‚Böse Bilder‘ oder: Wie Stuttgart den Mut verlor

Zum Thema „Bilderstreit – über Stigma, ein abgehängtes Bild und Toleranz“ im Folgenden ein Artikel des neuen ondamaris-Mit-Autors Matthias Hinz:

Ländliche Polit-Posse oder klein(geistig)e Kunst-Zensur?– irgendwie ist es von beidem etwas, was sich neulich in der Schwaben-Metropole Stuttgart zugetragen hat.

Die Stadt Stuttgart hat die „größte Selbsthilfekonferenz Europas“ (Programmheft) zu sich ins Rathaus eingeladen, die von der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) veranstalteten „Positiven Begegnungen 2009“. Und da es offenbar noch immer keine Selbstverständlichkeit ist, „so eine“ Veranstaltung in der guten Stube der Stadt willkommen zu heißen, sei es auch hier lobend bemerkt.
Man ist freundlich und offen zu den über 400 (meist HIV-positiven) Gästen, der Oberbürgermeister übernimmt die Schirmherrschaft, und zur Eröffnung gibt es warme Worte der Bürgermeisterin Müller-Trimbusch.
Das Schwerpunkt-Thema der Konferenz ist „Stigmatisierung und Diskriminierung“, und so erklärt denn die Bürgermeisterin auch:
„Die Entstigmatisierung von Menschen mit HIV und AIDS ist eine der großen Aufgaben der nächsten Jahre. (…) Die Stadt Stuttgart unterstützt dieses Anliegen (…) Dass die Konferenz hier im Rathaus stattfindet, unterstreicht die besondere Bedeutung, die wir dem Thema beimessen.“

Alles sehr gut, sehr schön und wunderbar! – wäre da nicht diese peinliche Posse am Rande; am Rande zwar, aber doch mitten im Thema der Konferenz:
Noch vor Beginn der Veranstaltung, während draußen auf dem Platz die Fahnen der Aidshilfe gehisst werden, kommt es drinnen im Rathaus zum Eklat.
Im Foyer wird die Konferenz-Ausstellung „Bilder eines Stigmas“ von den Amtsträgern begutachtet und stößt auf Mißfallen.

(„Das Stigma ruft Ablehnung, Beklemmung oder Unbehagen bei Dritten hervor.“ Programmheft)

Bürgermeisterin Müller-Trimbusch verlangt vom Veranstalter DAH, daß etliche Fotos abgehängt werden müssen, so etwas ginge in einem schwäbischen Rathaus nicht.
Mit „so etwas“ sind Bilder von Frauen gemeint, die den Mut haben, sich und ihr Stigmatisiertsein zu zeigen, zu inszenieren, und damit offensiv und selbstbewußt ihre Würde und ihre Schönheit dem Stigma entgegen zu stellen.
Wunderbare Bilder einer begabten Photografin. Und, ja: diese Frauen sind teilweise unbekleidet!

(„In aller Regel versuchen Menschen, die von Stigmatisierung betroffen sind, sich ‚unsichtbar zu machen’. D.h. sie verbergen die sie stigmatisierenden Merkmale.“ Programmheft)

Nur kurz unterbrochen vom oben zitierten Auftritt der Bürgermeisterin bei der Eröffnungsveranstaltung, geht hinter den Kulissen der Tagung das Ringen zwischen Rathaus und Aidshilfe weiter. Die Frage ist: wieviel Entstigmatisierung verträgt die Gastfreundschaft des Rathauses? Das Ergebnis: die Bilder „dürfen“ doch gezeigt werden, alle, bis auf eines!
Dazu wird der anfänglich vorgeschobene Vorwurf des Sexismus nun von der Bürgermeisterin fallengelassen, und ersetzt durch den Hinweis, die religiösen Gefühle von Minderheiten schützen zu wollen.

(„Der Vorgang der Stigmatisierung verläuft häufig auf der Ebene von Vorurteilen und Klischees.“ Programmheft)

Und also geht das peinliche Theater des Rathauses weiter: der Hinweis „Zensiert“, welchen die Aidshilfe an die Leerstelle gehängt hat, die das zensierte Bild in der Ausstellung hinterlassen hat, wird von diensttuenden Geistern immer wieder entfernt. Man fürchtet um den guten Ruf der Stadt, der dadurch aber nur noch mehr Blessuren bekommt.
Der Ton verschärft sich, und schließlich steht die Drohung des Rathauses im Raum, die gesamte Ausstellung zwangsweise abzubauen, schlimmstenfalls auch die Konferenz einfach zu beenden.

(„Stigmatisierung und Diskriminierung gehen in der Regel Hand in Hand.“ Programmheft)

An diesem Punkt kommen einige Konferenzteilnehmer der DAH ungebeten und auf eigene Faust zu Hilfe und informieren durch kleine Aushänge überall im Rathaus über den Vorfall.

(„Engagierte Selbsthilfegruppen und funktionierende Netzwerke sind unverzichtbar.“ Programmheft, Grußwort der Landessozialministerin Stolz)

Es kommen Gespräche unter den Teilnehmenden über die Ausstellung und das Verhalten des Rathauses in Gang ( – gottseidank aber ohne die eigentliche Arbeit zu übertönen, schließlich ist es nur ein Randgeschehen). Unverständnis und eine gewisse Empörung machen sich Luft.

(„Damit machen sie vielen Menschen Mut und helfen mit, dass sachgerechte und auf Erfahrung basierende Entscheidungen getroffen werden können.“ Programmheft, Grußwort der Landessozialministerin Stolz)

In der folgenden Plenarsitzung erläutert nun der DAH-Vorstand (der die Sache bisher aus Rücksicht auf die Gastfreundschaft hinter den Kulissen ausgefochten hat) den 400 Teilnehmenden die Vorgänge.
Das inkriminierte Foto, das ohne das ganze Theater dezent unter zwanzig anderen in der Ausstellung gehangen hätte, strahlt jetzt als 12 Quadratmeter-Diashow im Großen Sitzungssaal und wird vom Publikum mit ausgiebigem Beifall bedacht.

