenen“ sei „von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der HIV-Therapien“, heißt es an anderer Stelle.

Die Rolle der Deutschen Aids-Hilfe im Kompetenznetz HIV

Die Deutsche Aids-Hilfe ist Interessenvertretung der Menschen mit HIV und Aids. Die Deutsche Aids-Hilfe ist (in Gestalt ihres Medizin-Referenten) Mitglied des Steering Committees des Kompetenznetzes HIV.

Zudem existiert ein ‚Patientenbeirat‘ über den die DAH selbst schreibt:

„Die Interessen von Menschen mit HIV und AIDS im Kompetenznetz durchzusetzen, ist nicht nur das Anliegen von AIDS-Hilfen. In Zusammenarbeit mit engagierten Positiven hat die DAH im Kompetenznetz einen Patientenbeirat etabliert… „

Doch die Rolle der Deutschen Aids-Hilfe (DAH)  im Kompetenznetz HIV ist noch eine weitere: sie ist auch Auftragnehmer, Projektbeteiligter im Kompetenznetz HIV. Das Kompetenznetz-HIV – Projekt „Patientennetzwerk: Stärkung der Patientenkompetenz in der Behandlung von HIV/AIDS durch vertikale Vernetzung zwischen dem Kompetenznetz HIV/AIDS und HIV-infizierten Patienten“ wird von der DAH geleitet und durchgeführt.

Die DAH hat damit eine vielschichtige Doppel-Rolle im Kompetenznetz HIV/Aids: Einerseits ist ihr Anliegen die Interessenvertretung von Menschen mit HIV und Aids – hierzu hat sie u.a. Sitz und Stimme im Leitungsgremium des Netzes. Parallel aber ist sie auch Auftragnehmer des Kompetenznetzes, realisiert selbst Projekte, die aus Kompetenznetz-Mitteln finanziert werden.

Diese Doppelrolle der DAH als Interessenvertretung und Projektbeteiligter erscheint zutiefst konfliktträchtig. Es  stellt sich die Frage, wie eine Organisation, die gleichzeitig tief in die Strukturen eingebunden ist, andererseits auch kritisch ihre Rolle als Interessenvertretung wahrnehmen will.

Muss oder zumindest sollte eine Organisation, die die Interessen von Patienten vertritt, zu diesem Ziel Mitglied einer Organisation sein, die eben die Forschung an jenen Patienten koordiniert und durchführt?

Die Antwort liefert das Kompetenznetz HIV vielleicht selbst.
Schon die Bezeichnung des Zieles „vertikaler Wissenstransfer zu den Betroffenen“ zeigt deutlich, dass dem Kompetenznetz in der Zusammenarbeit mit Patienten, mit Menschen mit HIV und Aids (und ihrer Organisation, der DAH) wohl gedanklich ein Top-Down-Ansatz vorschwebt. Informationen werden gezielt nach unten vermittelt – an einen Fluss in umgekehrter Richtung, gar einen wechselseitig befruchtenden Austausch scheint (wohl nicht nur sprachlich) über ausgelagerte Beiräte hinaus nicht gedacht.
Die DAH – mehr als nur ’schmückendes Beiwerk‘, das sich in Verhandlungen mit Bundesregierung und Sponsoren gut macht, ansonsten aber eher lästig ist?

Diese Art Informationstransfer jedoch setzt sicherlich keine Mitgliedschaft von Betroffenen-Organisationen im Kompetenznetz voraus – Wissensvermittlung, zumal im hier formulierten Verständnis, kann leicht über Medien, Veranstaltungen etc. organisiert werden und erfordert keine institutionelle Einbindung.

Ein Beispiel mag die problematischen Folgen verdeutlichen:
Dass innerhalb von Projekten des Kompetenznetzes HIV Daten an die Pharmaindustrie gegeben werden, zumal pseudonymisiert (und eben nicht anonymisiert) beruhigt nicht sehr. Eine kritische und engagierte Interessenvertretung wäre gerade hier (genauso wie generell beim Datenschutz-Konzept und dessen praktischer Umsetzung) wünschenswert.
Gerade hier ist zu fragen, ob die DAH auf der Seite des Kompetenznetzes als Mitlgied und Projektpartner an diesem Vorgang beteiligt sein sollte – oder ob eine wirksame Vertretung von Patienteninteressen insbesondere in derart gestalteten Fällen von besonders starkem Patienteninteresse (wie der Weitergabe von Informationen, Daten oder Biomaterial) nicht eher eine außenstehenden, nicht in die Struktur eingebundene Position erfordert.

Die DAH ist im Kompetenznetz HIV/Aids in einer schwierigen, spannungsbeladenen Rolle. Sie ist im Kompetenznetz eben nicht nur Interessenvertretung der Menschen mit HIV und Aids, sondern andererseits gleichzeitig auch Auftragnehmer eben jenes Kompetenznetzes.

Eine Mitgliedschaft im Kompetenznetz ist für die Interessenvertretung von Positiven nicht nur nicht notwendig, sie ist -wie obiges Beispiel verdeutlichen mag- auch nicht sinnvoll – im Gegenteil, in Konfliktsituationen erweist sie sich potenziell als schädlich, da sie ein wirksames und kraftvolles Beziehen der Patienten-Perspektive und Vertreten ihrer Interessen behindert.

