Die Zahl der HIV-Neuinfektionen sinkt deutlich. Und auch bei schwulen Männern zeigt sich ein deutlicher Rückgang. Erfreuliche Daten, die das RKI kurz vor dem Welt-Aids-Tag 2011 vorstellt. Daten, die deutlich zeigen, dass Prävention wirkt – und dass ihre Rahmenbedingungen stimmen müssen.
Prävention lohnt sich
So einfach die Botschaft „Prävention lohnt sich“ auch klingt, die nun vorgestellten Zahlen belegen erneut eindrücklich die Wichtigkeit dieser Aussage.
Und: gerade auch Mittel für zielgerichtete Prävention, wie sie die Aidshilfen seit einiger Zeit z.B. für Schwule und Männer die Sex mit Männern haben, mit der Kampagne „ich weiss, was ich tu!“ betreibt, sind gut angelegte Mittel. Diese Mittel zu reduzieren, wäre sträflicher Leichtsinn. Mittel für die Prävention sind gut angelegte Mittel – auch in Zukunft.
Mythen bleiben Mythen
Mythen blieben im Aids-Bereich das, was sie sind: „sagenhafte Geschichten“. Auch ihr gebetsmühlenartiges Wiederholen macht sie nicht wahrer.
Wir (gerade auch: Positive, Schwule, schwule Medien) sollten aufhören, derartige Mythen weiterhin zu bedienen und zu transportieren. Und wir sollten uns ihnen entgegen stellen. Ihre Substanzlosigkeit aufzeigen. Ihnen Fakten entgegen stellen – wie die heute vorgestellten sinkenden Zahlen der HIV-Neudiagnosen.
Therapie allerdings kann Prävention nicht ersetzen. Es bedarf auch weiterhin wirksamer HIV-Prävention, insbesondere in und für die von HIV am stärksten bedrohten Gruppen.
Und – Therapie darf niemals ausschließlich dem Aspekt der Prävention dienen. Im Vordergrund muss immer die individuelle (medizinische wie auch soziale) Situation des HIV-Positiven stehen.
Der Rahmen muss passen – Prävention und Therapie sind nicht alles
Die beste HIV-Prävention kann nur wirken, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, gesellschaftlich wie auch politisch:
Für Drogengebraucher heißt wirksame HIV-Prävention auch: verfügbare Methadon-Programme, Druckräume und Spritzen-Tausch-Programme.
Für Menschen in Haft heißt wirksame HIV-Prävention auch: Kondome und saubere Spritzbestecke müssen auch im Strafvollzug verfügbar sein. Ebenso selbstverständlich antiretrovirale Medikamente für HIV-positive Strafgefangene.
Für alle heißt dies: testen lassen auf HIV wird sich nur, wer nicht anschließend an einen etwaigen positiven HIV-Test Diskriminierung und Stigmatisierung befürchten muss, oder gar den Staatsanwalt. Wirksame HIV-Prävention muss sich zugleich auch gegen Diskriminierung und Stigmatisierung HIV-Positiver engagieren.
Diskriminierung und Stigmatisierung HIV-Positiver ebenso wie die Kriminalisierung der HIV-Übertragung beeinträchtigen, ja gefährden den Erfolg von HIV-Prävention. Engagement gegen Stigmatisierung, Diskriminierung und Kriminalisierung müssen selbstverständlicher Bestandteil von HIV-Prävention sein. Debatten in jüngerer Zeit lassen zudem hoffen, dass auch ein sich veränderndes Selbstbewusstsein mancher HIV-Positiver dazu beiträgt, ihnen den Boden zu entziehen.
Von Piraten lernen? Haben die Piraten, derzeit erfolgreich in Wahlen und Umfragen, Konzepte und Techniken, die auch Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe zu ihrem Nutzen einsetzen könnte?
Die noch junge Partei der ‚Piraten‘ verzeichnet überraschende Erfolge bei den Berliner Wahlen, und noch überraschender hohe Werte in derzeitigen Umfragen (Sonntagsfrage). Auch wenn die Piraten den Beweis der politischen Alltags-Tauglichkeit als Partei erst noch erbringen müssen, und die derzeitigen Umfragewerte auch medial geschürten Hypes gedankt sein dürften – es lohnt sich zu fragen, für welche Politik stehen die Piraten, gibt es etwaige Gemeinsamkeiten (siehe Teil 1: „gemeinsame Piraten-Sache ? – Allmende und Gemeingut“) – und mit welchen Konzepten und Werkzeugen gehen die Piraten dies an? Kann Aidshilfe vielleicht gar lernen von den Piraten?
Neben dem Begriff der Gemeingüter (hinter dem sich bei den Piraten z.B. auch Debatten um Netzneutralität und Urheberrechte befinden) ist ein weiterer Themenkomplex zentral für die Piraten: Partizipation und Transparenz.
Partizipation meint die aktive und effektive Einbeziehung von Personen und Organisationen in Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung; sie ist ein Wesenselement einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Transparenz bedeutet, dass Vorgänge von außen (Außenstehenden) nachvollziehbar sind. Sie ist wesentliche Voraussetzung für freie Willensbildung und echte Partizipation.
Die Piraten haben – mit dem erklärten Ziel, hiermit die Möglichkeiten zu innerparteilicher Partizipation, zu aktiver Einbeziehung weitest möglicher Kreise der Mitglieder und Interessenten zu erhöhen – mit ‚Liquid Feedback‘ seit Mitte 2010 ein Werkzeug, das das Potenzial hat, Formen der politischen Zusammenarbeit grundlegend zu verändern.
‚Liquid Feedback‘ basiert auf ‚Liquid Democracy‘. Liquid Democracy ist eine Theorie und ein Konzept gemeinsamer Entscheidungsfindung, das Elemente der repräsentativen mit Elementen der direkten Demokratie vereint. Im Mittelpunkt derzeitiger Umsetzungsversuche stehen neue elektronische Medien – bisher ’starre‘ demokratische Abläufe sollen ‚verflüssigt‘ werden. Liquid Feedback ist eine im April 2010 erstmals (als stabile Version) veröffentlichte Software (open source, auch in deutsch), die dies versucht, und zur politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung eingesetzt werden kann. Angewendet wird Liquid Feedback derzeit von der Piratenpartei Deutschland und ihren Landesverbänden, der Piratenpartei Brasilien sowie den Piratenparteien in Österreich und der Schweiz.
Liquid Feedback ist ein Versuch gelebter innerparteilicher Demokratie, der zudem versucht, die negativen Folgen einer (auch bei den Piraten zukünftig vermutlich zunehmenden) hierarchischen Struktur der Partei zumindest zu mindern – zugunsten transparenter Abläufe und Entscheidungsfindungen, und einer möglichst breiten aktiven Einbeziehung der Mitglieder.