(„ Sich dem Fremd- und Selbststigma zu stellen, erfordert Mut und eine gewisse Kraft zur Auseinandersetzung. Am Ende des Prozesses kann jedoch eine neu gewonnene (innere) Freiheit stehen, die mehr Unabhängigkeit, Selbstzufriedenheit und Identitätsstärkung beinhaltet.“ Programmheft)

Kann man nun aus dieser Posse etwas lernen?
Zumindest hat sich einmal mehr gezeigt, daß sich Zensur nicht lohnt, daß sie im besten Fall sogar – wie hier – den Zensor bloßstellt.
Und für die Aidshilfe war es gewiss gut, wieder einmal zu erleben, daß sie sich gegen Versuche, ihre Arbeit aus sachfremden (meist parteipolitischen) Gründen zu behindern, erfolgreich wehren kann – mit Unterstützung ihrer „Zielgruppen“.
Insofern gehört auch dieser kleine „Bilderkampf“ zu den fruchtbaren Erlebnissen, die die Schwabenmetropole möglich gemacht hat.
Ob aber im Stuttgarter Rathaus auch etwas gelernt wurde, ist zu bezweifeln…

Heile Homo-Welt Nollendorfplatz? – ‚reclaim the Kiez‘

Ein 23jähriger junger Mann ist vor einer schwulen Bar in Berlin-Schöneberg zusammengeschlagen worden. Schwer verletzt, musste er u.a. wegen Schädelfraktur und massiver Gesichtsverletzungen notoperiert werden. Das Antigewaltprojekt Maneo geht von einem gezielt antischwulen Angriff aus; bei den Tätern soll es sich um Männer osteuropäischer Herkunft gehandelt haben.

Berlins Schwulen- und Lesbenszene reagiert bestürzt. Erst kürzlich war erneut das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen beschädigt worden. Nun eine weitere Eskalation homophober Gewalt? Eine ganze ‚Welle‘, wie der LSVD formuliert?
Stammtisch-Debatten auf schwulen Internetseiten faseln bereits von ‚mehr Polizei‘, ‚akuter Sicherheitsplan‘, ‚hart durchgreifen‘, ‚Elektroschockern‘, versteigen sich in Demagogie, rechtspopulistischen Parolen und Phantastereien.

Gewalt ist auch im Nollendorf-Kiez keine neue Erscheinung. Es hat sich atmosphärisch etwas verändert – ‚Heile Homo-Welt Nollendorf‘ – vielleicht bei Tage, vielleicht bei den schwul-lesbischen Hochämtern wie Ostertreffen, CSD, Straßenfest.
Aber längst schon nicht immer. Bereits seit längerem hört man von abendlichen Kneipenbesuchern Klagen über Belästigungen, Rüpeleien, verbale Gewalt auf der Motzstrasse und im umliegenden Kiez. Und so bestürzend es ist, es ist auch nicht das erste Mal, dass im Nollendorf-Kiez jemand angegriffen, verletzt, krankenhausreif zusammengeschlagen wird.

Heile Homo-Welt Nollendorfplatz – ein ‚krimineller Brennpunkt‘?
Ist ein ‚reclaim the Kiez‘ Motto der Stunde?

Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die ‚Flucht‘ des ‚Café PositHiv‘ aus der Alvenslebener Straße vor einigen Jahren. Auch hier waren Gewaltattacken aus der Nachbarschaft einer der Hintergründe (es gab auch andere, Zivilcourage könnte einer gewesen sein). Gewaltattacken bei denen mir letztlich unklar blieb, ob sie serophob (gegen HIV-Positive) oder homophob (gegen Schwule) waren. Oder gar ’nur‘ allgemein xenophob? Im Sinne von ‚wir leben hier, wir verteidigen unser Viertel gegen ‚das Fremde‘, und das seid in diesem Fall ‚ihr‘?

Klaus Wowereit könnte mit seinem (über Homophobie hinausreichenden) Hinweis, Offenheit und Toleranz zu verteidigen, so verkehrt nicht liegen.

Und – ‚verteidigen‘ hat mehr Seiten als ’nur‘ nach mehr Rechtsstaat und mehr Polizeipräsenz zu rufen. Jeder kann sich fragen – was tun wir, was tue ich, was tust du, um Offenheit und Toleranz zu verteidigen? Um Stimmungsmache, neue Feindbilder, Eskalation zu verhindern? Um Toleranz und Zivilcourage selbst zu leben?

über Schuld und Hetze

Das Vierbuchstabenblatt kloppt das alte Märchen … und ich kann gar nicht so viel fressen wie ich … möchte …

Heute Am 1. Dezember 2008 steht auf Bild.de zum Thema ‚Die wichtigsten Fragen und Antworten zu HIV und Aids‘ u.a. die Frage

„Gibt es Risikogruppen?“

stundenlang die ‚prägnante‘ Antwort

„Homosexuelle Männer und Drogenabhängige sind besonders gefährdet, aber leider auch Unschuldige: Unter den 63.500 Infizierten sind auch etwa 400 Kinder, die HIV über ihre Mutter bekommen haben.“

Das ist mindestens in zweifacher Hinsicht eine Unverschämtheit – wegen des Wortes „Unschuldige„, des Märchens (Mythos) von schuldigen und unschuldigen HIV-Infizierten (immerhin, früher haben manche auch noch ‚Opfer‘ geschrieben), und wegen dieses kleinen vergifteten „leider„, bei dem man sich dann denken kann, welche emotionale Beschreibung statt des ‚leider‘ auf die Gruppen vor dem Komma gedacht ist …

Müsste ich nicht gerade k…, würd ich jetzt an den Presserat schreiben …

Dokumentiert hat’s BildBlog – nebst der späteren „Bild ist ja doch so politisch korrekt“ – Änderung

HIV-Neudiagnosen – niedrig auch in Zukunft?

Die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Deutschland stagniert, HIV-Prävention ist erfolgreich. Doch – werden die Zahlen der HIV-Neudiagnosen in den kommenden Jahren so niedrig bleiben? Und wenn nicht, wäre dies ein Versagen der Prävention?

