In Europa und den USA steigt in den vergangenen Jahren die Zahl der Menschen, die wegen HIV-Exposition oder -Übertragung juristisch verfolgt wurden. In einigen Staaten Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und der Karibik wurden neue HIV-spezifische Strafrechtsparagraphen eingeführt.
Vor diesem Hintergrund als Dokumentation eine Veröffentlichung des Open Society Institutes (ins deutsche übertragen von der Deutschen Aids-Hilfe): „Zehn Gründe, die gegen die Kriminalisierung von HIV-Exposition oder -Übertragung sprechen„
Anmerkung: Dokumentiert sind hier nur die zehn Gründe als Leitsätze. Jeder Grund ist im Original-Papier (siehe Links unten) ausführlich erläutert und kommentiert.
Zehn Gründe, die gegen die Kriminalisierung von HIV-Exposition oder -Übertragung sprechen
1. Die Kriminalisierung von HIV-Übertragungen ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Übertragung in der bösartigen Absicht anderen Schaden zuzufügen erfolgt. In diesen seltenen Fällen kann und sollte, anstatt neue HIV-spezifische Gesetze zu erlassen, die Anwendung des bereits existierenden Strafrechts erfolgen.
2. Die Anwendung des Strafrechts auf HIV-Exposition oder -Übertragung reduziert nicht die Ausbreitung von HIV.
3. Die Anwendung des Strafrechts auf HIV-Exposition oder -Übertragung untergräbt Bemühungen der HIV-Prävention.
4. Die Anwendung des Strafrechts auf HIV-Exposition oder -Übertragung verbreitet Angst und führt zu Stigmatisierung.
5. Anstatt Frauen Gerechtigkeit zu verschaffen, gefährdet sie die Anwendung des Strafrechts auf HIV-Exposition und -Übertragung und trägt zu einer weiteren Unterdrückung bei.
6. Die Gesetze, die HIV-Exposition und -Übertragung kriminalisieren, sind zu weit gefasst und bestrafen oftmals Verhalten, das nicht schuldhaft ist.
7. Die Gesetze, die HIV-Exposition und -Übertragung kriminalisieren, werden oft ungerecht, selektiv und unwirksam angewendet.
8. Die Gesetze, die HIV-Exposition und -Übertragung kriminalisieren, verdecken die wahre Herausforderung der HIV-Prävention.
9. Anstatt Gesetze einzuführen, die HIV-Exposition und -Übertragung unter Strafe stellen, sollten die Gesetzgeber die Gesetze reformieren, die der HIV-Prävention und -Behandlung im Weg stehen.
10. Bestrebungen die auf Menschenrechten gründen sind am effektivsten.
In der Debatte um die Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie und das Statement der EKAF (‚keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs‚) hat sich die Deutsche Aids-Hilfe positioniert. Im folgenden die Position der Deutschen Aids-Hilfe, beschlossen vom Vorstand am 18.12.2008, als Dokumentation:
HIV-Therapie und Prävention
Die antiretrovirale Therapie hat die Lebenserwartung von Menschen mit HIV deutlich erhöht und die Lebensqualität vieler Positiver wesentlich verbessert. Sie hat darüber hinaus einen wichtigen präventiven Nebeneffekt: das Ansteckungsrisiko wird deutlich vermindert.
Eine Übertragung bei sexuellen Kontakten ohne Kondom ist unwahrscheinlich, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
– die Viruslast des HIV-positiven Partners / der HIV-positiven Partnerin ist seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze,
– die antiretroviralen Medikamente werden konsequent eingenommen,
– bei den Sexualpartnern/partnerinnen liegen keine Schleimhautdefekte z.B. als Folge sexuell übertragbarer Infektionen vor.
Das heißt: Das Risiko einer HIV-Übertragung ist unter den oben genannten Bedingungen so gering wie bei Sex unter Verwendung von Kondomen.
Unsere bisherigen Safer-Sex-Botschaften werden dadurch sinnvoll und wirksam ergänzt; in der Prävention eröffnen sich dadurch neue Möglichkeiten.
Diese erste Stellungnahme werden wir weiter im Verband diskutieren und bis Ende März eine breit getragene Position der DAH veröffentlichen.
„Stoppt AIDS“, schreit mich das kleine Plastik-Beutelchen an, in kreischendem rot. Aus dem Klarsichtfenster leuchten mir, ich mag es beim ersten irritierten Betrachten kaum glauben, ‚Red Ribbons‘ aus Weingummi entgegen …
Welche Botschaft möchte mir dieses Tütchen übermitteln? Welchen Sinn näher bringen? Vielleicht ‚Kau mal wieder Gummi‚? Vielleicht ‚Play safer, lutsch Weingummi‘? Oder etwa ‚Solidarität mit Positiven, weg mit den Weingummis‘?
Männer, die Sex mit Männer haben, praktizieren seit Jahren stabil zu einem sehr hohen Anteil safer sex. Und immer mehr schwule Männer machen regelmäßig einen HIV-Test. Dies sind wesentliche Ergebnisse der 8. Wiederholungsbefragung “Schwule Männer und AIDS”.
Der Gesamtbericht zur 8. Wiederholungsbefragung “Schwule Männer und AIDS”unter dem Titel “Wie leben schwule Männer heute? – Lebensstile, Szene, Sex, AIDS 2007″ von Bochow / Schmidt / Grote präsentiert eine Fülle an Informationen über das Leben von Männern, die Sex mit Männern haben – und bietet damit auch zahlreiche Ansätze, HIV-Prävention in Deutschland weiter zu optimieren.
Die Studie von Michael Bochow mit Unterstützung von Axel J. Schmidt
ist keine Repräsentativbefragung (dies ist nicht möglich, da die Grundgesamtheit der MSM nicht bekannt ist), aber ein ‚conveniance sample‘ mit exemplarischer Bedeutung. 9.024 Fragebögen konnten ausgewertet werden, davon 8.170 aus Deutschland. 76% der Fragebögen wurden online ausgefüllt, insbes. über gayroyal und gayromeo. 85% der Befragten bezeichneten sich als schwul oder homosexuell, 11% als bisexuell.
Etwa die Hälfte der Befragten lebte zum Zeitpunkt der Untersuchung mit einem festen Partner zusammen. 6% leben in einer eingetragenen Partnerschaft, weitere 18% erwägen dies.
Dabei betont Bochow einen bemerkenswerten Zusammenhang: „Mit steigendem Bildungsniveau und sozioökonomischem Status nimmt der Anteil der MSM ab, die als Singles leben“ (S.27). Und „der Anteil der offenen Beziehungen steigt mit zunehmendem Alter und zunehmender Beziehungsdauer“.
„Der Anteil schwuler Männer, die in Deutschland Opfer antischwuler Gewalt wurden, ist im Zeitraum der Wiederholungsbefragungen relativ konstant geblieben“ (S.29):
– verbale Gewalt 2007 13%, 2003 11%, 1999 13%, 1996 12%,.
– physische Gewalt: 2007 2%, 2003 2%, 1999 3%, 1996 4%.
Drei Viertel der befragten Teilnehmer hatten im Jahr vor der Befragung weniger als zehn Sexpartner (S. 31). Im Median belief sich die Zahl der angegebenen Sexpartner auf 4. Ab einem Lebensalter von 30 Jahren nimmt der Anteil der Befragten, die mehr als 10 Sexpartner angaben, deutlich zu (höchste Partnerzahlen in der Altersgruppe von 30 bis 44 Jahren). In den ‚Schwulenmetropolen‘ haben MSM mehr Sexpartner als in den Regionen und kleineren Städten.
Die häufigsten angegebenen Sexpraktiken sind Wichsen (Masturbation) und Blasen (Oralverkehr). Analverkehr ist in festen Partnerschaften mit 21% bedeutender als bei Sexkontakten mit anderen Männern (14%). Die meisten der befragten MSM praktizieren beim Analverkehr beide Positionen (aktiv und passiv, versatil; S.43). Mit steigendem Alter erhöht sich der Anteil der Männer, die keinen Analverkehr haben (S.34). Fisten oder SM wird in festen Partnerschaften von 89%, mit anderen Sexpartnern in 85% nie praktiziert.
Zahlreiche Angaben liefert Bochow zum Safer Sex – Verhalten.
„Der Anteil schwuler Männer, die beim Analverkehr -vor allem mit Sexpartnern außerhalb fester Beziehungen- durchgängig Kondome verwenden, ist über einen Zeitraum von 17 Jahren mit 70% gleichbleibend hoch“ (S.151).
Kondom dabei – für die meisten kein Problem. Von den Männern, die angaben innerhalb des letzten Jahres Analverkehr gehabt zu haben, machten 87% aller zuletzt HIV-negativ getesteten oder ungetesteten Männer die Angabe, „ein Kondom in der Tasche oder zuhause“ zu haben (S.38). Bei HIV-Positiven lag dieser Anteil bei 94%. Bei Männern aus höheren Bildungsschichten lag der Anteil von genereller Kondomverfügbarkeit höher; niedriger lag er insbes. bei Männern unter 20 Jahren.
69% der Männer, die Sex mit nicht-festen Partnern haben, haben dabei immer ein Kondom verwendet, weitere 17% häufig. Mit dem festen Partner lag diese Zahl nur bei 30% (‚immer‘) bzw. 8% (‚häufig‘). Bochow: „Allgemein lässt sich sagen, dass umso eher auf ein Kondom verzichtet wird, je länger die feste Partnerschaft andauert“ (S.40; siehe auch weiter unten ‚Risikomanagement‘).
Ist der HIV-Test ein heute gängigerer Weg sich Klarheit zu verschaffen?
„Immer mehr MSM machen regelmäßig einen HIV-Test“ (S. 151). Zwar haben 36% aller Teilnehmer noch nie einen HIV-Test durchführen lassen. Mit steigendem Lebensalter aber steigt der Anteil der MSM, die sich bereits auf HIV haben testen lassen – und die Häufigkeit des Tests: 55% der 30- bis 44Jährigen hat sich bereits mehr als zweimal testen lassen. Bochow konstatiert einen „Hinweis darauf, dass sich ein bedeutsamer Anteil von MSM regelmäßig, d.h. etwa in ein- bis zweijährlichem Abstand testen lässt“ (S.73). Dabei lassen sich MSM in den ‚Schwulenmetropolen‘ besonders häufig testen; eine deutlich höhere Testfrequenz haben ebenfalls Männer mit einer Frequenz von mehr als 5 Sexpartnern.
Zudem sieht Bochow deutliche Hinweise auf eine „zunehmende Durchtestungsrate bei MSM in festen Beziehungen“ (S.82).