Neben Liquid Feedback nutzen die Piraten zahlreiche weitere Werkzeuge von Live-Feeds und -Streams über diverse Wikis bis Twitter und diverse sozialen Netzwerke. Selbst die ersten Fraktionssitzungen der frisch gewählten Berliner Piraten konnten live per Stream verfolgt werden, über alle Sitzungen wird via Feed und Blog berichtet.
Manche dieser Werkzeuge (z.B. Twitter, soziale Netzwerke) werden auch von anderen Parteien genutzt, von keiner jedoch wohl so offensiv wie von den Piraten. ‚Liquid Feedback‘ ist ein (mächtiges) Werkzeug, das bisher einzig die Piraten anwenden.
Und Liquid Feedback stellt mehr dar als ’nur‘ ein technisches Werkzeug (oder, wie vereinzelt in Medien bezeichnet ‚Spielzeug‘): Liquid Democracy ist ein Konzept, das ein neues, oder doch zumindest grundlegend verändertes Konzept politischen Arbeitens ausdrückt, das die parlamentarische Demokratie um Elemente direkter Demokratie ergänzt und gleichzeitig wesentlich mehr Transparenz politischer Prozesse und Entscheidungsfindungen ermöglichen (und so vielleicht auch zu einer stärkeren Identifizierung beitragen) kann.
Mit diesen Elementen wird Liquid Democracy (wie auch seine Anwendung in Kombination mit weiteren Netzwelt-Werkzeugen) auch zu einem Thema, das potentiell für Aidshilfen sowie für Positiven-Selbsthilfe interessant sein könnte.
Selbst bestimmen, mit entscheiden – dies waren und sind Kern-Anliegen HIV-positiver Selbsthilfe, auch im Interesse einer Vermeidung von Banalisierung und Marginalisierung. Interessen einer Positiven-Selbsthilfe jedoch, die sich selbst mitten in der Partizipationsfalle befindet (Partizipationsfalle: Interessierte und Engagierte werden in vorbereitende Diskussionen mit eingebunden, teils mit viel Zeit- und persönlichem Aufwand, können ihre Meinung darlegen und ggf. mit Fakten untermauern – ihr realer Einfluss auf politische Entscheidungen jedoch ist mehr als begrenzt) [siehe meine Rede in der Frankfurter Paulskirche am 1.12.2010 „Über können Sollen und wollen Dürfen – Gedanken zur Zukunft der Interessenvertretung HIV-Positiver„].
An Werkzeugen und Wegen einer lebendigen Partizipation und – als eine ihrer Voraussetzungen – gelebter Transparenz sollten also sowohl Aidshilfen als auch Positiven-Selbsthilfe großes Interesse haben.
Vielfältige Anwendungsmöglichkeiten wären denkbar, für Liquid Democracy, aber auch im Vorfeld für einfachere Techniken zwischen Stream und Webcast.
Einige erste Ideen:
Aidshilfe könnte wichtige öffentliche oder Verbands-öffentliche Debatten, wie z.-B. auf Mitgliederversammlungen, bei Vorstandswahlen oder anlässlich großer Events wie „25 Jahre Aidshilfe“, als Live-Stream (Audio) oder Webcast (Video) übertragen – und so nicht nur die Reichweite wesentlich erhöhen, sondern auch einem deutlich größeren Kreis an Interessierten eine (virtuelle) Teilnahme ermöglichen.
Entsprechend: warum werden nicht bedeutende Positiven-Veranstaltungen – z.B. Podiums-Diskussionen der ‚Positiven Begegnungen‘ oder auf Bundesweiten Positiventreffen – auch im Internet übertragen, als Live-Stream (Audio) oder Webcast (Video)? Womöglich mit Option der interaktiven Beteiligung via Rückkanal?
Die Technik hierfür ist längst verfügbar, und auch zu akzeptablen Bedingungen. Die Reichweite von Veranstaltungen könnte so wesentlich vergrößert werden. Vor allem aber: einer wesentlich größeren Zahl an Positiven als nur der i.d.R. sehr begrenzte Zahl der Teilnehmer vor Ort könnte eine Teilnahme ermöglicht werden. (Vorgeschlagen wurde dies bereits zu den Positiven Begegnungen 2010, ein Versuch einer Umsetzung steht weiterhin aus.)
Immer wieder wird beklagt, Positive hätten zu wenig Möglichkeiten, ihre Haltung zu wichtigen Fragen gemeinsam und in Breite zu diskutieren, zu formulieren, auszudrücken. ‚Liquid Democracy‘ bzw. ‚Liquid Feedback‘ könnten ein Experiment wert sein, diese oder andere Werkzeuge für die Debatten und Positions-Findungen unter Positiven nutzbar zu machen.
Liquid Democracy könnte sich auch geeignet erweisen für die weitere Belebung und Intensivierung von innerverbandlichem Dialog und Debatte der Aidshilfen. Die DAH hat hier in letzter Zeit mit Intra- und Extranet, mit Verbands-Newslettern und Vorstands-Informationen bereits wesentliche Schritte getan. Sind weitere Schritte möglich? Und geeignet, z.B. für die Klärung von Positionen und Haltungen auf breiterer Basis?
Können Werkzeuge wie Liquid Democracy zudem auch innerhalb des Verbandes Aidshilfe zu mehr Transparenz, innerverbandlicher Demokratie und vor allem Partizipation beitragen? Und – vielleicht nicht nur innerverbandlich, sondern auch ’nach außen‘? Auch interessierten Kreisen außerhalb des engen Kreises der Mitglieder eine Partizipation, eine aktivere Mitarbeit ermöglichen?
Der derzeitige Erfolg der Piraten, ihre Ideen und Konzepte könnten zum Anlass genommen werden, auch in Aidshilfe und Positiven-Selbsthilfe neu über Formen der Zusammen- und Mitarbeit nachzudenken. Anstoß sein zu mehr Experimentieren – mit dem Ziel, einer größeren Anzahl an Menschen leichter eine stärkere Einbeziehung und Mitarbeit zu ermöglichen, und gleichzeitig die Transparenz zu erhöhen. Der Debatte könnte beides gut tun – auch dadurch, dass die Vielfalt der in Debatten einbezogenen Meinungen, Argumentationen und Haltungen größer und breiter würde, besser dokumentiert, besser abgebildet und nachvollziehbar. Für mehr Demokratie, mehr Partizipation, mehr Transparenz – auch in Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe.
Fast neun Prozent der Wähler/innnen-Stimmen, 15 Sitze im Abgeordnetenhaus – der Erfolg der ‚Piraten‘ bei der Berliner Wahl 2011 hat viele (wenn auch nicht alle) Parteien, Journalisten, politischen Beobachter überrascht. Von konsternierten Blicken über Irritation bis Häme, die Reaktionen bleiben bisher oftmals an der Oberfläche. Parteien registrieren bisher kaum die Gefahr des Verlusts ihrer Kern-Themen (wie Bürgerrechte), das Aufkommen neuen Bewusstseins oder neuer Methoden politischer Arbeit, wundern sich höchstens über Aktivierung bisheriger Nicht-Wähler. Tiefergehende Analysen und Betrachtungen zu dem, was hinter dem Erfolg der Piraten stehen könnte, sind hingegen im politischen Raum noch eher selten. („Dass die Piraten einen eigenen originären Politikansatz haben könnten, scheint niemand in Betracht zu ziehen“, bemerkt treffend Michael Seemann auf ctrl-verlust).