Zum Welt-Aids-Tag werden traditionell die Zahlen der HIV-Neu-Diagnosen und HIV-Neu-Infektionen präsentiert und breit diskutiert. ‚Stabilisierung der Zahl der HIV-Infektionen‚ konnte das Robert-Koch-Institut für Deutschland erfreulicherweise vor kurzem vermelden.
Und der Erfolg der HIV-Prävention in Deutschland wird gelobt. Erst jüngst zeigte sich Bundeskanzlerin Merkel auf dem Welt-Aids-Tags – Empfang 2008 der Deutschen Aids-Hilfe „stolz, … dass wir wirklich zu den vorbildlichen Ländern auf der Welt gehören“ (Rede Text, Video).

Ein Erfolg, der sich sehen lassen kann, in mehrfacher Hinsicht: im internationalen Vergleich sind die Zahlen der HIV-Infektionen in Deutschland sehr niedrig. Und aus zahlreichen Nachbarstaaten werden aktuell (bei stagnierenden Zahlen in Deutschland) deutlich steigende Zahlen an HIV-Neudiagnosen gemeldet.

Die deutsche HIV-Prävention kann also zu Recht ein wenig stolz sein auf errungenen Erfolge.
Über diese Erfolge und die Freude darüber sollte jedoch nicht vergessen werden, dass vermutlich in den kommenden Jahren mit steigenden Zahlen bei den HIV-Neudiagnosen zu rechnen sein dürfte.

Steigende Zahlen? Ja – und aus einfachem Grund. Und steigende Zahlen vor allem in der Gruppe der so genannten MSM (Männer die Sex mit Männern haben).

Gerade in den Gruppen schwuler Männer nimmt die Bereitschaft derzeit deutlich zu, einen HIV-Test zu machen. Und nicht nur das, mit gezielten HIV-Test-Kampagnen wenden sich in zahlreichen Städten Deutschlands Aids-Hilfen, aber auch Schwulengruppen sowie Lesben- und Schwulenzentren gezielt an die Gruppe schwuler Männer. Die Bereitschaft zum HIV-Test wird dadurch weiter erhöht, und der Zugang zum Test durch koordinierten Beratungs- und Test-Angebote weiter erleichtert. Eine für Herbst 2009 geplante bundesweite HIV-Test-Kampagne im Rahmen der Kampagne ‚ich weiss, was ich tu‘ wird die Zahl der HIV-Tests noch weiter erhöhen.

So banal es klingen mag – wo viel getestet wird, werden auch mehr (bisher unbekannte) HIV-Infektionen festgestellt. Je mehr Menschen, und gerade: je mehr Menschen aus den in besonderem Umfang von HIV betroffenen Gruppen einen HIV-Test machen, desto höher wird zukünftig die Zahl der HIV-Neudiagnosen ausfallen.

Also – seien wir heute schon ehrlich: die erfreuliche Entwicklung, dass die Zahl der HIV-Neudiagnosen sich 2008 stabilisiert hat, wird sich so in den kommenden Jahren, besonders schon 2009 vermutlich nicht aufrecht erhalten lassen. Die Zahl der HIV-Neudiagnosen dürfte 2009 und 2010 steigen.

Warum ich diese banale Erkenntnis so betone?
Weil Medien, aber auch Politiker und mancher Aktivisten gerne dazu tendieren, jeglichen Anstieg der HIV-Zahlen voreilig als Versagen der Prävention zu brandmarken, ihn für andere Zwecke instrumentalisieren. HIV und Aids werden gern als Mittel benutzt, um andere Zwecke zu erreichen – gerade ein eventuell deutlicher Anstieg der HIV-Neudiagnosen bei schwulen Männern könnte da leicht so manchen Politiker oder Kirchen-Funktionäre, fundamentalistischen Eiferer oder auch nur nachlässigen Redakteur zu voreiligen, verkehrten, im schlimmeren Fall gefährlichen Schlüssen verleiten.

Sollten die Zahlen der HIV-Neudiagnosen 2009 durch vermehrte Tests steigen – so wäre dies aber ganz im Gegenteil letztlich ein Erfolg der Prävention!
Ein Erfolg für diejenigen HIV-positiven Menschen, denen nun eine adäquate Behandlung und Therapie ihrer Infektion rechtzeitig zur Verfügung steht. Ein Erfolg erst recht für diejenigen Menschen, bei denen ansonsten womöglich erst sehr spät im Infektionsverlauf HIV diagnostiziert worden wäre, zu einem Zeitpunkt, an dem ihre Gesundheit schon unnötig stark geschädigt wäre, sie womöglich bereits schwer erkranken (late diagnosis). Und letztlich wäre es auch ein Hinweis auf einen Erfolg der Test-Kampagnen, der HIV-Prävention.

Also: gerade wenn wir uns über die stagnierenden Zahlen der HIV-Infektionen 2008 freuen, gerade wenn wir Erfolge der HIV-Prävention in Deutschland berechtigt feiern – seien wir ehrlich, sagen wir auch: ja, in den kommenden Jahren könnten die Zahlen der gemessenen HIV-Neudiagnosen möglicherweise steigen.

wie viel ist die Verhinderung einer HIV-Infektion wert?

Für die HIV-Prävention wird staatlicherseits viel Geld zur Verfügung gestellt. Stimmt dies tatsächlich? Welche Prioritäten gelten bei der Bereitstellung von Geldern zur Verhinderung von HIV-Infektionen? Nachdenklichkeiten …

Bundesregierung und Politiker betonen gerne (und berechtigterweise), die Aids-Politik in Deutschland sei angesichts von Neu-Diagnosezahlen, die sich im internationalen Vergleich auf sehr niedrigem Niveau bewegen, sehr erfolgreich. Und sie loben sich -wie erst jüngst beim Kampagnenstart ‚ich weiss, was ich tu‘ oder demnächst beim Welt-Aids-Tags-Empfang der Deutschen Aids-Hilfe- selbst, ausreichend hohe Mittel für den Kampf gegen Aids in Deutschland bereit zu stellen.