Überwiegendes Motiv zum HIV-Test ist mit 78% ‚eigener Antrieb‘, in 11% der Arzt.
Bochow sieht im kontinuierlichen Zunehmen der Testbereitschaft und -intensität „ein weiteres Indiz dafür, dass der beobachtet Anstieg der HIV-Neudiagnosen bei MSM teilweise über die Zunahme der Testhäufigkeit in dieser Gruppe zu erklären ist“ (S.145). Angesichts weiterer Intensivierungen und Ausweitungen von Testkampagnen dürfte auch für 2009 und 2010 steigende HIV-Neudiagnosezahlen zu erwarten sein.
Insbesondere bei der Häufigkeit von HIV-Test besteht eine Korrelation zur ökonomischen Situation (MSM mit höherem Nettoeinkommen haben zu höherem Anteil mehr als zwei HIV-Tests; S.75).
Noch deutlicher ist dieser ökonomische Unterschied beim Anteil HIV-positiv Getesteter: „In jeder Altersgruppe ist der Anteil Positiver in der untersten sozialen Schicht … mindestens doppelt so hoch wie in der höchsten sozialen Schicht …Besonders ausgeprägt ist der Unterschied in der Altersgruppe der 20- bis 29Jährigen“ (S. 76).
Risikomanagement ist schon jetzt eine weit verbreitete Strategie unter MSM. Das Konzept der ‚ausgehandelten Sicherheit‘ (negociated safety) scheint dabei bereits heute weit verbreitet zu sein – beide Partner sind zeitnah konkordant HIV-negativ getestet, verzichten innerhalb der Partnerschaft auf Kondomverwendung und halten außerhalb der Partnerschaft strikt die Regeln des safer sex ein.
Männer innerhalb fester (konkordant negativer offener) Partnerschaften geben nur zu 4% an, mit anderen Partnern grundsätzlich auf ein Kondom zu verzichten, jedoch 80% äußern eine konsequenten Anwendung von Kondomen mit anderen Partnern. Innerhalb ihrer festen Partnerschaft hingegen verzichten ihren Angaben zufolge 63% auf ein Kondom.
Zur Frage, wie reflektiert dieser Kondomverzicht in Bezug zur Partnerschaftsdauer ist, bemerkt Bochow „Gerade in Partnerschaften von kurzer Beziehungsdauer wird somit bereits häufig auf Kondome verzichtet, ohne dass der Befragte über ein aktuelles negatives HIV-Testergebnis verfügt. Dieser vorschnelle Kondomverzicht in noch nicht lange bestehenden Partnerschaften sollte daher einen wichtigen Fokus zukünftiger Präventionskonzepte bilden.“
Für die Weiterentwicklung der HIV-Prävention besonders interessant scheinen zahlreiche Angaben zu von Bochow beschriebenen ‚Kernbereichen sexueller Interaktion‚ (in Anlehnung an Kabasti). „Insbesondere die 30- bis 44Jährigen bzw. MSM aus den Städten Berlin, Hamburg, Köln, München und Frankfurt am Main sind in den Kernbereichen sexueller Interaktion deutlich überrepräsentiert“.
Bochow betont dass (auf die Studie bezogen) „35% aller HIV-Neudiagnosen seit 2005 auf diejenigen 7% aller Befragten entfallen, die Kernbereichen sexueller Interaktion zugerechnet werden können“ (S.51). „Hohe Partnerzahlen, häufiger Analverkehr und bestimmte -teils wenig effektive- Risikominimierungsstrategien bei gleichzeitig schwacher Orientierung an den Normen des Safer Sex ergeben bei der vergleichsweise hohen HIV-Prävalenz in dieser Gruppe eine Gemengelage, die den überproportional hohen Anteil neuer HIV-Diagnosen plausibel erklären kann“ (S. 53).
In diesen Kernbereichen seien „anhand nur weniger Informationen MSM mit besonders hohem HIV-Risiko zu identifizieren“. Bochow fordert, gerade hier „individuelle Beratungen zu Übertragungswegen (und entsprechenden Schutzmöglichkeiten) und Symptomen“ anzubieten, nicht nur zu HIV, sondern auch zu anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen. Zwei Berufsgruppen seien hier besonders bedeutend, die ‚Vor-Ort-Präventionisten‘ sowie die Hausärztinnen und -ärzte.
Besondere Aufmerksamkeit widmet die Studie auch MSM mit Migrationshintergrund. Ein bedeutendes Thema, hatte doch die SMA-Befragung 2003 (auf die Bochow hinweist) gezeigt, dass „nicht-‚deutschstämmige‘ MSM mehr Sexualpartner hatten, häufiger sexuelle Risikokontakte eingingen, sich seltener auf HIV testen ließen, aber deutlich stärker von sexuell übertragbaren Infektionen und HIV betroffen“ waren (S.127).
MSM mit Migrationshintergrund lebten häufiger in offenen Partnerschaften und hatten mehr Sexualpartner. Bei Kondomgebrauch bei Analverkehr hingegen zeigte sich kein Unterschied, ebenso nicht beim Aussetzen eines sexuellen HIV-Übertragungsrisikos (S.131).
An der Studie nahmen 280 MSM mit nichtdeutscher Staatsbürgerschaft teil (3,5%). Auch bei Erweiterung auf das Konzept ‚Migrationshintergrund‘ zeigte sich eine deutliche Unterrepräsentierung dieser Gruppe in der Studie. Vertiefende Studien zu diesem Bereich scheinen dringend geboten.
Die Studie bietet zahlreiche weitere Informationen – über ’strategische Positionierung‘ und ‚coitus interruptus‘ (‚dipping‘, ‚raus bevor’s kommt‘) oder Drogenkonsum und sexuell übertragbare Infektionen bis zu zahlreichen besonders interessanten Angaben zu ‚Bereichen sexueller Interaktion‘ oder Idee und Lebensrealität von Serosorting und (besonders für die Debatte zu Auswirkungen des EKAF-Statements auf die Prävention interessante) Ausführungen zur ‚Auswirkung der ART bei HIV-Positiven auf das präventive Verhalten‘.
Die Befragung „Schwule Männer und Aids“ wird bereits seit 1991 durchgeführt. Über den Hintergrund der Studie schreibt das WZB:
„In den Jahren 1991, 1993, 1996, 1999 und 2003 wurden im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) von Dr. Michael Bochow (2003 zusammen mit Dr. Michael Wright) Befragungen zum präventiven Verhalten homosexueller Männer durchgeführt. 1987 und 1988 waren analoge Befragungen im Auftrag der Deutschen AIDS-Hilfe durchgeführt worden. Diese Erhebungen wurden durch die Schaltung eines vierseitigen Fragebogens in den wichtigsten Monatszeitschriften für homosexuelle Männer in der Bundesrepublik ermöglicht.
Ziel der Untersuchungen ist die langfristige Beobachtung der Entwicklung von Wissen und Einstellungen von homosexuellen Männern in Hinblick auf HIV und AIDS und ihr präventives Verhalten bzw. Risikomanagement. …
Erstmalig wurde zeitgleich mit der deutschen Erhebung im Mai 2007, in Kooperation mit der AIDS-Hilfe Wien, eine Befragung in Österreich durchgeführt.“
Bochow / Schmidt / Grote (WZB Berlin) : „Wie leben schwule Männer heute? – Lebensstile, Szene, Sex, AIDS 2007″ – Gesamtbericht zur 8. Wiederholungsbefragung „Schwule Männer und AIDS“ im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln (als pdf hier)
Bochows Studie zeigt einmal mehr, dass die Realität des (Sex- und Beziehungs-) Lebens von Männern, die Sex mit Männern haben, die regierungsamtliche Wahrnehmung und auch die Präventionsrealität bereits überholt hat. Was die Frage von Kondomverzicht, Partnerschaft und Konzepte des Risikomanagements angeht, haben viele MSM; bereits längst ihre individuellen Modelle des Umgangs mit veränderten Realitäten gefunden – mit zahlreichen realistischen Risikoabwägungen, aber auch vielen Risiken von Fehlinterpretationen, Mißverständnissen und Falschwahrnehmungen. Prävention wäre gut beraten, sich hierauf (zukünftig möglichst proaktiv) einzustellen, Behörden und Politik gut beraten, hier zu fördern statt zu verhindern.
Dennoch stellen sich im Detail einige Fragen (die die Autoren teils bereits selbst aufwerfen). Bei den betrachteten Sexpraktiken erstaunt z.B. die Zusammenlegung von Fisten und SM – auch wenn diese epidemiologisch begründet wird (‚erhöhtes Verletzungsrisiko‘). Gerade hinsichtlich z.B. Hepatitis C dürften hier Unterschiede bestehen. Auch die Verwendung des Begriffs einer ‚Lederszene‘ scheint (wenn auch der Daten-Kontinuität geschuldet) heutzutage angesichts der Szene-Realitäten veraltet, und durch ‚Fetischszene‘ nur unzureichend ‚ersetzt‘. Ebenso überrascht die Behandlung von Produkten wie ‚Viagra‘ unter der Überschrift ‚Drogenkonsum‘.
Bestürzender aber sind einige der vielen Detail-Ergebnisse. So muss z.B. erschrecken, wie sehr HIV-Test und vor allem positiver HIV-Status inzwischen auch in Deutschland eine Frage des sozioökonomischen Status sind. HIV und Armut – bei weitem nicht nur ein Problem dessen, was wir ‚gönnerhaft‘ als „Dritte Welt“ zu bezeichnen belieben. Sozioökonomischer Status, Bildung, HIV-Risiko und Armut – ein Handlungsfeld, dem sich Aidshilfe weit stärker als bisher widmen sollte.
