„HIV-Alarm“, gellen die Schlagzeilen. Was ist da los? Die Leserin, der Leser mag (soll?) erschrecken – was ist denn jetzt wieder los? Drohen neue Infektionswellen, gar ein Rückfall in die furchtbaren alten Aids-Zeiten? Ist es schon wieder so furchtbar? Schauen wir einmal nach …
„HIV-Alarm in St. Gallen„, gellt es aus dem Internet-Nachrichten des Schweizer Fernsehens, „Präventionsstellen in Sorge“. „Deutlich mehr HIV-Infektionen“ berichtet das St. Galler Tageblatt, der ‚Bote der Ur-Schweiz‘ hingegen erkennt nüchtern eine „Häufung von HIV-Infektionen in St. Gallen“. Ein „neuer Infektionsherd“ lauert, sorge laut Schweizer Fernsehen „für Schlagzeilen“. Es muss also tatsächlich schlimm sein. Vielleicht sehr schlimm? Es sieht so aus. „Überdurchschnittlich viele HIV-Ansteckungen in St. Gallen„, vermelden die TV-Nachrichten des gleichen Senders.
Hören wir genauer hin, lesen wir nach, halten wir inne.
Wer ist betroffen? „Auffällig viele homosexuelle Männer“ seien es, melden die TV-Nachrichten. Und, schlimmer noch, es geht um Männer die sich teiweise „bei männlichen Prostituierten angesteckt“ hätten. Waren da etwa gewissenlose Stricher am Werk? Und unschuldige Opfer, die mit HIV infiziert wurden? Eine Meldung immerhin, die das Kantonsspital später korrigiert – genauer dementiert und in das Gegenteil korrigiert (ohne dass die Pressemeldung des Kantons korrigiert wurde): „Im Bericht von SF-DRS wird gesagt, dass eine Quelle für diese Infektionen ein Mann sei, der sich prostituiere. Dies entspricht aber nicht unseren Informationen. Wir wissen, dass mindestens ein Mann, der Sex gegen Geld anbietet, auch Opfer dieser Infektionswelle geworden ist. Den umgekehrten Weg haben wir bisher nicht nachgewiesen bei diesen neu diagnostizierten Personen.“
Wer schlägt Alarm? Besorgte Präventions-Arbeiter, oder eine lokale Aids-Hilfe? Irritierte oder hilflose Patienten? Besorgte Krankenkassen? Nein,keiner davon. „Die Staatskanzlei im Kanton St. Gallen schlägt Alarm“, berichtet der TV-Beitrag. Die Staatskanzlei.
Und worum geht es? Genau, es geht, wie es das Kantonsspital vermeldet, um „Handlungsbedarf“. „Der [Kantons-; d. Verf.] Arzt bietet darum in der Schwulenszene von St. Gallen derzeit Tests vor Ort an“, berichten die Nachrichten, „mobile Teams in Saunas, Bars und Discos“. Das Kantonsspital meldet auch den Hintergrund: „Grund für die Information waren die Ergebnisse der Abklärung von frischen HIV Diagnosen in diesen Wochen. Es zeigte sich nicht nur, dass ein grosser Teil der neuen Diagnosen auf eine kürzlich zurückliegende Infektion zurückzuführen sei, sondern auch dass ein grosser Teil der frisch infizierten Personen mit demselben Virus angesteckt wurden.“ Auch hier wieder: „viermal mehr Patienten“ werden beklagt.
Aber – wie viele Menschen sind denn nun von dieser „Welle“ betroffen in St. Gallen? Der TV-Beitrag weiß zu berichten von „deutlich mehr“ Ansteckungen. Und die TV-Nachrichten konkretisieren „Viermal mehr Personen als im Vorjahr“ seien betroffen. Viermal so viele, das sieht schlimm aus, sehr schlimm. Und der St. Galler Chefarzt befürchtet sogar, „dass sich noch weitere Männer angesteckt haben“. Die Zahlen können also steigen, immer weiter steigen. Das klingt ganz furchtbar.