Die Deutsche Aids-Hilfe hat 2007 von der Bundesregierung / Bundesgesundheitsministerium (via Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) Mittel in Höhe von insgesamt knapp 4,6 Mio. € erhalten. Mittel, die sie gemäß Zweckbestimmung für HIV- und Aids-Prävention bei den von HIV vorrangig betroffenen Gruppen (Männer, die Sex mit Männern haben, DrogengebraucherInnen, Menschen aus Weltregionen mit weiter HIV-Verbreitung) einsetzt. Mittel, die unstrittig eine sehr hohe Zahl an zusätzlichen HIV-Neuinfektionen pro Jahr verhindern.

4,6 Mio. € sind ein Beitrag in nennenswerter Höhe, ein lobenswertes Engagement der Bundesregierung.

Aber auch angesichts dieses Einsatzes öffentlicher Mittel gilt es das Maß zu wahren.
Maß?
Welches Maß?
Nun, zum Beispiel könnte als Maß dienen, welche Mittel zur Verhinderung wie vieler zusätzlicher HIV-Neuinfektionen eingesetzt werden.

HIV-Neuinfektionen werden nicht nur durch HIV-Prävention für Allgemeinbevölkerung (BzgA) und Zielgruppen (DAH) verhindert, sondern z.B. auch durch die Erhöhung der Sicherheit von Blutprodukten. Auch dies erfordert den Einsatz von öffentlichen Geldern.

„Anfang des Jahrzehnts wurde damit begonnen, die Blutspenden direkt auf das Virus zu testen, das heißt man lagerte sie nicht mehr wie früher und wartete, ob sich Antikörper bilden. Das kostet Deutschland, weil dies ein Monopolprodukt einer Pharmafirma ist, schätzungsweise 10 Millionen Euro pro Jahr. Damit wurde das statistische Risiko, dass sich Menschen in der Krankenversorgung mit HIV infizieren, von eineinhalb Fällen pro Jahr auf einen halben Fall pro Jahr reduziert. Zugleich steht für die gesamte Prävention – laut RKI-Bulletin haben wir ca. 2.700 Infektionen im Jahr – insgesamt weniger Geld zur Verfügung, als für die Verhütung dieses einzelnen Falls in der Krankenversorgung durch den direkten Test der Blutkonserven ausgegeben wird.“ (Rolf Rosenbrock, „Entscheidend ist die Kommunikation“, in: Jahrbuch 2007/2008)

Für die Verhinderung einer einzigen HIV-Neuinfektion werden 10 Mio. Euro pro Jahr ausgegeben.
Für die gesamte HIV-Prävention bei den von HIV/Aids besonders betroffenen und bedrohten Gruppen werden jährlich 4,6 Mio. Euro investiert.

Angesichts dieser Mittel-Verhältnisse, dieser Prioritäten, ist es defätistisch, wenn einem Fragen in den Sinn kommen? Die Verhinderung einer einzigen zusätzlichen HIV-Infektion durch direktes Testen von Blutprodukten ist dem Staat 10 Mio. € pro Jahr wert, die gesamte HIV-Prävention bei schwulen Männern nicht einmal einen nennenswerten Bruchteil davon?
Kein Menschenleben ist mit materiellen Werten zu bemessen. Aber was diesen Mitteleinsatz angeht, drängt sich geradezu die Frage auf: Sind schwule Menschen, sind DrogengebraucherInnen, sind Menschen aus Hochprävalenzländern in Deutschland weniger wert als Otto und Erika Mustermann?
Und: Ist solch eine Politik ethisch?
Und, ja, ich weiss, Moral ist keine Kategorie der Politik. Aber – man wird ja nochmal fragen dürfen?

Vor allem aber, wenn gerade auch Politik sich nur allzu gerne lobt, wie großzügig sie doch Mittel für den Kampf gegen Aids auch bei der DAH bereit gestellt hat – gerade angesichts der oben geschilderten Verhältnisse hat Aidshilfe keinen Anlass, demütig in Ruhe und Schweigen zu versinken, brav danke zu sagen und den Mund zu halten. Im Gegenteil, eigentlich müsste sie selbstbewusst sagen: wir ersparen dir, Staat, dermaßen viele Neuinfektionen mit all ihren (nicht nur Kosten-) Folgen, und das für dermaßen wenig Geld – bei dem, was du in die Verhinderung einer Neuinfektion bei Blutprodukten investierst, müssten wir dir auch einiges mehr wert sein.

das Experiment ‚mit HIV leben‘

Leben mit HIV ist ein einziges riesiges Experiment. Eines, an dem Positive mittendrin teilnehmen. Als Studienobjekte und -subjekte, ungefragt und unfreiwillig, qua Überleben, und mit Nutzen. Einige Nachdenklichkeiten.

Beim morgendlichen Scan der zahlreichen Feeds bleibt das Auge hängen an einer kleinen Notiz, kaum mehr als einem Link auf einen Fachartikel, der sich mit einem möglichen Zusammenhang von HIV, Medikamenten  und Ptosis beschäftigt.

Ptosis?
Ich werde stutzig. Erinnere mich.
Vor einigen Jahren. Etwas irritiert sitze ich bei meiner Augenärztin, berichte ihr von dem Gefühl, im Alltag schlechter sehen zu können als früher. Augenuntersuchungen zeigen keine Beeinträchtigungen. Einige Monate später, inzwischen ist dem Mann des öfteren aufgefallen „du siehst abends immer so müde um die Augen aus“. Erneut einen Termin bei der Augenärztin machen. Als es soweit ist, fällt auch ihr auf, dass beide Lider sehr tief hängen, bei einem Auge das Lid schon die Pupille beinahe zur Hälfte überdeckt.
Zahlreiche Untersuchungen folgen, Diagnose Ptosis, schließlich drei Operationen in einer renommierten Augenklinik. Degenerierte verfettete Lidheber-Muskeln (Levatoren), wird bei den Operationen festgestellt.