„Die bisherigen Berichte wurden breit rezipiert. Die AutorInnen hoffen, dass dieser Bericht auf ein ähnliches Interesse stoßen wird.“ Diesem Wunsch kann ich mich nur anschließen. Downloaden (als pdf hier) und in Ruhe lesen, stöbern, Anregungen bekommen …
Besonders zur Lektüre empfohlen sei Bochows Studie all jenen -ob Politiker, Journalisten oder auch in Aids Engagierten-, die immer wieder von einer ’neuen Sorglosigkeit‘ lamentieren. Informieren statt spekulieren oder stigmatisieren …
Nachtrag:
31.12.2008: zu einer anderen Einschätzung der Studie von Bochow, Schmidt et al. kommt TheGayDissenter: „Von Unterschichtschwulen, AIDS und Sex im Intermediärbereich“
Das Robert-Koch-Institut berichtet nicht nur bundesweit über die Stabilisierung der Zahl der HIV-Infektionen, sondern erstellt auch Berichte z.B. zur Situation von HIV/Aids in den Bundesländern:
HIV/Aids in Baden-Württemberg
HIV/Aids in Bayern
HIV/Aids in Berlin
HIV/Aids in Brandenburg
HIV/Aids in Bremen
HIV/Aids in Hamburg
HIV/Aids in Hessen
HIV/Aids in Mecklenburg-Vorpommern
HIV/Aids in Niedersachsen
HIV/Aids in Nordrhein-Westfalen
HIV/Aids in Rheinland-Pfalz
HIV/Aids im Saarland
HIV/Aids in Sachsen
HIV/Aids in Sachsen-Anhalt
HIV/Aids in Schleswig-Holstein
HIV/Aids in Thüringen
HIV/Aids in Deutschland
Anders als in Deutschland (Stabilisierung) sieht die Situation in einigen Nachbarländern aus:
Über „Forse toename hiv-geïnfecteerden in Nederland in 2007“ berichtet ‚Poz and Proud‘, basierend auf dem Bericht des HIV-Monitoring der Niederlande (pdf)
Und pinknews berichtet aus Großbritannien ‚New figures show record number of HIV diagnosis among gay bisexual men‘, die BBC sagt ‚Rise in UK HIV numbers continues‘
In Frankreich erfreulicherweise ‚kein Anstieg bei den Homos‘
Die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Deutschland stagniert, HIV-Prävention ist erfolgreich. Doch – werden die Zahlen der HIV-Neudiagnosen in den kommenden Jahren so niedrig bleiben? Und wenn nicht, wäre dies ein Versagen der Prävention?
Zum Welt-Aids-Tag werden traditionell die Zahlen der HIV-Neu-Diagnosen und HIV-Neu-Infektionen präsentiert und breit diskutiert. ‚Stabilisierung der Zahl der HIV-Infektionen‚ konnte das Robert-Koch-Institut für Deutschland erfreulicherweise vor kurzem vermelden.
Und der Erfolg der HIV-Prävention in Deutschland wird gelobt. Erst jüngst zeigte sich Bundeskanzlerin Merkel auf dem Welt-Aids-Tags – Empfang 2008 der Deutschen Aids-Hilfe „stolz, … dass wir wirklich zu den vorbildlichen Ländern auf der Welt gehören“ (Rede Text, Video).
Ein Erfolg, der sich sehen lassen kann, in mehrfacher Hinsicht: im internationalen Vergleich sind die Zahlen der HIV-Infektionen in Deutschland sehr niedrig. Und aus zahlreichen Nachbarstaaten werden aktuell (bei stagnierenden Zahlen in Deutschland) deutlich steigende Zahlen an HIV-Neudiagnosen gemeldet.
Die deutsche HIV-Prävention kann also zu Recht ein wenig stolz sein auf errungenen Erfolge.
Über diese Erfolge und die Freude darüber sollte jedoch nicht vergessen werden, dass vermutlich in den kommenden Jahren mit steigenden Zahlen bei den HIV-Neudiagnosen zu rechnen sein dürfte.
Steigende Zahlen? Ja – und aus einfachem Grund. Und steigende Zahlen vor allem in der Gruppe der so genannten MSM (Männer die Sex mit Männern haben).
Gerade in den Gruppen schwuler Männer nimmt die Bereitschaft derzeit deutlich zu, einen HIV-Test zu machen. Und nicht nur das, mit gezielten HIV-Test-Kampagnen wenden sich in zahlreichen Städten Deutschlands Aids-Hilfen, aber auch Schwulengruppen sowie Lesben- und Schwulenzentren gezielt an die Gruppe schwuler Männer. Die Bereitschaft zum HIV-Test wird dadurch weiter erhöht, und der Zugang zum Test durch koordinierten Beratungs- und Test-Angebote weiter erleichtert. Eine für Herbst 2009 geplante bundesweite HIV-Test-Kampagne im Rahmen der Kampagne ‚ich weiss, was ich tu‘ wird die Zahl der HIV-Tests noch weiter erhöhen.
So banal es klingen mag – wo viel getestet wird, werden auch mehr (bisher unbekannte) HIV-Infektionen festgestellt. Je mehr Menschen, und gerade: je mehr Menschen aus den in besonderem Umfang von HIV betroffenen Gruppen einen HIV-Test machen, desto höher wird zukünftig die Zahl der HIV-Neudiagnosen ausfallen.
Also – seien wir heute schon ehrlich: die erfreuliche Entwicklung, dass die Zahl der HIV-Neudiagnosen sich 2008 stabilisiert hat, wird sich so in den kommenden Jahren, besonders schon 2009 vermutlich nicht aufrecht erhalten lassen. Die Zahl der HIV-Neudiagnosen dürfte 2009 und 2010 steigen.
Warum ich diese banale Erkenntnis so betone?
Weil Medien, aber auch Politiker und mancher Aktivisten gerne dazu tendieren, jeglichen Anstieg der HIV-Zahlen voreilig als Versagen der Prävention zu brandmarken, ihn für andere Zwecke instrumentalisieren. HIV und Aids werden gern als Mittel benutzt, um andere Zwecke zu erreichen – gerade ein eventuell deutlicher Anstieg der HIV-Neudiagnosen bei schwulen Männern könnte da leicht so manchen Politiker oder Kirchen-Funktionäre, fundamentalistischen Eiferer oder auch nur nachlässigen Redakteur zu voreiligen, verkehrten, im schlimmeren Fall gefährlichen Schlüssen verleiten.
Sollten die Zahlen der HIV-Neudiagnosen 2009 durch vermehrte Tests steigen – so wäre dies aber ganz im Gegenteil letztlich ein Erfolg der Prävention!
Ein Erfolg für diejenigen HIV-positiven Menschen, denen nun eine adäquate Behandlung und Therapie ihrer Infektion rechtzeitig zur Verfügung steht. Ein Erfolg erst recht für diejenigen Menschen, bei denen ansonsten womöglich erst sehr spät im Infektionsverlauf HIV diagnostiziert worden wäre, zu einem Zeitpunkt, an dem ihre Gesundheit schon unnötig stark geschädigt wäre, sie womöglich bereits schwer erkranken (late diagnosis). Und letztlich wäre es auch ein Hinweis auf einen Erfolg der Test-Kampagnen, der HIV-Prävention.
Also: gerade wenn wir uns über die stagnierenden Zahlen der HIV-Infektionen 2008 freuen, gerade wenn wir Erfolge der HIV-Prävention in Deutschland berechtigt feiern – seien wir ehrlich, sagen wir auch: ja, in den kommenden Jahren könnten die Zahlen der gemessenen HIV-Neudiagnosen möglicherweise steigen.
HIV-Infektiosität unter einer stabilen und wirksamen antiretroviralen Therapie (sART)
Positionspapier der AIDS-Hilfe Hessen zur Veröffentlichung der Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen (EKAF) vom 30. Januar 2008
Vorbemerkung:
In Deutschland wird derzeit darüber diskutiert, wie mit den Empfehlungen der Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen (EKAF) zur Beratung gut behandelter HIV-infizierter Menschen umgegangen werden soll. Die EKAF ist das höchste Beratergremium der Schweizer Regierung zu HIV und Aids. Sie setzt sich zusammen aus VertreterInnen der Wissenschaft und den wesentlichen Akteuren der HIV-Prävention. In ihrer Bedeutung ist sie vergleichbar mit dem Deutschen Nationalen Aids-Beirat der Deutschen Bundesregierung. Die Empfehlungen wurden einstimmig verabschiedet und am30.01.2008 veröffentlicht.
Auf Grundlage des aktuellen Standes der Diskussion gehen wir davon aus, dass die Grundaussage des EKAF-Papieres breite fachliche Unterstützung findet.
Die Kontroverse fokussiert aus unserer Sicht eher die Frage, ob die Aussagen der EKAF veröffentlicht werden sollten und welche Folgen dies für die Prävention von HIV-Neuinfektionen haben würde. Im Einklang mit unseren Leitbildern lehnen wir es ab, der Öffentlichkeit Informationen vorzuenthalten oder Informationen interessengeleitet zu entstellen, auch nicht aus präventionstaktischem Kalkül. Insbesondere das Unterdrücken neuer Erkenntnisse hinsichtlich der Übertragungswege und der Infektiosität von HIV ist in keinem Fall ein legitimes Mittel zur Erfüllung irgendeines Zwecks.
Position
Trotz aller Bedenken, die hinsichtlich möglicher Restrisiken in die Diskussion gebracht werden, besteht unserer Kenntnis nach Einigkeit darüber, dass die Restrisiken maximal denen von Safer Sex entsprechen.Da ein weitgehender Konsens in der Fachöffentlichkeit besteht, Safer Sex (unter Verwendung von Kondomen) zu empfehlen, und wir dies – nicht ohne den Hinweis auf Restrisiken – schon immer tun, schließen wir uns der Aussage der EKAF im Grundsatz an.
Wir leiten daraus die folgende Formulierung ab:
„Wer seit mindestens 6 Monaten eine Viruslast unter der Nachweisgrenze hat,
die Therapie konsequent durchführt und keine anderen symptomatischen
STIs hat, überträgt HIV bei Kondomverzicht mit einer Wahrscheinlichkeit, die
der von Safer Sex (unter Verwendung von Kondomen) ohne diese Voraussetzungen
entspricht.“
Die in letzter Zeit zunehmende Fokussierung von Risikowahrnehmung und Verantwortung auf Menschen, die von ihrer Infektion wissen, halten wir präventionslogisch für kontraproduktiv. Sie ist falsch angesichts der Erkenntnis, dass Neuinfektionen nicht nur überwiegend von Menschen ausgehen, die von ihrer Infektion nicht wissen, sondern dies vor allem dann geschieht,wenn sich die Träger des Virus gerade selbst erst infiziert haben, und sich somit noch in der Phase der Primärinfektion befinden.
Wir begrüßen, dass eine Aussage, die von vielen Experten seit längerem außerhalb der Öffentlichkeit getroffen wird, nun die Öffentlichkeit erreicht hat.
Wir gehen davon aus,dass die Veröffentlichung der EKAF einen wichtigen Beitrag dazu leistet,
– den Wandel des Selbstbildes von Betroffenen zu befördern;
– eine Normalisierung der gesellschaftlichen Wahrnehmung von HIV/AIDS zu befördern;
– einen den Realitäten angemessenen Blick auf Übertragungsmöglichkeiten und -wahrscheinlichkeiten zu eröffnen, und so den Abbau von Fehleinschätzungen und daraus resultierenden Ängsten zu befördern;
– Aushandlungsprozesse in Beziehungen, auch im Hinblick auf Schwangerschaft und Kinderwunsch zu erleichtern;
– von Infektionsängsten unbelastete sexuelle Begegnungen zu ermöglichen, und selbst bei Safer Sex-Unfällen Ängste abzubauen. In diesem Zusammenhang erwarten wir zudem einen Bedeutungsverlust der PEP.