Die Piraten (einzig) als mono-thematische Nerd-Partei oder als „one hit wonder“ abzutun könnte sich schon bald als kurzsichtig erweisen, hieße ihr Potential, die mögliche Bedeutung ihrer Ideen und Projekte zu verkennen (und zwar unabhängig davon, wie sich ihr konkretes politisches Schicksal erweist) – und Chancen zu vertun.
Aber – was hat der derzeitige Erfolg der Piraten mit Aidshilfe zu tun?
Vielleicht mehr, als auf den ersten Blick offensichtlich scheint.
Denn – Chancen durch die Piraten könnten sich m.E. auch für Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe ergeben.
Gibt es Gemeinsamkeiten in Ideen und Zielen zwischen Aids-Bewegung(en) und den Piraten?
Können Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe vielleicht auch von den Piraten lernen?
1. gemeinsame Piraten-Sache ? – Allmende und Gemeingut
Die Piraten sind eine vergleichsweise junge Bewegung und Partei (und doch derzeit die Mitglieder-stärkste der nicht im Bundestag vertretenen Parteien). Entstanden 2006 aus einer Anti-Copyright-Bewegung (daher stammt auch ursprünglich der Name der Partei), werden sie heute immer noch überwiegend als „Internet- und Nerd-Partei“ wahrgenommen (Nerd = ‚internet-Freak‘). Tatsächlich jedoch haben sie inzwischen ihr Parteiprogramm auf beträchtlich breitere Füße gestellt (wenn auch ihre Haltungen und Forderungen z.B. in Bereichen wie Gesundheit oder Soziales immer noch nur in Ansätzen zu erkennen sind).
Dies sollte jedoch nicht daran hindern, nach potentiellen Gemeinsamkeiten zu spüren. Denn – diese zeichnen sich durchaus ab, und zwar in Kern-Feldern. Aus einem einfachen Grund: ein, wenn nicht das Kern-Element der politischen Identität der Piraten ist die Auseinandersetzung mit der Frage, was soll der Allgemeinheit gehören, was soll privat(wirtschaftlich) organisiert, gar geschützt sein. Grund-Thema der Politik der Piraten ist die Auseinandersetzung mit Allmende (Gemeinschafts- oder Genossenschafts-Besitz), mit Commons, mit Gemeingütern.
Dies aber ist ein Thema, das Aidshilfe nicht unbekannt sein dürfte. Debatten, die Aidshilfen führen, gehen oft um Begriffe wie ‚Daseinsfürsorge‘, ‚Gemeinwohl‘, um Solidargemeinschaft oder Individualisierung von ‚Risiken‘ und ‚Vorsorge‘. Auch hinter diesen Begriffen steckt u.a. die Frage, was ist Gemeingut, was darf / soll privatisiert werden, was kann wie optimal im Sinne der Interessen und Bedürfnisse der Gemeinschaft gestaltet werden?
Gemeingüter – ein Thema, dessen Bedeutung gerade in der politischen Auseinandersetzung der nächsten Jahre steigen dürfte. Ein Thema, das weit mehr betrifft als Internet und Urheberrechte: Ist Wasser ein Gemeingut? Eines, das von der Allgemeinheit zu ihrem besten Nutzen und niedrigsten Kosten organisiert werden soll? Oder soll die Wasser-Versorgung privaten Gewinninteressen überlassen werden? Ist Gesundheit, die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten, ein Gemeingut? Sollen lebensnotwendige Medikamente jedem Menschen zur Verfügung stehen? Oder sollen Patentrechte auf Wirksubstanzen sowie Profite privatwirtschaftlicher Pharmaindustrie wichtiger sein als menschliches Leben und breite Verfügbarkeit lebenswichtiger Medikamente?
Michael Seemann kommentiert auf ctrl-verlust: „Infrastrukturen, die Zugang und Teilhabe ermöglichen, müssen gestärkt und ausgebaut werden und gehören diskriminierungsfrei allen angeboten“. Und die Frage liegt nahe – warum nur Infrastrukturen, warum nicht auch Gesundheit, kulturelle teilhabe etc.?
Gemeinwohl, Gemeingüter – ein Themenkomplex, der derzeit bei den Piraten vielleicht noch sehr auf Internet, Urheberrechte und digitale Welten fokussiert wird. Aidshilfe hingegen kennt den Gedanken aus Fragen wie dem Gesundheitsbegriff, der Struktur und Aufgabe des Sozialstaats oder der Verfügbarkeit von Medikamenten.
Beiden gemeinsam aber ist die grundsätzliche Frage: was ist im Interesse der Allgemeinheit? Was sollte von, für und durch die Gemeinschaft gestaltet und geregelt werden?
Gemeingüter – das ist die Frage, was soll der Allgemeinheit dienen, zu welchen Bedingungen, und von wem gestaltet?
Gemeingüter – das ist die Frage, wollen wir wesentliche Grundlagen unserer zukünftigen Lebensgestaltung (ob das Internet oder z.B. die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten) weitgehend privatwirtschaftlichen Gewinn-Interessen und Monopolisierungs-Tendenzen überlassen, oder sie zum größtmöglichen Wohl aller, der Gemeinschaft gestalten?
Gemeingüter – diese Frage wird eines der großen Meta-Themen der kommenden Jahre sein. Ein Thema, bei dem sich Aidshilfen und Piraten (wie auch einige (bisher wenige) andere Parteien) viel zu sagen hätten. Ansätze, die beide Sichtweisen in Berührung bringen, gibt es bereits (wie etwa Projekte, die den Gedanken der Commons, der Gemeingüter auf die Welt der Medikamente übertragen).
Gemeingüter – ein zukünftiges Meta-Thema politischer Debatten.
Ein Thema mit zahlreichen Berührungspunkten.
Ein Thema, bei dem gemeinsame Ziele und Aktionen denkbar wären.
Ein Thema, das durch zielgerichteten Dialog und Zusammenarbeit in seiner Wahrnehmung und Bedeutung in der Öffentlichkeit gestärkt werden könnte.
Tätowierungen, Brandings die den Träger eindeutig als HIV-positiv kennzeichnen – sind sie Zeichen von Selbst-Akzeptanz und HIV-positivem Selbstbewusstsein? Oder Selbst-Stigmatisierung?
In Berlin sieht man sie schon seit einigen Jahren häufiger, auch gelegentlich in Spanien oder Frankreich, und auch in den USA: schwule Männer mit einer auffälligen Tätowierung – einem Tattoo, mit dem sie sich als HIV-positiv zu erkennen geben.