Nein, einen möglichen Zusammenhang mit HIV oder den Medikamenten sehe er nicht. Davon habe er auch noch nie gehört, antwortet der Professor, der mich operiert hat, auf meine Fragen. Auch die Augenärztin, seit vielen Jahren sehr erfahren in Sachen HIV-Patienten, sieht keinen Zusammenhang. Ja, das mit den degenerierten Muskeln, der Verfettung, das sei schon seltsam, und sehr ungewöhnlich in diesem Alter – aber die Verbindungen die ich zu Lipodystrohie und Fettumverteilungsstörungen sehe, da sei ihr nichts von einem möglichen Zusammenhang bekannt. Wahrscheinlich bin ich wieder zu hellhörig, bringe zu viel direkt mit HIV und den Medikamenten in Zusammenhang, denke ich.

Und nun, im Herbst 2008, nur wenige Jahre nach diesem ‚Erlebnis‘, lese ich mehr per Zufall diesen Report, der einen Zusammenhang zwischen genau dieser Art von Ptosis und der Einnahme von HIV-Medikamenten über einen langen Zeitraum herstellt.

Da ist es wieder, dieses Gefühl, Teil eines Experiments zu sein. Versuchskaninchen. Studieren, Erfahrungen sammeln am lebenden Objekt. Was anderes heißt es, lange mit HIV, mit HIV-Medikamenten zu leben, zu überleben?

Es waren HIV-Positive, die erstmals über seltsame Körper-Veränderungen berichteten. Die Stiernacken, abgemagerte Arme und Beine, dicker werdende Bäuche immer wieder thematisierten, dem Bauch schließlich gar den Namen ‚Crix-Belly‘ gaben und damit klar zum Ausdruck brachten, wo sie den Verursacher vermuteten.
Es dauerte lange, bis diese körperlichen Veränderungen von behandelnden Ärzten, später auch von forschenden Klinikern ernst genommen wurden. Noch ein wenig länger, bis das, was Positive zunächst nur vereinzelt wahrnahmen, irgendwann als Syndrom erkannt wurde, den Namen ‚Lipodystrophie-Syndrom‘ bekam.

Im Verlauf der inzwischen 25jährigen Geschichte von Aids waren es schon häufiger zuerst Betroffene, Patienten, Positive (je nach bevorzugtem Sprachgebrauch und Blickwinkel), die auf ungewöhnliche Effekte, seltsame Nebenwirkungen, neuartige Erkrankungen aufmerksam machten. Und die darauf drangen, dringen mussten (weil es sonst niemand tat), diese Symptome ernst zu nehmen.

Und es waren und sind besonders die HIV-Positiven der ersten Generationen, die zuerst diese seltsamen Effekte bemerken, an sich selbst feststellen – lange bevor sie häufiger auftreten, zu einem auch von der Fachöffentlichkeit anerkannten Bild werden. Bei denen Langzeit-Folgen oftmals einfach zeitbedingt am frühesten, am häufigsten, am intensivsten auftreten.

Leben mit HIV, Leben mit Aids-Medikamenten – das ist ein Experiment, ein derzeit laufendes Experiment, mit HIV-Positiven als Teilnehmer. Unser Leben, unser Leben mit HIV, unser Leben mit Aids-Medikamenten ist das Experiment.

Das ist weniger spektakulär, als es zunächst klingen mag.
Denn – es waren HIV-Positive, die -zu Recht- damals darauf drangen, dass die ersten Aids-Medikamente schnell zugelassen, schnell in der Praxis verfügbar wurden.
Und es liegt im Wesen von Nebenwirkungen, dass sie teils sehr selten und damit u.U. spät auftreten. Es liegt im Wesen von Langzeit-Nebenwirkungen, dass sie erst nach vielen Jahren oder bei bestimmten Kombinationen von Faktoren und Ereignissen auftreten.

Also – dieses Gefühl, Teil eines Experiments, einer Studie am lebenden Objekt zu sein, ist nicht sehr spektakulär. Aber es ist gelegentlich doch sehr erschreckend.
Und es ist gelegentlich ermüdend, sich immer wieder -freiwillig, und mit Nutzen- wie ein Versuchskaninchen zu fühlen, zudem wie eines, das vom Medizinsystem selbst nicht immer ernst genommen wird 😉

Ach ja, und die Ptosis?
Die Autoren kommen zu dem Schluss

„We report the novel findings of blepharoptosis and external ophthalmoplegia in patients who are receiving ART. Ptosis was preceded by lipodystrophy with long-term use of both thymidine-analogue– and protease inhibitor–containing ART. The findings are most consistent with myogenic ptosis in a generalized mitochondrial myopathy syndrome. Clinicians should also be watchful for other potential myopathic ptosis-associated complications, including proximal weakness, dysphagia, deafness, and cardiac conduction disturbances.“

Scott Baltic: Long-Term HIV Therapy Can Cause Ophthalmologic Problems (medscape, kostenlose Registrierung erforderlich)
Blepharoptosis and External Ophthalmoplegia Associated with Long Term Antiretroviral Therapy (ClinInfDis)

EU-Vorhaben mit Nebenwirkungen in der Warteschleife

Die gesundheitspolitische Erfolgsmeldung von heute besteht für Patienten in einer Abwesenheit, einem Fehlen – einem (zeitweisen) Rückzug.

Eigentlich hatte der Günther Verheugen (SPD), EU-Kommissar für Unternehmen und Industrie und Vizepräsident der EU-Kommission, heute in Brüssel einen Gesetzentwurf vorlegen wollen. Einen Gesetzentwurf für mehr Patientensicherheit in Europa.

Günther Verheugen, EU-Industriekommissar (Foto: EU-Kommission)
Günther Verheugen, EU-Industriekommissar (Foto: EU-Kommission)

Mehr Patientensicherheit in Europa – das klingt vernünftig, hört sich nach einem begrüßens- und unterstützenswerten Projekt an.