– die Angst vor einem positiven HIV-AK-Test mit den daraus resultierenden Folgen abzubauen und so die Motivation zum Test zu stärken (mit den daraus resultierenden Vorteilen für die Sekundärprävention);
– ein gelingendes individuelles Risikomanagement zu realisieren,
– indem zum einen Schutzillusionen abgebaut werden (hierzu zählen wir neben dem negativen
Serosorting vor allem die Identifikation von Orten/Settings und Partnern, die als „sicher“ phantasiert
werden, was einer fehlgeleiteten subjektiven Sicherheitsvorstellung gleichkommt), und
– indem zum anderen das Bewusstsein für die Bedeutung der Prävalenz von HIV und anderen STIs
bei MSM geschärft wird;
– unsere Präventionsstrategien weiterzuentwickeln, u.a. auch durch die Festigung bestehender Standards, wie die Stärkung von Selbstbestimmungsprozessen, die Berücksichtigung von Lebensqualität und die Orientierung an der gelebten Wirklichkeit;
– die Rechtsprechungspraxis zu verändern.
Implikationen für die Beratungsarbeit und die Prävention
Die hessischen Aidshilfen verfolgen in ihrer Beratungsarbeit als ein wesentliches Ziel „die Wiederherstellung, Wahrung und Erweiterung der persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten“ und „die Ausweitung des Handlungsfeldes und der Handlungsalternativen“ der Beratungssuchenden (Leitlinien zur psychosozialen Beratungsarbeit).
In diesem Sinne unterstützen wir Ratsuchende, auf die die von der EKAF benannten Voraussetzungen zutreffen, in ihrer Auseinandersetzung mit der Frage, in wie weit eingeübte (negative) Selbstbilder angesichts die Neubewertung, die durch Veröffentlichung der EKAF vorgenommen wird, überdacht werden müssen. Wir zielen dabei darauf ab, die entlastenden Aspekte dieser Aussagen wirksam werden zu lassen.
Wir sind uns jedoch auch der Tatsache bewusst, dass die Aussagen der EKAF nicht ausschließlich eine Entlastung darstellen, denn für die Betroffenen wird die Auseinandersetzung mit der eigenen Infektiosität komplexer.Wir gehen davon aus, dass die Wahrnehmung der Veränderungen in der Viruslast für die betroffenen KlientInnen an Bedeutung gewinnt. In unserer Beratungsarbeit müssen wir uns folglich den medizinischen und psychosozialen Herausforderungen stellen, die durch ein intensiviertes „Therapie-Monitoring“ entstehen können. Um den hieraus resultierenden Beratungsbedarfen gerecht werden zu können, aktualisieren wir fortwährend unser medizinisches Fachwissen und setzen uns bei unserem Bundesverband dafür ein, dass entsprechende Fortbildungsmaßnahmen angeboten und Informationsangebote bereitgestellt werden.
Darüber hinaus unterstützen wir Ratsuchende in ihren Bemühungen, die veränderte wissenschaftliche Bewertung der Infektiosität unter einer wirksamen ART in das eigene Risikomanagement zu integrieren. Auch in dieser Frage schreiben wir gemäß unserem Leitbild niemandem Antworten und Lösungen vor, sondern arbeiten ergebnisoffen. Wir enthalten niemandem Informationen vor und stellen Transparenz her sowohl im Hinblick auf unterschiedliche wissenschaftliche Bewertungen als auch im Hinblick auf unsere eigenen Ziele und Haltungen als BeraterInnen und die fachlichen Diskurse, die diese beeinflussen.
Diese Haltung in der Beratung entspricht der unserer Präventionsarbeit. Wir stellen uns den Herausforderungen, die aus der zunehmenden Individualisierung der Präventionsstrategien erwachsen sind und bieten unsere Unterstützung in der Gestaltung eines gelingenden Risikomanagements an. Wir bieten Anlass und Informationen, um die individuellen Strategien zu hinterfragen und abzusichern und fördern die individuelle Auseinandersetzung mit Wünschen, Phantasien und Sehnsüchten sowie die Bereitschaft, diese zu kommunizieren. Hierdurch fördern wir die Bereitschaft zur Übernahme von Eigenverantwortung. Gegenüber der Politik und unseren Finanzgebern fordern wir die Unterstützung ein, die für den Ausbau und die Weiterentwicklung unserer personalkommunikativen Angebote notwendig ist.
Für die HIV-Prävention wird staatlicherseits viel Geld zur Verfügung gestellt. Stimmt dies tatsächlich? Welche Prioritäten gelten bei der Bereitstellung von Geldern zur Verhinderung von HIV-Infektionen? Nachdenklichkeiten …
Bundesregierung und Politiker betonen gerne (und berechtigterweise), die Aids-Politik in Deutschland sei angesichts von Neu-Diagnosezahlen, die sich im internationalen Vergleich auf sehr niedrigem Niveau bewegen, sehr erfolgreich. Und sie loben sich -wie erst jüngst beim Kampagnenstart ‚ich weiss, was ich tu‘ oder demnächst beim Welt-Aids-Tags-Empfang der Deutschen Aids-Hilfe- selbst, ausreichend hohe Mittel für den Kampf gegen Aids in Deutschland bereit zu stellen.
Die Deutsche Aids-Hilfe hat 2007 von der Bundesregierung / Bundesgesundheitsministerium (via Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) Mittel in Höhe von insgesamt knapp 4,6 Mio. € erhalten. Mittel, die sie gemäß Zweckbestimmung für HIV- und Aids-Prävention bei den von HIV vorrangig betroffenen Gruppen (Männer, die Sex mit Männern haben, DrogengebraucherInnen, Menschen aus Weltregionen mit weiter HIV-Verbreitung) einsetzt. Mittel, die unstrittig eine sehr hohe Zahl an zusätzlichen HIV-Neuinfektionen pro Jahr verhindern.
4,6 Mio. € sind ein Beitrag in nennenswerter Höhe, ein lobenswertes Engagement der Bundesregierung.
Aber auch angesichts dieses Einsatzes öffentlicher Mittel gilt es das Maß zu wahren.
Maß?
Welches Maß?
Nun, zum Beispiel könnte als Maß dienen, welche Mittel zur Verhinderung wie vieler zusätzlicher HIV-Neuinfektionen eingesetzt werden.
HIV-Neuinfektionen werden nicht nur durch HIV-Prävention für Allgemeinbevölkerung (BzgA) und Zielgruppen (DAH) verhindert, sondern z.B. auch durch die Erhöhung der Sicherheit von Blutprodukten. Auch dies erfordert den Einsatz von öffentlichen Geldern.
„Anfang des Jahrzehnts wurde damit begonnen, die Blutspenden direkt auf das Virus zu testen, das heißt man lagerte sie nicht mehr wie früher und wartete, ob sich Antikörper bilden. Das kostet Deutschland, weil dies ein Monopolprodukt einer Pharmafirma ist, schätzungsweise 10 Millionen Euro pro Jahr. Damit wurde das statistische Risiko, dass sich Menschen in der Krankenversorgung mit HIV infizieren, von eineinhalb Fällen pro Jahr auf einen halben Fall pro Jahr reduziert. Zugleich steht für die gesamte Prävention – laut RKI-Bulletin haben wir ca. 2.700 Infektionen im Jahr – insgesamt weniger Geld zur Verfügung, als für die Verhütung dieses einzelnen Falls in der Krankenversorgung durch den direkten Test der Blutkonserven ausgegeben wird.“ (Rolf Rosenbrock, „Entscheidend ist die Kommunikation“, in: Jahrbuch 2007/2008)
Für die Verhinderung einer einzigen HIV-Neuinfektion werden 10 Mio. Euro pro Jahr ausgegeben.
Für die gesamte HIV-Prävention bei den von HIV/Aids besonders betroffenen und bedrohten Gruppen werden jährlich 4,6 Mio. Euro investiert.
Angesichts dieser Mittel-Verhältnisse, dieser Prioritäten, ist es defätistisch, wenn einem Fragen in den Sinn kommen? Die Verhinderung einer einzigen zusätzlichen HIV-Infektion durch direktes Testen von Blutprodukten ist dem Staat 10 Mio. € pro Jahr wert, die gesamte HIV-Prävention bei schwulen Männern nicht einmal einen nennenswerten Bruchteil davon?
Kein Menschenleben ist mit materiellen Werten zu bemessen. Aber was diesen Mitteleinsatz angeht, drängt sich geradezu die Frage auf: Sind schwule Menschen, sind DrogengebraucherInnen, sind Menschen aus Hochprävalenzländern in Deutschland weniger wert als Otto und Erika Mustermann? Und: Ist solch eine Politik ethisch?
Und, ja, ich weiss, Moral ist keine Kategorie der Politik. Aber – man wird ja nochmal fragen dürfen?
Vor allem aber, wenn gerade auch Politik sich nur allzu gerne lobt, wie großzügig sie doch Mittel für den Kampf gegen Aids auch bei der DAH bereit gestellt hat – gerade angesichts der oben geschilderten Verhältnisse hat Aidshilfe keinen Anlass, demütig in Ruhe und Schweigen zu versinken, brav danke zu sagen und den Mund zu halten. Im Gegenteil, eigentlich müsste sie selbstbewusst sagen: wir ersparen dir, Staat, dermaßen viele Neuinfektionen mit all ihren (nicht nur Kosten-) Folgen, und das für dermaßen wenig Geld – bei dem, was du in die Verhinderung einer Neuinfektion bei Blutprodukten investierst, müssten wir dir auch einiges mehr wert sein.
Der Pharmakonzern Johnson & Johnson hat in den USA ein kleines Unternehmen aufgekauft, die Firma HealthMedia. Man sehe auf dem Gebiet internet-basierter Gesundheitsprogramme einen kommenden Markt.
Johnson & Johnson (J&J) ist ein international aufgestellter Pharmakonzern, der u.a. innovative Medikamente, Diagnostika und medizinische Geräte verkauft.
HealthMedia ist ein kleines Unternehmen in Michigan (USA), das unter dem Slogan ‚Web Interventions‘ Internet-basierte Anwendungen im Gesundheitsbereich entwickelt und betreut. Mit seinen Programmen zu Raucher-Entwöhnung, Stressabbau oder Gewichtsreduzierung ist es bisher in den USA im Markt der Mitarbeiter-Betreuung aktiv. Aber auch mit Stichworten wie ‚Disease Management‘ oder ‚Medication Adherence‘ wird das Spektrum der Dienstleistungen skizziert – von Schlaflosigkeit bis Diabetes, von Ernährung bis chronische Erkrankungen.