Angesichts dieser Doppelrolle, aber auch angesichts der zunehmenden Konfliktfelder (wie dem deutlich steigenden Einfluss der Pharma-Industrie im und auf das Kompetenznetz HIV) wird deutlich: eine wirksame Interessenvertretung von Menschen mit HIV und Aids ist nicht möglich, wenn die Deutsche Aids-Hilfe selbst stark in dieses Kompetenznetz eingebunden ist, mit all den resultierenden Sachzwängen, Interessenausgleichen, Machtspielen und Hierarchien.

Die DAH sollte prüfen, ob sie ihre derzeitige problembeladene Doppelrolle im Kompetenznetz aufgibt und sich auf wirksame Vertretung von Patienteninteressen konzentriert. Für eine Rolle als schmückendes Beiwerk hingegen sollte sie sich zu schade sein.

Wenn die DAH tatsächlich im Kompetenznetz HIV/Aids die Interessen von Menschen mit HIV und Aids wirksam vertreten will, sollte sie dies von einer Position unabhängiger Stärke tun – von außen.

Andreas Salmen

Am 13. Februar 1992, heute vor 17 Jahren, starb Andreas Salmen, Berliner Schwulen- und Aids-Aktivist, an den Folgen von Aids.

Der Diplom-Politologe Andreas Salmen, 1962 in Göttingen geboren, war seit seiner Jugend politisch engagiert. Er recherchierte Wikipedia zufolge Undercover in der Berliner Neonazi-Szene, war Mitbegründer der Siegessäule, Mitbesetzer des Tuntenhauses in der Berliner Bülowstr. 55  (1981 – 1983), Redakteur der Positiven-Zeitung ‚Virulent‚, und 1989 Mitbegründer von ACT UP in Deutschland.

Salmen war immer kritischer, gerne auch unbequemer Denker und Aktivist.
„Die Geschichte des Verhältnisses der Schwulenbewegung zu Aids ist die Geschichte von Verdrängung und einer Kette von Versäumnissen“, zitiert Jörg Hutter z.B. eine Äußerung von Andreas Salmen in der Siegessäule 1989.

Andreas Salmen brachte, frisch zurück von einem einjährigen USA-Aufenthalt, politischen Aids-Aktivismus in Form von ACT UP mit nach Deutschland. Ohne Salmen wäre ACT UP in Deutschland vermutlich kaum denkbar – und auf einem Koordinierungstreffen deutscher ACT UP – Gruppen erfuhren seine Aktivisten-Kollegen von seinem Tod.

Andreas Salmen Traueranzeige 1
Andreas Salmen Traueranzeige 1

In einer Traueranzeige der deutschen ACT UP Gruppen heiß es 1992

„Die Königin hat ihr Königreich selbst geboren.
… Andreas war derjenige, der die us-amerikanische ACT UP – Idee aufgegriffen und auf unsere Verhältnisse übertragen hat. … Andreas war sicherlich ein schwieriger Mensch; es fiel uns nicht immer leicht mit seiner kompromisslosen und fordernden Art umzugehen. Er war voller Ideen und Konzepte für neue Aktionen, mit denen er den Kampf gegen die AIDS-Krise aufgenommen hatte. Die ungeheuere Energie, die er dabei entfaltete, war nicht zuletzt auch Ausdruck seiner eigenen Betroffenheit. Dabei verstand er die AIDS-Epidemie nicht als isoliertes medizinisches, sondern vor allem auch als politisches Problem. Seine Arbeit war geprägt von seiner Fähigkeit, analytisch zu denken und gleichzeitig leidenschaftlich zu denken. Er hat uns vorgelebt, was SILENCE = DEATH / ACTION = LIFE bedeuten kann.“

Andreas Salmen Traueranzeige 2
Andreas Salmen Traueranzeige 2

Andreas Salmen starb am 13. Februar 1992 an den Folgen von Aids.
Andreas‘ Nachlass wird im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung bewahrt.

Bücher und Veröffentlichungen (nach Homowiki):
* Salmen, A.: AIDS. Solidarität als Alternative. 1988. In: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.): Jahrbuch 1987. Sensbachtal/Odenwald
* Salmen, A.: „Wir werden die Krise überleben.“ Stop-AIDS-Projekte. 1988. In: Siegesäule 5 (6), 1988
* Salmen, A.: „Schwulenbewegung und AIDS – Endlich aus der Opferrolle herauskommen!“ 1989. In: Siegessäule 6 (1), 1989
* Salmen, A.; Eckert, A. (Hrsg.): 20 Jahre bundesdeutsche Schwulenbewegung. 1969-1989 Bundesverband Homosexualität, Köln 1989
* Salmen, A.: „Ein Scharlatan findet seine Jünger. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen Duesbergs.“ 1989. In: Siegessäule 6 (7), 1989
* Salmen, A.; Rosenbrock, R.: (Hg.) AIDS-Prävention. 1990. Berlin Edition Sigma Bohn
* Salmen, A.: (Hg.) „ACT UP Feuer unterm Arsch – Die AIDS-Aktionsgruppen in Deutschland und den USA“ 1991. AIDS-Forum DAH Sonderband, Berlin, 1991