Doch Verheugens Projekt war nicht gerade „frei von Nebenwirkungen“.
Ganz im Gegenteil. In seinem Gesetzesentwurf verbarg sich unter anderem auch das Vorhaben, Pharmaunternehmen in begrenztem Maß direkt an Patienten gerichtete Werbung für Medikamente zu erlauben. Wobei, Verheugen nennt dies -ähnlich wie die Pharmaindustrie- ‚Information‘.

Geht es um Information oder Werbung? Geht es um Information oder Desinformation?
Viele Experten, auch Vertreter von Patientengruppen sowie Ärzteorganisationen erwarten von ‚Informationen‘ der Pharmaindustrie nicht gerade ein interessen-neutrales Unterfangen, erst recht nicht wenn es direkt an Patienten gerichtet ist.

In Deutschland gilt bisher, dass Werbung für verschreibungspflichtige Medikamente bei Patienten / Verbrauchern verboten ist. Ein Direktwerbeverbot, das Pharmahersteller jedoch immer wieder bereits heute trickreich zu unterlaufen versuchen.
Ein Werbeverbot, dass jedoch alles andere als grundlos ist. Medikamente sind nicht ein x-beliebiges zu bewerbendes und konsumierendes Wirtschaftsgut – sie sind Heilmittel für Menschen, die erkrankt sind, und sie sind bekanntermaßen oftmals nicht frei  von Risiken und Nebenwirkungen.

Gefragt ist satt die Risiken verschweigender, verharmlosender, schönfärbender Medikamenten-Werbung vielmehr unabhängige Arzneimittel-Information, sind korrekte, interessenneutrale Arzneimittel-Informationen im Internet und über andere Medien und Kanäle.Dass die Pharmaindustrie diese interessenneutralen Inforamtionen bereit stellt, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden.

Schon ein Blick auf die Arzneimittel-‚Information‘ in den USA (wo Medikamenten-Werbung breit erlaubt ist) zeigt, welche Auswüchse uns drohen, würde sich Verheugens Vorschlag durchsetzen. Dort klettern gelegentlich strunzige junge Männer munter auf höchste Gipfel, selbstverständlich gut gebaut, muskulös und sonnengebräunt – und dass alles ‚völlig positiv‘, dank xxx, diesem tollen Aids-Medikament.
Die Folgen? Gerade auch im Aids-Bereich klagen Patienten- wie auch Präventionsorgansiationen seit langem über Aids-Medikamenten-Werbung, die HIV und Aids verharmlose. Patienten suggeriere, es sei doch eigentlich gar nicht so schlimm, sich mit HIV zu infizieren, ein, zwei Pillen am Tag, und schon gehe es wieder aufwärts …

Dennoch, Günther Verheugen beharrtt trotz aller bereits im Vorfeld geäußerten Proteste auf seinem Vorhaben, Werbung zuzulassen. Warum? Wessen Interessen vertritt Verheugen?
Verheugen ist EU-Kommissar für Unternehmen und Industrie.
Nicht etwas EU-Kommissar für Patienten und Verbraucher.
Womit die Interessenlage bezeichnet sein dürfte.

Günther Verheugen war bereits 2006 als ‚Preisträger‘ für den „Worst EU Lobby Award“ nominiert – für „die Einrichtung von unausgewogenen Expertengruppen, die vor allem den Interessen großer Unternehmen dienen“ (pdf).

Verheugens Projekt ist heute nicht auf der Tagesordnung der EU-Kommission. Es wurde kurzfristig zurückgezogen, nachdem schon ein Mitte vergangener Woche vorgelegter Richtlinien-Entwurf zu massiven Protesten von verschiedensten Seiten kam.

Der zeitweise Rückzug Verheugens ist zu begrüßen. Wichtig bleibt, dass der Protest gegen Arzneimittel-Werbung für Patienten aufrecht erhalten bleibt – und dass auch die Bundesregierung ihre ablehnende Haltung beibehält und weiterhin in Brüssel deutlich macht.

Nachtrag 15.11.2008: „Günter Verheugen bleibt bei seinen Plänen zur Aufhebung des Werbeverbots“, berichtet das Deutsche Ärzteblatt.
Nachtrag 25.11.2008: Verheugens Haltung ist auch in der EU-Kommission in der Kritik. Die EU-Gesundheitskommissarin Androulla Vassiliou soll zukünftig für den Pharmabereich zuständig sein, wird gefordert (berichtet Stationäre Aufnahme)

Wer wenn nicht wir …

Die gute Position, die die deutsche Aids-Politik und ihre Erfolge im europäischen und internationalen Vergleich einnehmen, wie auch die vergleichsweise guten Lebensrealitäten, die für viele (wenn auch nicht alle)  Menschen mit HIV und Aids in Deutschland möglich sind, haben viel zu tun mit dem Engagement von Betroffenen.
Menschen aus den von HIV am stärksten betroffenen Communities, besonders aus denen schwuler Männer, engagierten sich. Vor allem aber: HIV-Infizierte brachten ihre Interessen zu Gehör, forderten sie unüberhörbar ein – und wurden immer wieder selbst aktiv. Dies, dieses Engagement, auch dieser Aktivismus war ein zentraler Baustein einer (in Deutschland insgesamt) recht erfolgreichen Aids-Politik.

Und heute? Der Aids-Bereich ist zunehmend von einer Gesundheits-Bürokratie durchdrungen. Engagement, Engagement in eigener Sache, positiver Aktivismus hingegen werden immer seltener.

Wer, wenn nicht wir? Dies war in früheren Aids-Jahren eine der Devisen, die Positive dazu ermutigte, in eigener Sache aktiv zu werden. Inzwischen sieht es seit Jahren eher düster aus in Sachen Positiven-Aktivismus.
Oder nicht?

Sind HIV-Positive, die eine erfolgreiche antiretrovirale Therapie durchführen und ansonsten keine sexuell übertragbaren Erkrankungen haben, sexuell nicht mehr infektiös, wie es ein Statement der Eidgenössischen Aids-Kommission sagt? Die Debatten um dieses Statement, um Reaktionen darauf und mögliche Konsequenzen haben auch unter Positiven für Diskussionen gesorgt. Im Augenblick tut sich etwas, ‚gärt‘ etwas, diesen Eindruck mag man gewinnen. Anflüge von Positiven-Aktivismus scheinen wieder erahnbar.