Johnson & Johnson betonte, man sei bisher Kunde von HealthMedia gewesen und begeistert von den Ergebnissen, zu denen die Arbeit des Unternehmens bei den eigenen Mitarbeitern geführt habe. Man hoffe, das Angebot von HealthMedia nach der Übernahme breit ausweiten zu können.
Man sehe auf diesem Gebiet einen kommenden Wachstumsmarkt. Bisher seien Verbraucher an ihrer Gesundheit nicht interessiert, solange bis sie erkranken. Dies wolle und könne man ändern. Der Johnson&Johnson-Chef betonte in einem Interview, man erwarte von der Übernahme keine sofortigen hohen Renditen, es handele sich um eine Langzeit-Investition.
Ein riesiger Konzern übernimmt ein kleines Unternehmen. Weiter keine bedeutende Nachricht. Erst recht wohl keine, die zu HIV und Aids Bezug hat.
Oder potenziell doch? Was sich zunächst als unbedeutend anhört, könnte Anzeichen einer neuen Entwicklung im Pharma-Markt sein: Geschäfte nicht mehr ’nur‘ mit Krankheit, mit Medikamenten und Geräten dagegen und mit den bereits Kranken zu machen, sondern Geschäfte mit den Gesunden. Ein viel größerer Markt. Statt ’nur‘ der Kranken gleich die Gesunden zu ‚Kunden‘ der Pharmaindustrie machen. Guter Starter dabei: Geschäfte mit der Prävention.
Johnson & Johnson ist auch auf dem Aids-Markt engagiert. Die Tochter Tibotec (seit 2002 bei J&J) entwickelt u.a. antiretrovirale Medikamente die von der J&J-Tochter Janssen Pharmaceutica (seit 1961 bei J&J) bzw. Janssen-Cilag vermarktet werden. Die J&J-Tochter Virco entwickelt zudem HIV-Resistenztests und Algorithmen und Dienstleistungen zu deren Auswertung.
Liegt es da fern, mittelfristig auf den Gedanken zu kommen, auch auf dem Gebiet der Aids-Prävention als Pharmakonzern aktiv zu werden? Sicher, noch scheint eine ‚Killer-Applikation‘ dafür zu fehlen, die Umsätze, Renditen verspricht. Wer allerdings das EKAF-Statement ‚richtig‘ übersetzt, könnte schnell auf Ideen kommen … Pillen als Prävention … direkt von der Pharmaindustrie … mit – eben, dem richtigen Tochter-Unternehmen, das sich in internetbasierter Prävention auskennt.
Ob mit Medikamenten oder ohne, Bausteine eines Puzzles, sie scheinen zusammen zu passen. Und einmal mehr steht die Frage im Raum, ob gerade die Pharma-Industrie tatsächlich ein guter Partner für die Prävention ist.
Diskriminierung von HIV-Positiven ist das größte Hindernis im Kampf gegen Aids – weltweit, aber auch hierzulande. Ob Positiven Rechte vorenthalten werden, unterstützende Maßnahmen unterbleiben oder ‚einfach nur‘ ihr soziales Leben beeinträchtigt wird – Stigmatisierung von HIV-Positiven hat viele Gesichter, und weit reichende Folgen.
In Krankenhäusern und Arztpraxen werden ‚rote Punkte‘ auf die Krankenakten von Positiven geklebt. Zahnärzte verweigern Behandlungen, Personal in Kur-Kliniken macht Behandlungen an Positiven nur mit (gern doppelt oder, ‚zum besseren Schutz‘ dreifachen) Handschuhen.
Kinder fliegen aus ihrem Kindergarten, weil sie oder ihre Mutter, ihr Vater (vermeintlich) HIV-positiv sind. Arbeitskollegen meiden einen als ‚wahrscheinlich aidskrank‘ denunzierten Kollegen. Freunde meiden den früher begehrten Partygänger.
Und von der Stigmatisierung zur Diskriminierung HIV-Positiver ist es nicht weit. Gegen die bisher nur selten Klagen erfolgreich sind, wie jüngst ‚HIV-Positiver erstreitet Entschädigung wegen Diskriminierung‚.
Die Formen alltäglicher Diskriminierung und Stigmatisierung sind vielfältig. So vielfältig, dass die Franzosen ihnen schon (in Anlehnung an den Begriff ‚Homophobie‘) einen Namen gegeben haben: Serophobie.
Und selbst innerhalb schwuler Szenen, die eigentlich seit 25 Jahren vielfältigste Erfahrungen mit HIV und Aids sowie im Umgang mit Menschen mit HIV und Aids gemacht haben können, scheinen Stigmatisierung und Diskriminierung allgegenwärtig. „Bin gesund und erwarte das auch von dir“ – so oder ähnlich liest Mann häufig in Profilen auf schwulen Internet-Dating-Sites. Positive werden, sobald sie (wie es Präventionisten von ihnen erwarten) ihren HIV-Status offen legen, zwar als Gesprächs- nicht mehr aber als Sex-Partner gesehen (‚ja, wenn er das nicht gesagt hätte …‘). Oder man hört immer wieder jene einseitig Schuld zuweisende Formulierung ‚der ist doch selbst schuld, dass der sich infiziert hat‘.
Ausgrenzende und stigmatisierende Verhaltensweisen und Äußerungen gegenüber Menschen mit HIV sind besonders auch in Schwulenszenen häufig anzutreffen.
Einige Internetangebote zeigen Wege auf, mit der Stigmatisierung von HIV-Positiven umzugehen. Hier zwei Beispiele:
Avert.org erklärt kurz HIV- und Aids-bezogene Stigmatisierung (avert.org/aidsstigma) und versucht die Auswirkungen von Stigmatisierungen zu skizzieren (lesenswerte Literaturliste).
‚The People Living with HIV Stigma Index‚ (www.stigmaindex.org) versucht, Trends und Veränderungen in Bezug auf Stigma und Diskriminierung von HIV-Positiven abzubilden. Im Mittelpunkt stehen die Erfahrungen von Menschen mit HIV und Aids – HIV-Positive werden interviewt, sind aber auch die Interviewer, und bestimmen mit, wie Informationen gesammelt, ausgewertet und benutzt werden. Die Arbeit an dem Index wurde 2008 begonnen; erste Ergebnisse sollen Ende 2008 oder Anfang 2009 online auf www.stigmaindex.org verfügbar sein.
Stigmaindex wird gemeinsam entwickelt von GNP+ (Global Network of People Living with HIV) und ICW (International Community of Women Living with HIV), sowie der International Planned Parenthood Federation (IPPF) in Zusammenarbeit mit UNAIDS, unterstützt durch eine zweijähriger Förderung des britischen UK Department for International Development.
Explizit mit Stigmatisierung von HIV-Positiven innerhalb schwuler Szenen beschäftigt sich die Site HIV-Stigma. Sie widmet sich gezielt der Situation von HIV-Positiven in Ontario, besonders der schwulen Positiven unter ihnen.
Die Site bietet eine Vielzahl praktischer Beispiele, wie Stigmatisierung von schwulen HIV-Positiven geschieht – und zahlreiche Anregungen, wie mit Situationen anders umgegangen werden kann. Dazu zahlreiche personalisierte Beispiele, zusammen mit Blogs und Diskussionsforen. Dazu mit ‚explicit truth‘ ein kleines Online-Spiel, mit dem jeder selbst seine Haltung und sein Wissen zu zahlreichen Stigma- und Präventions-relevanten Fragen erfahren kann (je mehr korrekte Antworten, desto ‚enthüllender‘ …).
Gegen Stigmatisierung und Verstecken des HIV-Status vorzugehen, ist auch eine Frage an HIV-Positive heute. „Indeed many of us have assimilated our HIV into our everyday lives to such an extent, that HIV is more invisible today in the gay community with over 30,000 gay men living with HIV than it was a decade ago with less than 15,000 gay men diagnosed with HIV. And therein lies the problem“, betonte anlässlich des Londoner CSDs Paul Ward in ‚Positive Nation‘.
Und warum überhaupt gegen Stgmatisierung vorgehen? Kann man nicht einfach alles so lassen, wie es ist?
„HIV stigma sucks! It makes it harder for guys with HIV to disclose. It prevents some guys from getting tested. Odds are, if you enjoy casual sex with guys with HIV. And that’s okay. You just need to play safe.“ (hivstigma.com)
Stigatisierung: „Stigmatisierung bezeichnet einen Prozess, in dessen Verlauf innerhalb einer Gesellschaft bestimmte äußere Merkmale von Personen und Gruppen, zum Beispiel farbige Haut oder eine sichtbare Behinderung (behindert), mit negativen Bewertungen belegt und die Betroffenen, als „die Farbigen“, oder „die Körperbehinderten“ in eine Randgruppenposition gedrängt werden. Stigmatisierte Personen werden somit bei gesellschaftlichen Interaktionen primär über dieses negativ konnotierte Merkmal wahrgenommen … Ein stigmatisierter Mensch ist diesem Prozess meistens hilflos ausgeliefert und wird die ihm zugeschriebene negative Bewertung im Normalfall allmählich verinnerlichen. Dies hat zur Folge, dass der Betroffene sich selbst als defizitär erlebt und sich zum Beispiel bemüht, das negativ bewertete Merkmal geheimzuhalten.“ (Definition: Uni Hamburg, Institut für Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser)
Das Thema Stigmatisierung von Positiven findet in der Diskussion hierzulande bisher viel zu wenig Beachtung. Dass Menschen allein aufgrund einer Erkrankung diskriminiert, benachteiligt, ausgegrenzt werden, ist zwar gesellschaftlich keine neue Erfahrung – aber dies kann kein Grund sein, nicht dagegen vorzugehen. Und zwar nicht nur, weil Stigmatsierung von HIV-Positiven die Aids-Prävention erschwert. Sondern weil es darum geht, wie wir zusammen leben wollen, in dieser Gesellschaft, in unseren Szenen.
‚Serophobie‘ – die Idee, der Stigmatisierung und Diskriminierung von HIV-Positiven einen eingängigen Namen à la Homophobie zu geben, leuchtet sofort ein. Leider ist die Silbe ’sero-‚ hierzulande wenig bekannt, schon weil kaum jemand vom ‚Sero-Status‘ (dem eigenen HIV-Status) spricht.
Sollte ein Leser, eine Leserin Vorschläge für einen eingängigen deutschen Begriff haben? Hinweise, Ideen, Kommentare bitte!