Schauen wir einmal in die Zahlen. Schließlich schlagen die Nachrichten doch Alarm, sprechen vone einer Infektionswelle, die duch St. Gallen rolle. Um wie viele HIV-Neudiagnosen geht es denn? Moment – die Zahlen werden ja in den Berichten zunächst gar nicht genannt. Viermal so viel – das klingt gewaltig, es muss schlimm hergehen in St. Gallen. Aber – viermal so viel von was, von welchem Ausgangswert? Haben sich in St. Gallen gerade Hunderte, womöglich Tausende mit HIV infiziert?
Die Medienbrichte basieren auf einer Pressemitteilung des Kantons St. Gallen „Gehäufte HIV-Infektionen in der Ost-Schweiz„. Auch hier ist die Rede von „deutlich mehr HIV-Infektionen“ (und, nebenbei, wieder und bisher unkorrigiert vom „Umfeld von käuflichem Sex“). Es folgen Verweise auf Safer-Sex-Regeln und den HIV-Test – aber keine konkreten Zahlen. Wir bleiben ratlos. Zumal auch das Kantonsspital auf seiner Seite von „viermal mehr Patienten“ spricht – aber keine absoluten Zahlen nennt.
Dann suchen wir einmal die Zahlen. Nach den grellen Schlagzeilen blendet der TV-Beitrag kurz eine Grafik ein, eine Grafik des Kantonsspitals „Neueintritt ambulanter Patienten mit HIV-Infektion“. Bei genauerem Betrachten (die Stop-Taste hilft) ist zu erkennen: im vergangenen Jahr wurden am Kantonsspital St. Gallen pro Monat durchschnittlich ein bis fünf neue HIV-Patienten aufgenommen (im Januar 2011 vier; über das Jahr durchschnittlich drei). Im Januar 2012 aber „ist die Zahl explodiert“ – es kamen 13 neue HIV-Patienten. 13 – einzig noch DRS1 regional vermeldet diese absolute Zahl in einer kurzen Notiz.
Einen HIV-Test zu propagieren, gerade wenn es risikobehaftete Sitautionen oder Konstellationen gegeben hat, das mag gut und sinnvoll sein. Aber – rechtfertigt das alarmistische Schlagzeilen von „HIV-Alarm“ und „Infektionswelle“?
Oder ertönt hier ‚Begleit-Musik‘, gar ein Ablenkungs-Manöver? Schließlich wird in St. Gallen gerade auch eine Klage verhandelt, Ehemann und Tochter einer an den Folgen ihrer HIV-Infektion verstorbenen Frau verklagen eine Ärztin, die Unterlassung eines HIV-Tests während der Schwangerschaft habe den Tod der Frau verursacht; sie fordern 1,5 Mio. Schweizer Franken Schadenersatz.
Wurden große Schlagzeilen produziert, um ‚mal wieder in den Medien zu sein‘? Oder ‚um auch mal was mit MSM zu machen (und nicht mit serodifferenten heterosexuellen Paaren)? (Was, nebenbei, die Frage aufwirft, warum werden nun zwar Schwule (MSM) angesprochen, sich auf HIV testen zu lassen – nicht aber die Sexworker (Stricher), die gezielt mit in die Berichte eingebracht wurden?)
Viele Frage. Es bleibt der bittere Eindruck von effekthascherischen Schlagzeilen, die die Frage nach dem Grund aufwerfen.
Mir kommen Erinnerungen an den „Schock zu Neujahr: Tausende absichtlich mit HIV infiziert – oder doch nicht?“
Ohne einen Anstieg der Zahlen verharmlosen zu wollen – mich erinnert diese Art, Schlagzeilen zu generieren an meine Oma.
Die hätte, wenn jemich kleine Zahlen gaaanz gross aufgeblasen hätte, gesagt „Junge nun hör mal auf aus einer Mücke einen Elefanten zu machen“, und ergänzt „nun laß mal die Kirche im Dorf“.
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Nachtrag:
27.02-2012, 10:15: „HIV-Massentests für Schwule“ kündigt die NZZ an. „Die schnelle Verbreitung des HI-Virus in St. Gallen hat mit dem sexuellen Verhalten von schwulen Männern zu tun.“