Doch – wer genau hinschaut, beginnt sich bald Fragen zu stellen.  Wer ist dort aktiv? Ist das eine Bewegung aktivistischer Positiver? Weit gefehlt. Ein Häufchen Einzelkämpfer, diese Formulierung träfe vermutlich eher zu. Und – „die gleichen Verdächtigen wie früher“, diesen Eindruck würde der Beobachter wohl auch bald gewinnen. Nicht ganz zu Unrecht. Denn im wesentlichen engagieren sich wieder diejenigen, die (mindestens) schon in den 90ern aktiv waren.

Das wirft Fragen auf, Fragen nicht nur nach dem ‚warum‘.
Wo bleiben die Proteste außerhalb dieses kleinen Kreises?
Wo sind positive Vordenker?
Wo politisch interessierte, engagierte Positive?
Wo sind die jungen Positiven, die zornig, wütend sind?
Die ihre eigenen Wege gehen wollen (statt alten Säcken munter den Vortritt zu lassen und ausgetretenen Spuren zu folgen)?

Ist auch HIV, ist auch das was früher einmal Selbsthilfe war, längst ein gesättigter Markt geworden, in dem wir alle nur noch Kunden und Klienten einer allumfassenden Aids-Industrie sind, dick, fett, wohlgefällig?
Oder gibt es noch irgend etwas, über das wir uns aufregen? So sehr, dass wir bereit sind, den Arsch hoch zu bekommen, uns zu engagieren?

Oder ist die ‚Aktivisten-Mentalität‘ auch nur ein Überbleibsel einer alt werdenden Generation früherer Schwulenbewegter? Ist HIV als Thema längst passé?

Und was machen wir dann, wenn auch der letzte ‚alte Sack‘ den Aktivisten-Löffel aus der Hand gegeben hat? Fressen brav unsere Pillen? Machen brav, was Frau (oder Herr) Gesundheitsminister uns vorschreibt? Bekommen eben, völlig ruhiggestellt, nicht, was uns bewusst vorenthalten wird?

Ich will mich nicht in Rage schreiben ;-).  Aber für mich steht ernsthaft die Frage im Raum, wo bleibt sie, die nächste Generation Aktivisten? Wo soll sie her kommen?
(Und, um auf eines direkt einzugehen, bleibt mir an Land mit der ewigen Lamentiererei, ‚die Alten‘ ließen keinen Platz für euch – nehmt ihn euch, es ist bei weitem genug Platz da für’s aktiv werden. Und genügend Goodwill, auf Nachfrage zu unterstützen, zu erzählen, Erfahrungen bereit zu stellen.)

Wenn wir es nicht hinbekommen, uns wieder selbst in nennenswertem Umfang aktiv einzubringen, werden wir, wird das Thema HIV, werden die Interessen HIV-infizierter Männer und Frauen demnächst untergehen im Brei der Gesundheitspolitik. Wird der Aufmerksamkeits-Zirkus der Medien weiterziehen. Werden heute noch selbstverständliche Gelder (die auch Positiventreffen, Broschüren, Veranstaltungen etc. ermöglichen) schon bald perdu sein, nur noch romantische Erinnerung an ‚früher‘.

Bisher haben positive Bewegungen sich immer wieder neu erfunden, immer wieder nach Phasen der Besinnung den Arsch hoch bekommen.

Es wird auch nun Zeit, dass Positive wieder ihre Stimmen erheben.
Und dass neue Generationen Positiver ihre eigenen Stimmen erheben.

Wer, wenn nicht wir?

Das darf man doch nicht laut sagen …

Seit einigen Tagen ist er nun publiziert, der Beschluss der Schweizer Eidgenössischen Aids-Kommission EKAF, der im wesentlichen hinausläuft auf die Botschaft „keine sexuelle Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs„. Und die Aufregung ist groß.

Bezeichnenderweise steht im Mittelpunkt eines Großteils der Kritik allerdings nicht, ob der Beschluss der EKAF wissenschaftlich korrekt ist oder nicht.

So bestätigt auch Dr. Osamah Hamouda (stellvertretender Leiter der Abteilung Infektionsepidemiologie und Leiter Fachgebiet 34 HIV/Aids am RKI): „Fachlich sehe ich in dem Papier nichts Falsches“.
Er ergänzt: „doch die Einschränkungen, unter denen die Empfehlung steht, könnten auf dem Weg zum ‚Endverbraucher’ verloren gehen“ (im Tagesspiegel vom 01.02.2008). Er hat Bedenken ob der Auswirkungen, okay.

Viel prägnanter und noch deutlicher wird (stellvertretend für viele) der Geschäftsführer der Zürcher Aids-Hilfe, Reto Jeger: dieser Beschluss sei „fatal“, und „man hätte diese Entdeckung besser nicht breit publiziert.“

Nein, die Frage, die viele beschäfttigt, lautet also nicht, ob der Beschluss wissenschaftlich korrekt ist, oder wie man dann welche Konsequenzen daraus zieht und umsetzt. Nein, sondern die Frage lautet für viele bestürzenderweise vielmehr

‚Darf man das denn so laut sagen?‘

Und meistens wird gemeint, manchmal sogar laut gesagt
‚Das darf man aber nicht laut sagen, das behalten wir besser für uns.‘

Meiner Ansicht nach ist die Frage höflich gesagt verkehrt gestellt.
Sie müsste lauten: darf man solch eine wichtige Erkenntnis verschweigen?

Denn genau das ist doch bisher geschehen. Die Aussage der EKAF ist ja inhaltlich nicht so neu. Einige Ärzte sagen genau das einigen Patienten schon seit längerer Zeit. Aber eben einige nur einigen … Vielen, den meisten wurde die Nachricht bisher vorenthalten.