Nebenbei, bei so manchem Internetangebot fragt sich der Betrachter – wenn das im Ausland geht, warum tun sich deutsche Bürokraten (und nicht nur die) so drmasßne schwer mit eindeutigen und éin wenig ’sexuelleren‘ Botschaften und Informationen?
Anlässlich des Starts der bundesweiten Präventionskampagne „ich weiss, was ich tu!“ am 13.10.2008 dokumentieren wir hier die Rede, in der Dr. Dirk Sander die Hintergründe der Kampagne erläuterte:
Dr. Dirk Sander 13. Oktober 2008 / 11.30
ICH WEISS WAS ICH TU – Start-Pressekonferenz
Vielen Dank Frau Prof. Dr. Pott und vielen Dank Winfried!
Ich möchte Ihnen jetzt kurz die Hintergründe unserer neuen Kampagne erläutern.
Die HIV-Prävention in der Bundesrepublik Deutschland – das wurde schon gesagt – ist auch im internationalen Vergleich als Erfolgsgeschichte zu bezeichnen.
Diese Aussage mag einige von Ihnen verwundern:
Beobachten wir doch seit Beginn dieses Jahrtausends einen Anstieg der HIV-Neudiagnosen, insbesondere in der Gruppe, die seit Beginn der Aids-Epidemie in den 80er Jahren am meisten von HIV und Aids betroffen war -und ist. Nämlich bei schwulen, bisexuellen und anderen Männern, die Sex mit Männern haben. Wir beobachten diesen Anstieg gleichfalls in einer Gruppe, die – so zeigen es soziologische Studien – in aller Regel auch bestens über Infektionswege und Schutzmöglichkeiten aufgeklärt zu sein scheint.
Über die Gründe für diesen Anstieg ist auch in den Medien in den letzten Jahren viel spekuliert worden: Es wird z.B. immer wieder eine „neue“ oder „wiederkehrende Sorglosigkeit“ im Schutzverhalten bei schwulen Männern behauptet. Skandalisierend wird von „Pozzern“ und „bug-chasern“ berichtet. Diese mag es geben, allerdings stellen sie dann ein absolutes Randphänomen im HIV-Infektionsgeschehen dar. Wenig wird sich übrigens bei der teilweise reißerischen Berichterstattung mit der Frage auseinandergesetzt, welche sozialen und psychischen Hintergründe ein solches selbst- und fremdschädigendes Verhalten haben könnte.
Auch geraten immer wieder HIV-positive unter Generalverdacht! Sie hätten deshalb mehr – wenn nicht die alleinige Verantwortung für die epidemiologische Entwicklung zu tragen. Diesen Anspruch lehnen wir allerdings aus guten ethischen aber auch medizinisch-therapeutischen Gründen ab. Darauf komme ich noch mal zurück.
Als Begründung für die unterstellte „zunehmende Sorglosigkeit“ wird behauptet, dass die Ursache für ein abnehmendes Schutzverhalten in den beeindruckenden medizinisch-technischen Entwicklungen in der Behandelbarkeit der HIV-Infektion zu sehen sei. Diese Fortschritte haben nämlich in den letzten zehn Jahren dazu beigetragen, dass eine HIV-Infektion – wenn sie rechtzeitig erkannt wird -, nicht mehr wie früher schnell zu AIDS und einem frühen Tod führt. Wir sprechen heute allgemein von HIV als einer chronischen behandelbaren Krankheit mit langen Überlebenszeiten, die allerdings durch viele negative körperliche, seelische sowie soziale Einschränkungen und Einschnitte gekennzeichnet sein kann.
Auch deshalb lohnt es sich weiterhin, sich vor HIV zu schützen!
Behauptet wird aber ohne empirische Belege, dass – kurz gesagt – die Angst abgenommen habe und deshalb das Schutzverhalten erodieren würde.
Aber der Schutz vor HIV ist kein Auslaufmodell!
Im Gegenteil! Die Schutzmotivationen sind auch nach 25 Jahren „Safer Sex“ – Botschaften bei 80 % unserer Zielgruppe ungebrochen hoch. Bei weiteren 10 % kommt es zu sporadischen Risikokontakten, – soweit jedenfalls die Zahlen in der aktuellen Erhebung von Michael Bochow und Axel Schmidt. Auch andere Studien stellen keine Abnahme der Schutzmotivationen fest.
Trotzdem haben wir einen Anstieg in den Neuinfektionen seit Beginn dieses Jahrtausends zu verzeichnen.
Wie hängt das zusammen, fragt man sich? Und hier komme ich nun zur Beantwortung der Frage, warum wir die Kampagne „ICH WEISS WAS ICH TU“ in dieser Form entwickelt haben.
Der Anstieg der HIV-Infektionen ist nämlich auf ein komplexes Bedingungsgeflecht zurückzuführen.
1. Erstens: Zum einen ist HIV durch andere sexuell-übertragbare Infektionen – wie z.B. die seit Beginn dieses Jahrtausends grassierende Syphilis – wieder leichter übertragbar. Liegt aber eine ulzerierende (geschwürige) Infektion wie z.B. die Syphilis vor, so ist es für HIV einfacher, anzudocken. Das gilt zum einen für den HIV-negativen Partner, der eine solche Syphilis-Infektion hat. Das gilt aber auch für gut therapierte schon HIVpositive Menschen: Hier erhöht eine zusätzliche andere sexuell-übertragbare-Infektion die Übertragungswahrscheinlichkeit. Denn, und das möchte ich an dieser Stelle auch festhalten: Eine erfolgreiche HIV-Therapie verringert auf individueller Ebene die Übertragungswahrscheinlichkeit von HIV immens.
Insgesamt müssen wir also stärker noch als bisher die Infektionswege und Behandlungsmöglichkeiten anderer sexuell-übertragbarer Infektionen in der Prävention aufgreifen.
2. Zweitens: Wir gehen von einer gar nicht geringen Anzahl von Menschen aus, die nicht wissen, oder nicht wissen wollen, wie ihr Immunstatus ist. Wir wollen die Leute aber zum Test ermuntern. Das ist uns auch zum Teil schon in den letzten Jahren gelungen: Schwule Männer lassen sich im Vergleich zu anderen Teilgruppen der Gesellschaft öfter testen. Auch das ist ein Grund für den Anstieg der Neudiagnosen. Wir wollen aber trotzdem niedrigschwellige regionale (Schnell-)Testangebote weiter ausbauen.
Denn aus medizinisch-therapeutischer Sicht lohnt es sich heute zu wissen, ob man HIVpositiv ist, oder nicht. Aber ein Test muss sich auch aus sozialer Sicht lohnen! Denn immer noch erfahren Menschen, die HIVpositiv sind, massive Stigmatisierungen, sie werden diskriminiert, ihnen wird Leichtfertigkeit unterstellt. Auch hier muss Prävention quasi aufklärerisch ansetzen.
3. Drittens: Deshalb verfolgt die neue Kampagne auch keinen rein primärpräventiven Ansatz. Wir werden gleichberechtigt HIV-negative und HIV-positive Personen als Rollenmodelle in die Kampagne einführen. Die HIV-positiven können z.B. in der Prävention die Aufgabe übernehmen, falsche Bilder vom Leben mit HIV aufzuweichen, falsche Risikostrategien entlarven, und die oben genannten falschen Bilder von HIV-Positiven selbst korrigieren helfen! Denn: HIV-Infektionen passieren viel „banaler“ als es in den Medien bisher dargestellt wird; z.B. nicht auf gewissen Partys sondern in Beziehungen, sie beruhen auf kommunikativen Missverständnissen, auf Infektionsmythen und Wunschdenken. Auf den Schutz verzichtet wird auch manchmal wenn man sich in biographisch krisenhaften Situationen befindet. All das wird in der Kampagne aufgegriffen werden.
4. Viertens: Die alten Safer-Sex-Botschaften (Beim Analverkehr Kondome, beim Blasen: Raus bevor´s kommt) sind gelernt. Sie verschwinden deshalb aber nicht, sondern sie müssen durch neue lebensweltbezogene Botschaften ergänzt werden. Es geht heute deshalb nicht mehr nur darum, den Leuten zu sagen, wann ein Kondom auf jeden Fall zum Einsatz kommen sollte (nämlich dann, wenn der Sex sporadisch ist, wenn man nichts über den gesundheitlichen Zustand des Partners weiß, also im Unsicherheitsfall); man muss unseres Erachtens heute auch darüber reden, wann das Kondom ohne Risiken mal weggelassen werden kann. Dazu gehört aber die Bereitschaft, sich intensiv mit seinen sexuellen Wünschen und dem eigenen sexuellen Handeln auseinander zu setzen und individuelle passgenaue Risikomanagementstrategien zu entwickeln. Das tun die Individuen zwar schon, aber nicht immer sind die Strategien wirklich sicher. Dieses Management erfordert Kommunikation und Kommunikationsbereitschaft. Hier will die Kampagne, deren Motto „ICH WEISS WAS ICH TU“ Sie jetzt schon besser verstehen, Informationen bereit stellen.
5. Fünftens: Die widersprüchlichen Bilder von Aids müssen aufgegriffen und korrigiert werden. Wie eine aktuelle Studie festhält, existieren zwei gegensätzliche Bilder von Aids in der Zielgruppe. Auf der einen Seite die Angst machenden Bilder des „Alten Aids“. Auf der anderen Seite die Bilder von und Kontakte zu Menschen, die HIVpositiv sind, offensichtlich aber relativ gut damit leben können. Diese widersprüchlichen Erfahrungswerte bzw. kognitiven Dissonanzen können zur selektiven Wahrnehmung von Informationen führen, und sind deshalb für die Prävention kontraproduktiv. Sie „forcieren“ – so schreibt der Autor der Studie – „sexuelles Risikoverhalten bei schwulen, bisexuellen und anderen Männern, die Sex mit Männern haben“ (Zitat Ende). Auch hier müssen wir in der Prävention ansetzen. Sie dürfen z.B. auf die Uraufführung unseres ersten Kampagnen-Films gespannt sein, den wir Ihnen gleich im Anschluss aber auch heute Abend vorstellen möchten. Er zeigt junge HIV-positive schwule Männer, die Licht- und Schattenseiten ihres Lebens.