Mehrere Zeichen werden als solche ‚eindeutige‘ Hinweise genutzt, als Tattoos verwendet. So das ‚Red Ribbon‘ (‚Aids-Schleife‘). Das bekannteste Signal unter Positiven jedoch dürfte das Biohazard-Symbol sein:
Tätowierungen, die den Träger eindeutig als HIV-positiv kennzeichnen – sie bieten aus Sicht vieler, die diese Tätowierung tragen, einen klaren Vorteil: sie sind eindeutig. Signalisieren dem gegenüber, der Umwelt: ich bin HIV-positiv. Coming-out als Positiver, langwierige unbequeme Gespräche hätten sich damit weitgehend erledigt. Gerade beim Sex weiß jeder, woran er ist, kann sich entsprechend verhalten. Ohne Worte.
„Du bist kein Opfer. Du bist ein Champion, ein Überlebender – das ist der bedeutendste Teil des Tattoos“, zitiert CNN einen HIV-Positiven. HIV-Positive in den USA sprechen von einer ‚Umwidmung‘ eines Symbols, und vergleichen ihre Verwendung des Biohazard-Symbols mit der Verwendung des Rosa Winkels durch die Schwulenbewegung der 1970er Jahre. Hinzu kommt, viele sehen in dem Tattoo auch ein Signal der Verbundenheit mit anderen Positiven, einen „geheimen Identifikations-Code, der auch gegenseitige Unterstützung signalisiere.
Auch in Deutschland ist das Biohazard-Symbol als Zeichen HIV-Positiver verbreitet. Eine Gruppe HIV-Positiver bezeichnet ihre Parties für Positive als ‚Biohazardmen Parties‘, und erläutert auf ihrer Site
„Biohazard ist die Kurzform des englischen Begriffes „biological hazard“ (biologische Gefahren). Laut des amerikanischen CDC (Centers for Disease Control and Prevention) werden Erreger in unterschiedliche Biohazard-Levels eingestuft. Dabei geht von Organismen des Levels 1 die geringste Gefahr aus. Mit höherem Level steigt das Gefahrenpotential. Der HI-Virus wird mit Biohazard Level 3 gelistet.
Wir, die Biohazardmen, sind alle HIV-positiv. Du bist es auch? Dann bist du bei uns herzlich willkommen.“
Auch Jörg (*), der seit zwei Jahren ein ‚Biohazard‘-Tattoo auf dem Arm trägt, und den ich in einem Berliner Club treffe, betont, sein Tattoo mache vieles einfacher: „Ich find’s einfach klar. Jeder weiß Bescheid, woran er ist. Spart viele Worte und Debatten.“
Und, hat er keine Angst vor Stigmatisierung? „Nein. Die meisten Schwulen hier kennen das Symbol, und sehen’s auch als Vereinfachung – jeder weiß, woran er ist. Und die Heten, die mich damit vielleicht sehen, erkennen darin meist nur ‚irgend so eine Tätowierung‘. Die meisten kennen das Symbol doch nicht mal, und wenn doch, dann wissen sie nichts mit anzufangen, warum ich das trage.“
Doch – auch unter HIV-Positiven sind ‚eindeutige‘ Tätowierungen umstritten. Manche fühlen sich erinnert an die umstrittene Werbekampagne, die der Photograph Oliviero Toscani Anfang der 1990er Jahre für einen italienischen Modekonzern realisierte: ein Plakat mit einem Hinterteil, auf das groß „H.I.V positive“ tätowiert war. Bernd (*), ein weiterer Bekannter von mir, erinnert zudem daran, dass es gerade zu Beginn der Aids-Krise Politiker gab, die ernsthaft forderten, HIV-Positive sollten – womöglich zwangsweise – tätowiert werden, damit sie für jerdermann/frau als solche erkennbar seien. Schon deswegen käme für ihn persönlich dieses ‚Positiven-Tattoo‘ nicht in Frage.
Auch in Deutschland kenne ich zahlreiche HIV-Positive, besonders Barebacker, die ’spezifische‘ Tattoos haben, oft das oben dargestellte ‚Bio Hazard Symbol‘ (biological hazard, Biogefährdung).
Ich selbst konnte mich nie mit dem Gedanken anfreunden, mir HIV auch noch auf die Haut tätowieren zu lassen, und aus mehreren Gründen.
Ja, ich mag Tattoos. Sie sind für mich auch Ausdruck verschiedener Aspekte meiner Persönlichkeit, meines Lebens, meines Weges, meines Selbstbildes. Gerne habe ich Tätowierungen, die etwas mit mir, meinem Leben zu tun haben.
Aber – HIV auf die Haut tätowiert? Dem Stigma auch noch selbst Zeichen, Bildnis geben? Nein. Ich möchte nicht auf HIV reduziert werden. Und wenn mir jemand gefällt, schaff ich’s auch so (meist) ihm zu verklickern, dass ich positiv bin.
Besonders schwierig finde ich persönlich das ‚Biohazard‘-Symbol, das Gefahrgut-Zeichen der Biogefährdung. Zu sehr erinnert es mich an … genau, leidige Äußerungen eines Politikers, der Positive als Bio-Waffe bezeichnete. Zudem – Tätowierungen wie das Bio-Hazard-Symbol wecken in mir Erinnerungen an auf den Arm tätowierte KZ-Häftlings-Nummern.
Nein, geht gar nicht – für mich persönlich.
Bekannte von mir sehen das ganz anders – und tragen stolz ihr Biohazard-Symbol auf der Haut. Und betonen gern, wie praktisch es sei, wie unkompliziert es vieles mache.
HIV auf die Haut tätowiert – eine Möglichkeit des Ausdrucks von HIV-positivem Selbstbewusstsein ???
„Nach der Seuche ist vor der Seuche“, konstatiert Jörg Hacker in einem Gast-Kommentar an prominenter Stelle in der ‚Süddeutschen Zeitung‘ vom Wochenende (Ausgabe 20./21.8.2011; Seite 2; Text leider nicht online). Ich stutze. Bitte was?
Jörg Hacker kommentiert mit dieser Aussage (die gleichzeitig Titel des Gastbeitrags ist) die Situation nach dem EHEC-Ausbruch 2011. Jörg Hacker, Professor für Mikrobiologie, ist Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften in Halle (Saale). Und Jörg Hacker war von März 2008 bis März 2010 als Nachfolger Reinhard Kurths Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI). Das Robert-Koch-Institut ist die zentrale Forschungs- und Überwachungs-Anstalt der Bundesregierung für Infektionskrankheiten. Also zum Beispiel für EHEC. Und zum Beispiel für HIV.
„Nach der Seuche ist vor der Seuche“, sagt Hacker. Ohne Fragezeichen. Postulierend.
Greift damit eine Formulierung auf, die insbesondere in der Veterinär- und Agrarmedizin der letzten Jahre (z.B. Schweinepest) häufiger zu finden ist, als Titel von Tagungen, Symposien, Veranstaltungen.