Das könnte man als elitäres Vorgehen, arrogantes Verhalten oder auch schlicht undemokratisch empfinden.

Oder ist die Einstellung ‚das verschweigen wir besser‘ etwas anderes als arrogant? Heißt diese Einstellung nicht in Klartext übersetzt

‚okay Leute wir wissen, es gibt da Situationen, in denen HIV-Positive nicht infektiös sind und Sex auch ohne Kondom ’safer sex‘ sein könnte. Wir halten euch aber für zu blöde, das zu kapieren. Außerdem gefährdet das doch unsere so schön simple Präventionswelt, die nur heißt ‚Kondome Kondome Kondome‘. Und deswegen sagen wir euch die neuen Erkenntnisse einfach nicht. Nehmt doch einfach weiter immer Kondome.‘

Ich frage mich, wo leben wir denn, besser in welcher Zeit leben wir denn, dass solcher Art Informations-Verstecken wieder gedacht wird?

Haben wir wieder das Mittelalter? Abgeschlossene Türme des Wissens, die nur für wenige Eingeweihte offen sind? Und das ‚gemeine Volk‘ bleibt außen vor?
Und wer darf denn zukünftig entscheiden, wer was wissen darf, und was breit publiziert, was aber nur exklusiven Zirkeln informierter Patienten vorbehalten bleibt?


Hat nicht jeder, vor allem auch jede/r HIV-Positive ein Recht darauf, das zu wissen? Und daraus zusammen mit seinem Partner, seiner Partnerin auch seine/ihre persönlichen Konsequenzen zu ziehen, z.B. für ihr/sein Verhalten?

Natürlich wirft die Veröffentlichung des Statements Fragen auf.
Aber – kann, sollte man es deswegen verbieten?
Oder nicht lieber versuchen, die Fragen zu beantworten, sich der Realität zu stellen?

Die eigene Klientel für dumm zu verkaufen führt nicht weiter.
Die eigene Klientel für dumm zu verkaufen führt höchstens dazu, dass Menschen halbinformiert sich irgendwie verhalten, sich ihre Wahrheit zurecht biegen, wie es eben ihre (Nicht-) Informationen zulassen. Und sich womöglich eben (z.B. aufgrund von Fehleinschätzungen, Stichwort negatives Serrosorting / Seroguessing) gefährden.
Die eigene Klientel für dumm zu verkaufen verkennt zudem, dass die vielleicht gar nicht so dumm ist, sondern recht aufmerksam debattiert (wie derzeit in den Kommentaren zu einem queer.de – Artikel zum EKAF-Statement zu verfolgen ist).

Statt Informationen ‚unter dem Deckel halten‘ zu wollen, sollten wir uns viel mehr gemeinsam darauf konzentrieren zu prüfen, was der Beschluss genauer besagt, in welchen Situationen er was bedeutet. Welche Konsequenzen daraus für Präventions-Kampagnen und -Botschaften, aber auch für medizinische Angebote zu ziehen sind. Und diese Konsequenzen dann auch umsetzen – und offen kommunizieren.

Endlich spricht jemand das aus …

Zur Stellungnahme der Schweizer “Eidgenössische Kommission für Aidsfragen” (EKAF) zur Frage der Infektiosität bei wirksamer antiretroviraler Therapie (siehe gestriger Beitrag „keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie„) im Folgenden als Dokumentation ein Kommentar von Bernd Aretz, Aids-Hilfe Offenbach:

Endlich spricht hier jemand das aus, was seit Jahren hinter den geschlossenen Türen der Ordinationsräume in vielen Praxen kommuniziert wird. Als ein Mann, der als Betroffener seit 1984 in Aids-Hilfe auf allen Ebenen engagiert ist, weiß ich das nicht nur aus meiner eigenen Erfahrung sondern aus dem Alltag unserer Beratungsstelle sowie Gesprächen mit kaum zu zählenden HIV-infizierten Frauen und Männern. Das bisherige öffentliche Schweigen hat die Prävention erschwert. Da gefühlsmäßig die Gefahr bei den wissenden Positiven verortet wird, hat sich im schwulen Leben die Unsitte des negativen Serosortings breitgemacht. Da suchen Männer für flüchtige Begegnungen Männer, die angeben, negativ zu sein und begeben sich damit genau in die Bereiche, in der es aufgrund der hohen Infektiosität während der Primoinfektion besonders gefährlich ist. Der offene Umgang mit der Infektion wurde erschwert, weil Positive, wenn sie ihren Status offen kommunizieren, in einem erheblichen Masse mit Ablehnung als potentielle Sexualpartner rechnen müssen. Verlogenheiten, Depressionen, übermäßiger Konsum von Alkohol sind eine häufige Folge. Die Chance, die Compliance zu erhöhen wird leichtfertig verspielt. Die Verheißung, mit Partnern in der Lebensbeziehung angstfrei verkehren zu können, kann die Motivation zum Test und zur Behandlung erhöhen.

Durch das Auseinanderfallen von Beratung im Arztzimmer, den persönlichen Erfahrungen Betroffener und dem öffentlichen Diskurs verliert die Prävention insgesamt an Glaubwürdigkeit, auch soweit es um andere STDs geht. Das bisherige Schweigen ist nicht unschuldig, weil es der ungerechtfertigten Strafverfolgung wirksam Behandelter Vorschub geleistet hat.

Was das Gefühl, als gefährlich wahrgenommen zu werden und im Interesse einer breiten Prävention als Angstgegner funktionalisiert zu werden, mit den Seelen machen kann und wie es in diskordante Partnerschaften einwirken kann, liegt auf der Hand.

Selbst wenn auch unter guter Therapie ein theoretisches Restrisiko verbleiben sollte, so steht doch fest, das dies statistisch irrelevant ist, gemessen an den Schäden, die das Verschweigen verursacht.

Danke und Respekt also an die EKAF und Herrn Prof. Vernazza für ihre offenen Stellungnahmen.

Bernd Aretz

Aids-Hilfe Offenbach

© Bernd Aretz