6. Sechstens: Und damit möchte ich es bewenden lassen: Die alten Medien der Prävention müssen zunehmend durch neue Medien ergänzt und ersetzt werden. Die Kontakt- und Informationssuche hat sich nämlich insbesondere in unserer Zielgruppe in den letzten Jahren deutlich ins Internet verschoben. Ein Großteil der jungen Schwulen – so zeigt es eine angloamerikanische Studie – findet heute seinen ersten Sexpartner im Internet! Hierauf haben wir uns in der Deutschen Aids-Hilfe auch schon eingestellt: Unsere Online-Beratung, aber auch der „health-support“ auf dem beliebtesten deutschen schwulen Kontaktportal erfreut sich eines wachsenden Nachfrage-Zulaufs. Was bisher noch in der Bundesrepublik fehlte ist eine Internetkommunikationsplattform für die am meisten von HIV betroffene Zielgruppe. Dieses zentrale Kampagnenmodul werden wir ebenfalls heute starten. Die „ICH WEISS WAS ICH TU“- Internetplattform wollen wir in den nächsten Jahren zu dem zentralen Gesundheits-, Informations- und Diskussionsportal für die Zielgruppe ausbauen. Wir erreichen damit Personen, die wir durch die herkömmlichen Medien nur noch schlecht erreichen.
Lassen Sie mich, bevor Herr Kuske Ihnen noch einige Kampagnendetails zeigt und Sie Nachfragen stellen können, mit einem Fazit schließen:
Prävention, das ist wohl deutlich geworden, ist schwerer bzw. komplexer geworden. Wir wollen in unserer neuen zielgruppenorientierten Kampagne „ICH WEISS WAS ICH TU“ diese und andere neue Anforderungen aufgreifen. Wir erhoffen uns von Ihnen, dass sie diesen Weg redaktionell begleiten und unterstützen.
Vielen Dank erstmal, ich bitte Herrn Kuske, den Kampagnenmanager, ums Wort.
Am 13. Oktober wurde in Berlin die bundesweite Präventionskampagne „ich weiss, was ich tu!“ gestartet.
„ich weiss, was ich tu!“ ist die neue Kampagne der Aidshilfen für Schwule, Bisexuelle und andere Männer, die Sex mit Männern haben (MSM)
Dr. Dirk Sander, DAH-Abteilungsleiter Strukturelle Prävention MSM, erklärt zum Kampagnenstart: „Die HIV-Neudiagnoseraten steigen seit 2001 in der MSM-Zielgruppe in allen westlichen Industrienationen. Aktuelle Studien (z.B. Bochow et al., „Wie leben Schwule heute?“ Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, 8. Wiederholungsbefragung zum MSM-Schutzverhalten) stellen aber fest, dass der Wille, sich vor HIV zu schützen, in der Zielgruppe der MSM auch nach über 20 Jahren Präventionsarbeit ungebrochen hoch ist. Die Grundstandards des Safer Sex sind von der Zielgruppe gelernt. Sie erfordern allerdings heute eine Erweiterung, die auf authentische Weise die Lebenswirklichkeiten der Zielgruppe aufgreift.“
Sander betont zudem „wir binden HIV-Positive in die Prävention ein: Die HIV-Positiven können in der Prävention die Aufgabe übernehmen, falsche Bilder vom Leben mit HIV aufzuweichen, falsche Risikostrategien entlarven und falsche Bilder von HIV-Positiven selbst korrigieren helfen. Das ist auch deshalb wichtig, um einer Stigmatisierung von HIV-Positiven entgegen zu wirken.“
Für Irritationen sorgt ab und an noch das Motto der Kampgane: „ich weiss, was ich tu!„. In diesem Motto kommt der DAH zufolge das Ziel der Kampagne zum Ausdruck: Schwule, Bisexuelle und andere Männer die Sex mit Männern haben einzuladen und zu befähigen, selbstbewusst Entscheidungen für individuelle Präventions- und Gesundheits-Strategien zu treffen und durchzusetzen.
„ich weiss, was ich tu!“ umfasst damit auch Themen und Inhalte, die über den engeren Bereich HIV/Aids hinaus ragen – auch sexuell übertragbare Infektionen sowie allgemeinere Themen schwuler Gesundheit sollen angesprochen werden.
Die neue Kampagne geht auch durch die Presse- und Bloggerlandschaft. Schon fragt koww angesichts einer gewissen Fokussierung auf jüngere Menschen und der heutigen Premiere des Films ‚jung positiv inside‘ mahnend ‚und was ist mit den Alten?‚, während sich ‚Samstag ist ein guter Tag‚ angesichts der Verwendung des Begriffes MSM um die Auslöschung von Schwulen aus dem öffentliche Diskurs sorgt. Die FR berichtet vom ‚Start einer Präventionskampagne‘, und queer.de sagt „wir sind keine Missionare„.
ik weet wat ik doe‘, heißt das ganze bei pozandproud auf niederländisch.
webguerillas entwickeln Präventionskampagne‘
’nur für Männer‘, sagt die SZ
Paris: Aktivisten der Aids-Aktionsgruppe ACT UP haben eine Bareback-Party in der Stadt mit Aktionen verhindert.
„Aids-Komplizen“, „Nein zum Bareback-Business“ oder „Hier zählt das Leben eines Schwulen nichts“ – mit provokanten Parolen und Rufen hat ACT UP Paris mit 15 Aktivisten am Samstag, 4. Oktober 2008 in Paris eine Bareback-Party verhindert.
Der ‚Banque Club‘ ist ein beliebter Club im 8. Arrondissement von Paris, der sich auf seiner Internetseite selbst als „underground sex area“ bezeichnet. Für den Abend des 4. Oktober war der gesamte Club für eine Bareback-Party reserviert. Für die Teilnahme an der Party war eine Anmeldung über das Internet erforderlich, ein Eintritt von 18,50 Euro wurde vorab erhoben – erst dann wurde die Adresse der Party-Location mitgeteilt.
Veranstalter der geschlossenen Party war die Internetseite ’squatNOk‘, ein französischsprachiges Internetangebot für Barebacker. Dieses ist seit Oktober 2008 ein völlig privates Portal, das -außer dem Info-Bereich zu STDs, Testmöglichkeiten etc.- nur nach Einladung mit Zugangscodes genutzt werden kann (1). Zukünftig solle alle zwei Monate eine solche Party stattfinden, hatten die Veranstalter vorab angekündigt.
ACT UP Paris forderte „alle Schwulen Paris‘ auf, ein Etablissement zu boykottieren, das auf eure Gesundheit pfeifft“. ACT UP wies darauf hin, dass der Banque Club Mitglied der SNEG ist und die französische Präventionsvereinbarung (siehe ‚Umsatz und Kondome‚) unterzeichnet hat. Schon in früheren Aktionen hatte sich ACT UP Paris gegen den Club gewandt, mit dem wiederholtenVorwurf hier würden nicht einmal Mindestanforderungen wie die Bereitstellung von Kondomen und Gleitgel erfüllt. Mit riskantem Sex dürfe kein Geschäft gemacht werden.
ACT UP Paris rief zum Boykott des betreffenden Clubs auf und kündigte an, auch zukünftig gegen Etablissements vorgehen zu wollen, die Bareback-Sex ermöglichen.
‚Das könnte die letzte Bareback-Party in einem Sex-Club in Paris gewesen sein‘, befürchete schon das französische Homo-Magazin Tetu.
Anmerkungen:
(1) Auf der Site heißt es „A compter du 5 octobre 2008, le Squat NOK est devenu entièrement privé. Sans être coloc il est devenu impossible de voir la cour et pour demander une piaule il faut y avoir été invité par un autre coloc. Le coloc invitant devient responsable de ses invités.“
Aus den vorliegenden Berichten ist unklar, ob die Bareback-Party letztlich doch offen für jedermann war, oder (wie bei ähnlichen Anlässen in Deutschland inzwischen eher üblich) gezielt als Party nur für Menschen mit HIV deklariert.
Die Pariser ACT UP – Gruppe ist für ihre Radikalität und insbesondere für ihre von manchen als ’stalinistisch‘ empfundene Haltung in Sachen ‚Bareback‘ bekannt.
In diesem Fall scheint das Engagement der Gruppe grenzwertig. Nicht nur, dass (wieder einmal) undifferenziert bareback und unsafer Sex gleichgesetzt werden. ACT UP scheint in Frankreich manchmal nicht in der Lage zu sein zu unterscheiden zwischen aktivem Einsatz für Prävention und Gesundheitsförderung und dem berechtigten Anliegen mancher Menschen, ohne Kondom Sex mit einander zu haben (der auch dann unter manchen Umständen safer oder auch nicht-infektiös sein kann).
Die Frage bleibt, ob solche provokanten Aktionen auf berechtigte Anliegen aufmerksam machen und auf Probleme hinweisen – oder ob sie in eine Polarisierung und Eskalation neuer Verbote (und Abdrängen in noch schwerer erreichbare Räume) führen.
So wenig ein in unseren Sexleben schnüffelnder und herumregelnder Staat erstrebenswert ist, genauso wenig scheint ACT UP als selbsternannte aktivistische Gesundheitspolizei ohne jegliche Legitimation eine angenehme Alternative zu sein.
Fast mag man sich angesichts Pariser Verhältnisse freuen, dass Forderungen à la ‚Bareback-Parties verbieten‚ hierzulande bisher ’nur‘ von den Schwusos kommen.
An Orten, an denen schwuler Sex stattfindet, sollte die Bereitstellung des erforderlichen ‚Zubehörs‘ (sprich Kondome, Gleitgel, Handschuhe etc.) selbstverständlicher Kundendienst sein. Orte, die ihren Kunden diesen Service nicht bieten – könnten einfach zugunsten besserer Alternativen gemieden werden.
Letztlich ändert jedoch auch die best-funktionierende Präventionsvereinbarung nichts daran, dass jeder -erst recht jeder, der einen Ort schwulen Sex‘ besucht- selbst dafür verantwortlich ist, seine Schutz-Möglichkeiten, also z.B. Kondome, bei sich zu haben. Andererseits sollten sich jene Wirte so manchen schwulen Etablissements auch hierzulande, die sich immer noch weigern, in ihren Unternehmen Kondome auszugeben, fragen, ob sie hier nicht nur ihren Communities und Kunden, sondern nicht letztlich auch sich selbst einen Bärendienst erweisen.
‚Zur Zukunft der zielgruppenspezifischen HIV-Prävention bei schwulen Männern“ hat sich namens der Bundesregierung Staatssekretär Dr. Klaus Theo Schröder geäußert. Anlass war eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Barbara Höll, Klaus Ernst, Karin Binder, Katja Kipping, Monika Knoche, Elke Reinke, Frank Spieth, Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion ‚Die Linke‘ vom 22.09.2008 (Bundestagsdrucksache 16/10304, als pdf hier).