Nach der Seuche ist vor der Seuche? Formal dürfte Hacker damit nicht so unrecht haben. Ja, immer wieder wird die Gesundheit von Menschen (wie auch Tieren und Pflanzen) durch Bakterien, Viren bedroht werden.
Aber – was will Hacker mit der Verwendung dieser Formulierung sagen?
Hackers Worte erinnern mich bestürzend an eine andere – nahezu gleichlautende – Formulierung:
„nach dem Krieg ist vor dem Krieg“.
Mit einem Unterschied: der Reaktion.
Würde ein prominenter Politiker in Deutschland heute die Meinung äußern „Nach dem Krieg ist vor dem Krieg“, er würde sich vermutlich eines Sturmes an Kritik ausgesetzt sehen, des Militarismus geziehen, der Kriegstreiberei. Zu offensichtlich hat die Geschichte gezeigt, dass eine solche Denkweise nur zu leicht in totalitäre Strukturen mündet, selbst in den Krieg führen kann.
Hackers Worte hingegen bleiben scheinbar weithin unkommentiert.
Eine Formulierung, wie man sie halt häufiger findet
Von der Schweinepest ist sie nun zu Infektionen des Menschen ‚weitergewandert‘.
Metaphern, die in der Politik unerhört wirken mögen – sind sie im Gesundheitswesen selbstverständlich?
„Nach der Seuche ist vor der Seuche“, was will Hacker damit sagen?
Sollen wir im permanenten Zustand der (epidemiologischen) Mobilisierung leben?
Brauche wir eine Kultur des permanenten Kriegs (gegen Mikroben)?
Die fortwährend andauernde Prävention?
Es mag die Aufgabe des Epidemiologen sein, warnend sein Wort zu erheben, vorbeugend.
Aber mit der Sprache des Militarismus, des Krieges?
Und – es geht um mehr als ’nur‘ Sprache.
Hinter den Worten steckt eine Haltung.
Eine Haltung, vielleicht auch Intention des permanenten Alarmismus?
Welche Gesellschaft ist das, die einen solchen permanenten Alarm-Zustand zum Ziel hat? Die in – durch diese Haltung aufgebauten – ständigen Bedrohungs-Szenarien lebt?
Und wie geht diese Gesellschaft des permanenten Alarm-Zustands mit ihren Mitgliedern, mit ihren Bürgern um? Welchen Preis zahlen wir dafür?
Wollen wir in einer solchen Gesellschaft des permanenten Alarms leben?
Wenn nicht, dann sollten wir auch nicht ihre Sprache benutzen.
Und bei entsprechende Haltungen aufmerksam sein.
Sonst wird das Leben irgendwann selbst zum Risiko, zur Bedrohung, der Begriff der Gesundheit verabsolutiert.
Aids-Prävention, weitgehend auch von schwulen Männern zum eigenen Schutz ‚erfunden‘, hat viele positive Folgen. Und Aids-Prävention hat sich zum mächtigen Instrument der ‚Kontrolle der Lüste‘ entwickelt. Brauchen, wollen wir das eigentlich so noch?
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In direkter Reaktion auf die sich stark ausweitende und unsere Existenz als Schwule bedrohende Aids-Krise haben u.a. schwule Männer einst ’safer sex‘ erfunden. Dieses Konzept erwies sich bald als erfolgreich und wurde auch von staatlichen Stellen aufgegriffen, in Public Health Kampagnen eingebunden und promotet. Mit weitreichenden Folgen – positiven, aber auch hinterfragenswerten.
Schwuler Sex lag einst – vor Aids (und auch als Ergebnis der 1970er Schwulenbewegungen; spätestens seit der Strafrechtsreform; und für Schwule über 18 Jahren) – weitgehend außerhalb staatlicher Regulierung und Kontrolle. ‚Wir‘ hatten unseren Freiraum, den viele auch leidlich nutzen, experimentierten, ausprobierten. Begriffe wie ‚Subkultur‘ brachten diese dezidierte Ferne von Mainstream wie auch staatlicher Kontrolle und Regulierung auch sprachlich zum Ausdruck.
Dann kam die Aids-Krise. Durch Aids, Konzepte wie safer sex und deren bereitwillige Übernahme durch staatliche wie nichtstaatliche Stellen wurden viele positive Erfolge erzielt (wie eine weitgehend niedrige Rate an HIV-Neuinfektionen, gemessen an ursprünglichen Horror-Prognosen). Doch ein Preis dieser Erfolge war: schwuler Sex befand sich plötzlich weit in Reichweite staatlicher Regelung und Kontrolle. Nein, er ‚befand‘ sich nicht etwa überraschend dort, wir selbst hatten ihn – ob aus eigenem Überlebens-Interesse, in ‚Notwehr‘ oder als ‚Diktat der Vernunft‘ – dorthin manövriert.
Inzwischen ist schwuler Sex ein weitgehend staatlich normiertes Feld. Was ist ‚gut‘ (sprich: ‚gesund‘, ‚Neuinfektionen vermeidend‘ etc.)? Dies wird definiert durch staatliche Agenturen und durch (meist) von staatlichen Stellen bezahlte Nichtregierungsorganisationen. Was ist ’nicht gut‘ (sprich: ‚Infektionen riskierend‘, ‚ungesund‘)? Auch dies wird von ihnen definiert – und bei Bedarf skandalisiert (siehe Debatten um ‚Bareback‘ etc., aber auch stillschweigend nicht diskutierte Verbote von bestimmten ‚zu expliziten‘ Broschüren). Diese Kontrolle – mal war und ist sie mehr subtil (wie in Form von Botschaften des ‚guten Sex‘), mal ganz direkt (wie in Form von Verboten von Broschüren, Verhindern oder Verzögern von Kampagnen oder Skandalisieren von Personen und Verhaltensweisen). Aber immer ist sie da, die Kontrolle schwuler Lüste.
Inzwischen ist weitgehend akzeptiert, dass es ‚externe Stellen‘ gibt, die definieren, was an Sex ‚gut für uns‘ ist (anstatt dass wir das selbst machen). Nichts mehr mit ungeregeltem Experimentieren. Nichts mehr mit ‚hemmungslos‘, mit ‚fallen lassen‘, mit ‚Aufhebung von Gesetzen und Verboten‘.
Die externen politischen und sozialen Regelsysteme des schwulen Sex – wir haben sie längst akzeptiert, und an sie gewöhnt. Einschließlich ihrer Sanktions-Mechanismen.
Und wir haben lange nicht hinterfragt, ob das, was einst angesichts der Aids-Krise zu unserem Schutz gut für uns war, auch heute noch in unserem Interesse ist.
Mehr noch: einige Schwule haben diese Kontroll-Mechanismen als selbstverständlich akzeptiert – und internalisiert. Und so fällt es den Strukturen zunehmend leichter, bei einer sich abschwächenden wahrgenommenen Bedrohung durch HIV als ‚Ersatz‘ andere Stressoren zu präsentieren, von Syphilis bis Hepatitis C. Eine Fremd-Kontrolle, die auch bereitwillig akzeptiert wird, statt ein ‚Zurück zum selbst-kontrollierten Zustand‘ zu fordern, zu wagen – oder gar selbst zu gehen.
Michel Foucault, offen schwuler und 1984 an den Folgen von Aids gestorbener französischer Philosoph, hätte diese Situation vielleicht mit seiner Formulierung von der „fehlgeleiteten Philantropie“ beschrieben: In anderem Kontext (Umgangs mit Geisteskranken) sprach Foucault von Wissenschaften, deren Anwendung einst aufgeklärt und human schienen, sich aber letztlich als subtile und heimtückische neue Formen sozialer Kontrolle erwiesen hätten …
Dabei wäre heute anderes denkbar.
Hier verbirgt sich die Frage nach Möglichkeiten der ‚Überwindung von Aids‘ und seiner Folgen für uns. Wie können schwule Männer etwas von dem, was infolge von Aids die Situation Schwuler negativ beeinflusste, einschränkte, fremd-bestimmte, regulierte, wie können wir das überwinden? Wie können Schwule ein Stück dieser (vielleicht notwendigerweise) aufgegebenen Freiheit (z.B. Freiheit von Regulierung, staatlichen Eingriffen) wieder gewinnen?.
James Miller bezeichnet in seiner Biographie „Die Leidenschaft des Michel Foucault“ den Philosophen als „in seinem radikalen Zugang zum Körper und einen Lüsten eigentlich eine Art Visionär“. Und Miller spricht von der
„Möglichkeit … daß hetero- und homosexuelle Männer und Frauen in der Zukunft … jene Art von körperlicher Experimentation, die ein integraler Bestandteil seines philosophischen Unternehmens war, wieder aufnehmen werden.“
Miller schrieb dies 1993, nur wenige Jahre nach dem Tod Michel Foucaults ( der an den Folgen von Aids gestorben war), geradezu visionär mit dem expliziten Zusatz, diese Möglichkeit ergäbe sich wieder
„nachdem die Bedrohung durch Aids zurückgegangen sein wird“.
Die reale Bedrohung durch HIV und Aids ist – gemessen an Horror-Szenarien der ersten Aids-Jahre – in Deutschland und West-Europa längst deutlich zurück gegangen.
Und doch, es gibt immer noch interessierte Stellen, die Horror-Gemälde an die Wand werfen – aber warum? Auf Basis einer realen Gefahr? Oder vielmehr z.B. um ihre einst durch Aids errungene Macht weiterhin aufrecht zu erhalten?
Hören wir auf Sie? Lassen wir uns weiter Angst-Gemälde vorhalten, internalisieren sie gar? Oder befreien wir uns, holen uns ein Stück Autonomie über uns, unsere Körper, unsere Leben zurück?
Aids-Forscher, Epidemiologen, Gesundheits-Politiker, Pharma-Industrie – sie alle diskutieren zunehmend und zunehmend begeistert ein neues Präventions-Konzept, ‚treatment as prevention‘. „treatment as prevention. Die Erfolge von HPTN052 wurden diskutiert; was sind die nächsten Schritte?“, wird schon begeistert auf der 6. Internationalen Konferenz der IAS in Rom gefragt (was manchem Beobachter zynisch erscheinen mag, wenn gleichzeitig Millionen HIV-Positiver weltweit die Aids-Medikamente, die sie dringend benötigen, nicht erhalten).
‚treatment as prevention‘ ist eine Umsetzung des EKAF-Statements und seiner Konsequenzen auf die Prävention: wenn bei HIV-Positiven durch eine erfolgreiche antiretrovirale Therapie (ART) die Infektiosität drastisch sinkt – müsste es dann nicht möglich sein, durch eine möglichst weitreichende und umfassende Behandlung aller HIV-Positiven die Zahl der HIV-Neuinfektionen nahe Null zu bringen?
Für die Pharma-Industrie scheint ein Traum wahr zu werden – Gesunde nehmen Medikamente. Und auch in Positiven- und Aidshilfe-Kreisen werden dieses Konzept und seine potentiellen Konsequenzen diskutiert. Eine dringend notwendige Debatte.Darf man aus Nebenwirkungen der ART „präventives Kapital“ schlagen?, fragte das DAH-Blog vor einigen Tagen. Corinna Gekeler und Karl Lemmen vertraten pro und contra, versuchten jeweilige Argumente aufzuzeigen.
Ein Gedanke wird meines Erachtens in der Debatte bisher zu wenig, und von Menschen mit HIV zu wenig beachtet: wohnt dem Konzept „treatment as prevention“ gravierende Beschränkung von Freiheitsrechten inne?
Warum dies?
Damit „treatment as prevention“ wirklich funktionieren kann (sprich: die Zahl der HIV-Neuinfektionen deutlich gesenkt wird), sind zahlreiche Prämissen zu erfüllen:
die Rate an HIV-Tests muss deutlich gesteigert werden, und
die Zahl der nicht als solche diagnostizierten Menschen mit einer HIV-Infektion muss auf ein Minimum reduziert werden, und
die Menschen, bei denen eine HIV-Infektion diagnostiziert wird, müssen möglichst alle und möglichst sofort an HIV-Behandlungszentren angebunden werden, und
sie müssen alle möglichst zügig antiretrovirale Therapie erhalten, und
sie müssen sämtlich angehalten werden, diese Medikamente auch entsprechend den Richtlinien einzunehmen, und
ihre Gesundheit und Werte müssen regelmäßig überwacht werden, um sicherzustellen, dass ihre Viruslast unter der Nachweisgrenze bleibt.
Wenn nur eine dieser Prämissen nicht erfüllt werden kann, gerät das Ziel einer deutlichen Senkung der HIV-Neuinfektions-Rate bereits in’s Wanken: wenn nur eine Bedingung suboptimal erfüllt ist, wird die Zahl der HIV-Positiven, die aufgrudn von ART nicht-infektiös sind, zu deutlich sinken.
Nur wenn alle oben genannten Prämissen erfüllt sind, wird sich mit „treatment as prevention“ die Zahl der HIV-Neuinfektionen deutlich senken lassen.
Doch – zu welchem Preis?
Was wird aus
dem Recht, als HIV-Positiver selbst zu entscheiden, ob ich eine Therapie beginnen will?
dem Recht, eine Therapie erst dann zu beginnen, wenn sie medizinisch erforderlich ist – und nicht, wenn und wann es „der Volksgesundheit dient“?
dem Recht, eine Therapie zu unterbrechen (unabhängig von medizinischer Sinnhaftigkeit – was wird aus dem Recht, es aus welchen Gründen auch immer als Patient zu tun)?
dem Recht, vor dem beginn einer ART zunächst andere Verfahren z.B. aus dem Bereich der alternativ-komplementären Medizin ‚auszuprobieren‘?
um nur einige Beispiele zu nennen …
Und wenn ‚treatment as prevention‘ salonfähig wird, sich breit durchsetzt – was wird aus denjenigen HIV-Positiven, die sich widersetzen? Die nicht oder noch nicht Medikamente nehmen wollen? Werden sie zu den neuen Parias der HIV-Epidemie?