In ihrer Antwort formuliert die Bundesregierung ihre Unterstützung für die neue bundesweite Präventionskampagne der DAH „ich weiss, was ich tu!„:
„Die Bundesregierung befürwortet die Ausarbeitung und Durchführung der zielgruppenspezifischen Kampagne für die Zielgruppe der MSM durch die DAH.„
Wichtiger (auch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen darüber, wie szene-nahe Kampagnen zu gestalten sind) ist die Antwort auf die Frage „Wie beurteilt die Bundesregierung den Gebrauch von szenetypischen Gegriffen für den sexuellen Kontakt in der Gruppe der MSM im Rahmen einer Präventionskampagne?„. Dr. Schröder antwortet:
„Die Bundesregierung hält die zielgruppenspezifische Ansprache und den Gebrauch von zielgruppenspezifischen Begriffen in der HIV-Prävention weiterhin für richtig und notwendig.“
Auf die Frage, „welche HIV-Präventionsmöglichkeiten gibt es neben dem Kondom und wie könnten diese im Sinne der HIV-Prävention vermittelt werden?“ bemerkt die Bundesregierung u.a.:
„Das Kondom gilt weltweit und auch in der HIV-Prävention in Deutschland als wirksamster Schutz vor der HIV-Infektion. Darüber hinaus gelten die Safer Sex-Regeln …“
… um in Sachen des EKAF-Statements und seiner Beurteilung durch die Bundesregierung zu ergänzen
„Die Stellungnahme der … EKAF und insbesondere ihre Gültigkeit für homosexuelle Sexualkontakte wird weltweit wissenschaftlich sehr kontrovers diskutiert.
Nach Auffassung der Bundesregierung hat das Statement deshalb zum jetzigen Zeitpunkt keine Auswirkungen auf die HIV-Prävention, insbesondere auch nicht für homosexuelle Männer. …“
Immerhin, die Bundesregierung sieht Forschungsbedarf:
„Untersuchungen sind daher erforderlich zu den Unterschieden zwischen dem Transmissionsrisiko über vaginale Schleimhaut und dem über rektale Schleimhaut unter einer effektiven antiretroviralen Therapie.„
… hüllt sich aber hinsichtlich ihrer Ambitionen diese Forschungen auch zu fördern ein wenig im Nebel. Sie verweist auf ein Düsseldorfer Forschungsprojekt zum sexuellen Risikoverhalten sowie RKI-Studien zur Rolle anderer sexuell übertragbarer Infektionen bei HIV. Keine Aussagen zu Forschungen hinsichtlich des EKAF-Statements, stattdessen belanglose Allgemeinplätze:
„Sollten Forscherinnen und Forscher darüber hinaus erfolgversprechende Anträge für Forschungsvorhaben einreichen, wird die Bundesregierung die Möglichkeit einer finanziellen Unterstützung sorgfältig prüfen.„
Das EKAF-Statement hat keine Bedeutung für die HIV-Prävention, wohl aber die Positiven, meint die Bundesregierung:
„… HIV-Positive können mit ihrem Verhalten zur Nichtübertragung des Virus entscheidend beitragen. Hierfür wird auch ein Klima benötigt, das es HIV-Positiven ermöglicht, offen über ihre Infektion zu sprechen. Dies ist … bis heute nicht ausreichend gewährleistet.„
Wie sie dieses bisher ihrer eigenen Ansicht nach nicht ausreichend gewährleistete Klima zu schaffen oder befördern gedenkt (über die iwwit-Kampagne hinaus), dazu äußert sich die Bundesregierung nicht.
Immerhin, der Bundesregierung scheint bekannt, dass es nicht „die homosexuelle Lebensweise“ gibt: Auf die Frage „Wie haben sich nach Ansicht der Bundesregierung die Lebensweisen schwuler Männer verändert?“ antwortet Staatssekretät Dr. Klaus Theo Schröder namens der Bundesregierung
„Die Lebensweisen homosexueller Männer haben sich in den vergangenen Jahren nicht wesentlich geändert. Es handelt sich zudem um eine sehr heterogene Gruppe, die unterschiedliche Lebensweisen führt …“
Barbara Höll, eine der Initiatorinnen der Kleinen Anfrage, kommentierte in einer Stellungnahme „Erfreut nehme ich die Antwort der Bundesregierung auf meine Kleine Anfrage zur Kenntnis, dass die Bundesregierung das Konzept der strukturellen Prävention (hier: Emanzipation und Akzeptanz schwuler Männer als Voraussetzung für eine erfolgreiche HIV-Prävention) unterstützt und befürwortet. Aber dies steht im Widerspruch zu ihrer eigenen Politik. Die völlige rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen wäre umgehend umzusetzen, insbesondere durch das Gleichstellen der Lebenspartnerschaft mit der Ehe. Nur dann wären Schwule, wie auch Lesben, auch rechtlich gleichgestellt und ihre Lebensweisen stärker akzeptiert. Wer die HIV-Prävention bei schwulen Männern stärken will, muss die Akzeptanz schwuler Lebensweisen fördern. Nur ein selbstbewusst schwuler Mann, der gesellschaftlich akzeptiert wird, kann auch erfolgreich HIV-Prävention umsetzen.“
Die vollständige Antwort der Bundesregierung steht hier auf ondamaris als pdf zur Verfügung.
Kurz nach Vorlage ihres Berichts (pdf hier) über den ‚Stand der rechtlichen Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften‘ (den TheGayDissenter liebevoll ‚Homophobiebericht‘ betitelt) äußert sich die Bundesregierung auch zur Zukunft der HIV-Prävention bei schwulen Männern.
Zunächst ist es zu begrüßen, dass die Bundesregierung -nachdem sie in der Vergangenheit selbst für einige Stolpersteine gesorgt hatte-die erste bundesweite HIV-Präventionskampagne der DAH für schwule Männer („ich wiess, was ich tu!“) unterstützt, und dass sie auch zilegruppengerechte Sprache begrüßt.
Erstaunlich, wenn auch nach dem Verhalten in den letzten Monaten zu erwarten, ist dass die Bundesregierung im Statement der EKAF keinerlei Auswirkungen auf die HIV-Prävention sieht. Man könnte den Eindruck bekommen, die Lebensrealitäten schwuler Männer sind hier teilweise weiter als die Einsichtsfähigkeit der Bundesregierung.
Zu begrüßen ist, dass der Bundesregierung bekannt ist, dass das gesellschaftliche Klima für HIV-Positive bisher alles andere als diskriminierungsarm ist. Auch wenn die Bundesregierung dies leider ausschließlich unter dem Präventions-Aspekt sieht, die Lebensrealitäten von Positiven in der Allgemeinbevölkerung wie auch in den eigenen Szenen ist häufig von Verstecken, Stigmatisierung und Diskriminierung beeinträchtigt (wie gerade wieder das gestern bekannt gewordene Urteil des Berliner Landesarbeitsgerichts zeigt(siehe ‚HIV-Positiver erstreitet Entschädigung wegen Diskriminierung‘)).
Wenn der Bundesregierung diese Tatsache (des ’nicht ausreichend‘ diskriminierungsarmen gesellschaftlichen Klimas) bekannt ist, ist es allerdings umso erstaunlicher, dass nach dieser Feststellung keinerlei über iwwit hinausreichende Ansätze erkennbar sind, wie denn die Situation von Menschen mit HIV zum Besseren verändert werden könnte. Möglichkeiten hierzu hätte die Bundesregierung vermutlich genug …
Samstag 13. September 2008, ein recht kleiner Kreis von Menschen diskutiert während der Konferenz ‚HIV im Dialog‘ über die Versorgungssituation HIV-Positiver auf dem Land.
Völlig zusammenhanglos (diskutiert wird gerade die ärztliche Versorgung auf dem Land) ist plötzlich vom Podium, von einem der Referenten der Satz zu hören:
„In Hannover ist es übrigens gerade in Mode, nach Berlin zu fahren um sich infizieren zu lassen.“
Etwaiger lauter Protest ist aus dem Publikum oder vom Podium nicht zu vernehmen.
(Pastor Ernst-Friedrich Heider, / Aids-Pastor, HIV/AIDS-Seelsorger in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers und Regionalkoordinator Nord des Aktionsbündnisses gegen Aids)
Leider taucht derartiger Unsinn immer wieder in Debatten, Foren, Stammtisch-Runden auf.
Spannend ist ja zunächst, was der Erzähler dieser Märchen damit sagen will.
Sind die Züge von Hannover nach Berlin voll mit jungen attraktiven Menschen, zutiefst bereit sich in Berlin hemmungslos in die Sünde zu begeben, wissentlich darin sich größtes Leid zu holen? Ist in Hannover so wenig los? Kann man sich gar in Hannover überhaupt nicht mit HIV infizieren und muss dazu reisen?
Oder sind Hannoveraner dazu nur zu unwissend?
Oder die Aids-Hilfe vor Ort besonders unfähig oder untätig?
Oder meint der Erzähler, gerade Berlin sei das große Sünden-Babel Deutschlands? Erst recht für unschuldige Hannoveraner?
Wahr ist vermutlich nichts davon, nicht einmal letzteres.
Indirekt aber wird damit vielleicht ganz anderes gesagt, ob absichtlich oder nicht. Seht her, die Schwulen sind so blöde, so dermaßen verantwortungslos, wenn nicht gar menschenverachtend, die wollen sich sogar schon absichtlich infizieren. Oder: soweit haben wir es schon kommen lassen, dass die Schwulen gar keine Angst mehr vor Aids haben (sondern es toll finden, infiziert zu sein).
Derartige Mythenvon verantwortungslosen Schwulen, ebenso wie der Mythos von verantwortungslosen Positiven immer wieder gerne kolportiert, sind im Kern zutiefst schwulen- und positiven-feindlich. Sie befördern unterschwellig Diskriminierung und Stigmatisierung – und schaffen ein Klima, das populistische Parolen begünstigt.
Information, Prävention hingegen enthalten derartige Mythen nicht.
Warum werden solche Märchen immer noch laut kolportiert, und das gerade auch auf einem Aids-Kongress? Und niemand widerspricht?
Dass dieses Märchen im aktuellen Fall gerade von einem Kirchen-Vertreter kolportiert wird (auf dessen Internetauftritt zudem steht die Aids-Seelsorge sehe „sich herausgefordert im Kampf gegen Vorurteile und Stigmatisierungen„), hat dazu noch einen besonders faden Beigeschmack. Auch wenn Pastor Heider sich oftmals differenziert äußert und für zahlreiche Projekte (wie z.B. heroingestützte Therapie) einsetzt (und sicher nicht mit ‚Gloria‘ zu vergleichen ist) – ein derartiger Lapsus ist m.E. nicht nur peinlich, sondern unentschuldbar.