Die Freiheit droht bei diesem Konzept auf der Strecke zu bleiben – insbesondere auch Freiheiten, die für Positive heute eine Selbstverständlichkeit scheinen.
Dies sind nur einige erste Fragen an das Konzept ‚treatment as prevention‘, und vermutlich nicht die letzten.
Schon diese ersten Fragen zeigen eines:
es ist in massivem Interesse von uns HIV-Positiven, sich mit diesem Konzept auseinander zu setzen, Positionen zu diskutieren und finden und sie zu vertreten – bevor andere vollendete Tatsachen schaffen.
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siehe auch
Der Teilzeitblogger 26.07.2011: Therapiezwang: Volksgesundheit vs. Entscheidungsfreiheit!
PrEP: Aids und die Rolle der Pharma-Industrie – ein Traum wird wahr …
Aids-Organisationen und Aids-Medikamente herstellende Pharma-Industrie arbeiten oftmals eng zusammen. Zu eng? Einige Aids-Organisationen bemühen sich, kritische Punkte (wie das potentielle Risiko von Einflussnahmen auf Inhalte und Positionen) zu umgehen, zu thematisieren oder mit ihnen gezielt umzugehen, z.B. indem sie entsprechende Richtlinien erarbeiten. Andere haben keinerlei Regelungen. Manchmal scheint selbst das entsprechende Problembewußtsein gering ausgeprägt zu sein.
Doch selbst wenn Richtlinien zum Verhältnis von Aids-Organisationen und Pharma-Industrie vorhanden sind: diese lösen das strukturelle Problem nicht: Aids-Organisationen (die i.d.R. auch in der HIV-Prävention engagiert sind) und Aids-Medikamenten-Hersteller (die eher an der Behandlung derer verdienen, die sich infiziert haben) stehen auf „getrennten Seiten des Tisches“, haben im Kern völlig unterschiedliche, wenn nicht konträre Interessen.
Der langjährige Aids-Aktivist Mike Barr (u.a. lange Herausgeber von ‚TAGline‘ und ‚POZ‘-Autor) wies 2009 in einem Interview mit dem Schwulen-Magazin ‚Frontiers LA‘ (online auf critpath) auf diesen Interessenkonflikt hin, der dem Verhältnis von Aids-Organisationen und Pharmaindustrie innewohnt:
„Successful prevention efforts are seen as ‘threats’ to earnings, and the leitmotif sprinkled over and over again throughout their strategic plans is ‘guarding against sales erosion.’ These are the same folks who fund and fly and feed just about every high-profile AIDS research, every AIDS clinician, every AIDS educator, every AIDS activist, every AIDS foundation in this country. If that doesn’t make the hair stand up on the back of your neck …“
Erfolgreiche HIV-Prävention bedroht potentiell den Umsatz und damit den Gewinn der Hersteller von Aids-Medikamenten. Ein nahezu nie offen ausgesprochener, zudem selten thematisierter Konflikt zwischen Pharmaindustrie und Prävention.
Doch diesen strukturellen Konflikt scheint die Pharmaindustrie bald ‚elegant umschifft‘ zu haben: indem sie danach trachtet, auch die Prävention zu übernehmen – mit ihren Medikamenten.
„treatment as prevention“ und PrEP (Prä-Expositions-Prophylaxe): Aids-Medikamente werden eingesetzt bei ‚Gesunden‘, sprich Nicht-HIV-Infizierten.
Ein Traum vieler Pharma-Marketing-Manager wird wahr. Schließlich ist das Potential der Gesunden viel größer als das der Kranken – und damit auch der potentielle Umsatz …
Und der strukturelle Konflikt zwischen Präventions-Organisationen und Arzneimittel-Herstellern wäre auch gelöst – zugunsten der Pharma-Industrie …
… es sei denn, die Geschichte von der Pharma-Industrie und den Pillen der Prävention nimmt noch eine andere Wendung …
„Muss HIV eigentlich immer noch für Horror-Gemälde herhalten? Die doch nur der Unterdrückung von schwulem Sex, schwuler Lust dienen?“ Ich spreche mit einer Kneipen-Bekanntschaft, nach kurzer Zeit landen wir bei Aids und schwulem Sex-Leben, welche Einschränkungen HIV schwulem Sex heute auferlegt. Er findet ‚eigentlich keine mehr‘. So schlimm sei das mit HIV ja nicht mehr. Immer wieder höre ich diese Äußerungen – und habe sie im folgenden in einer fiktiven Meinungs-Äußerung verdichtet, um sie zur Diskussion zu stellen:
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Möge das Goldene Zeitalter zurückkehren !
Ich höre von Schwulen, die noch vor Aids ihr Coming-Out hatten. Die von ihrem damaligen Sex-Leben berichten. Vom großer Freiheit, von Experimentieren und sich Ausprobieren, von Lust, von ‚alles geht‘. Denn – das höre ich dann oft als ‚Hintergrund-Musik‘ – das Schlimmste was passieren konnte waren ja Tripper und Syphilis. Und dagegen gab es ja Penicillin.
Dann kam Aids.
Und der Horror.
Euer Horror.
Aber auch unserer?
Der Schrecken hieß HIV, hieß Aids, hieß gnadenloses Krepieren.
Hieß.
Heißt so heute nicht mehr.
Heute gibt es gut wirksame Pillen.
Haben dann wir jungen Schwulen von heute nicht jedes erdenkliche Recht, auch wieder zu sagen „Ich will Spaß!“ ? Recht, unser Sex-Leben zu genießen, unbefangen, lustvoll, – hemmungslos? Und frei von Angst?
Das schlimmste, was uns heute passieren knn, ist HIV. Und dagegen gibt es Pillen.
Also: lasst uns in Ruhe mit der Lust-killenden Aids-Kacke von gestern.
Euer Penicillin von gestern sind uns die wirksamen HIV-Pillen von heute.
Wir wollen Lust, wollen Spaß.
Nicht mehr – und nicht weniger.
30 Jahre Aids wurden in den vergangenen Tagen und Wochen ‚zelebriert‘. Viel wurde geschrieben, erinnert, in Interviews, Geschichten und Berichten zurück geblickt.
Und doch – es war ein eigentümliches ‚Gedenken‘, zwar zurückblickend aber seltsam ahistorisch.
Viele der ’30 Jahre‘-Rückblicke, so scheint mir, sind gefühlt, gesehen, geschrieben aus der Sicht von heute, aus der Sicht einer HIV-Infektion, die oft als ‚auf dem Weg in die Normalität‘ dargestellt wird (so sehr ich anzweifle, dass dies zutreffend ist, siehe meine Rede in der Frankfurter Paulskirche 2010).
Doch das Aids der zweiten Hälfte der 1980er Jahre und der beginnenden 1990er Jahre hat mit diesem ’normalisierten HIV‘ nicht viel gemeinsam – und kann nicht aus dessen Blickwinkel betrachtet, mit dessen Maßstab gemessen werden.
Jenes Aids hieß: innerhalb weniger Jahre starben ganze Freundeskreise. Starben wahre Heerscharen junger Menschen. Nicht zufällig wecken diese ’schlechten Jahre‘ bei vielen derer, die sie überlebten, immer noch die Assoziation „beinahe wie in einem Krieg„.
In den USA wurden diese Jahre damals oft als ‚the gay holocaust‘ bezeichnet. So fehl am Platz diese Bezeichnung mir heute scheint (und auch damals schon schien, gerade angesichts der Einzigartigkeit des organisierten Mordes an den Juden Europas) – diese Bezeichnung lässt erahnen, wie ein Teil der Schwulen damals diese Zeit erlebte: als ein Massensterben eines großen Teiles derjenigen Menschen, die schwules Leben damals mit aufgebaut haben und mit ihrem Handeln und Denken prägten. Schwule Künstler, Musiker, Regisseure, Aktivisten der politischen Schwulenbewegungen, Gründer von Lederclubs, Philosophen, Vordenker, Weg-Suchende und Weg-Weisende – sie alle wurden innerhalb kürzester Zeit dahin gerafft. Starben. Weit vor ihrer Zeit, weit bevor sie ihre Ideen und Projekte zu Reife und Blüte bringen konnten. Es starb ein bedeutender Teil einer ganzen Generation junger schwuler Männer.
Jenes Aids wird oft als ‚altes Aids‘ bezeichnet – ganz so, als wären wir dieses „alte“ sehr gerne los, ließen es in der Versenkung verschwinden. Lange her, Vergangenheit, abgeschlossen und weit entfernt von unserer Realität von heute.
Doch jene Jahre, ihr Leben, ihr massenhaftes vorzeitiges Sterben haben unsere Gesellschaften, unser heutiges Leben – und ganz besonders das schwuler Menschen – verändert, auf drastische Weise beeinflusst. Auswirkungen, derer wir uns heute kaum noch bewusst sind. Geschweige denn dass wir sie verstanden, reflektiert, verarbeitet hätten. Oder uns gar fragten, ob wir einige der verloren gegangenen Ideen wiederfinden, die ein oder andere der nicht zu ende entwickelten Ideen weiter denken, manches vorzeitig und unfreiwillig abgebrochene, zerstörte Experiment weiterführen sollten – könnten – wollen.
All diese abgebrochenen Experimente, vorzeitig aus der Welt gefallenen Ideen, nicht zu ende geführten Projekte – sie sind nur äußerst selten thematisiert, erinnert, kritisch reflektiert – auch darauf hin, ob sie uns für heute etwas sagen könnten, auch wenn ihre Initiatoren, Propagandisten, geistigen Väter in eben jenen „schlechten Jahren“ des ‚alten Aids‘ vorzeitig aus ihrem Leben gerissen wurden.
Nur selten werden sie (Ideen und Projekte, wie auch ihre Protagonisten) wieder ins Bewusstsein gehoben, zutage gefördert und hinterfragt (wie in dem m.E. großartigen NGBK-Projekt der AG „Unterbrochene Karrieren“ (u.a. Frank Wagner, Thomas Michalak), 2003 mit dem Medienpreis der Deutschen Aids-Stiftung ausgezeichnet). Nur selten werden sie dem -ungeplanten, ungewollten, von Aids bedingten- Vergessen entrissen.
Es scheint fast, als wollten wir gar nicht wissen, uns möglichst nicht bewusst machen was Aids damals in uns, in unseren Biographien, in unseren Szenen – und damit: in dem Potential unserer zukünftigen Entwicklungen – anrichtete. Als wollten wir ja nicht die Tragweite dieser Verluste sichtbar werden lassen. Es scheint als wollten wir sie im Gegenteil schnellstmöglich und möglichst unauffällig ins Unsichtbare verschwinden lassen.
Die Zerstörungen und Verwüstungen, die Aids damals, Ende der 1980er und Anfang der 1990er in unseren Leben, unseren Szenen, unseren Kulturen anrichtete – wir sanktionieren, wir wiederholen sie mit unserem respektlosen und Geschichts-vergessenen Verdrängen, mit dieser Ignoranz nachträglich geradezu.
Interessant wäre m.E. zu erforschen, in wie weit die heutigen Realitäten gesellschaftlichen Lebens von Schwulen in Deutschland und Europa heute durch die Situation und Geschehnisse von Aids Ende der 1980er geprägt und verändert worden sind.
Heute, 30 Jahre nachdem Aids in das öffentliche Bewusstsein trat, und 15 Jahre nachdem die Aids-Konferenz von Vancouver ein Zeichen für den Aufbruch in eine Zeit eines anderen Lebens mit HIV setzte, ist es zudem an der Zeit, dass wir uns unseres schwierigen Erbes, der vorzeitig beendeten Projekte, der unvollendeten Ideen, der abgebrochenen Karrieren erneut besinnen. Uns ihnen stellen, sie würdigen und kritisch hinterfragen – auch darauf, was sie uns für unser heutige Leben sagen können.
Statt weiterhin zu vergessen, zu verdrängen, könnten wir beginnen, uns dieser Verluste bewusst zu werden – und mit ihnen umgehen zu lernen.
Im Bewusstsein der ihnen innewohnenden Chancen und Hoffnungen für unsere eigene vielfältige und bunte Zukunft – und aus Respekt vor all denen, die gestorben sind.
Ulli Würdemann (52) hat Aids in allen Facetten miterlebt: die ersten Meldungen in den 1980ern, HIV-Diagnose 1986, seither Engagement in der Aidshilfe. 1996 totgesagt von den Ärzten, rettet ihn einer der ersten Proteasehemmer. Derzeit renoviert er mit seinem Mann Frank das Häuschen seiner Schwiegermutter am Stadtrand von Hamburg. Dort wollen die beiden zusammen alt werden. Auf der Baustelle sprach er mit aidshilfe.de.
Ulli, weißt du noch, wann du zum ersten Mal von Aids gehört hast?
Das war 1982 oder 1983, eine kleine Meldung in „Vermischtes“ der Süddeutschen Zeitung. Meine Reaktion war damals: Da sterben in Amerika ein paar Schwule an Krebs – was hat das mit mir zu tun? Irgendwann kam dann die Bezeichnung „Schwulenkrebs“ auf, HIV galt ja erst mal als reine Schwulenkrankheit. Seitdem war Sex für mich wieder mit Angst besetzt. Schon kurze Zeit später war es beinahe wie im Krieg: Fast jede Woche starben Freunde, Lover, Weggefährten. Ich dachte mir: Jetzt haben wir uns mit Müh und Not eine so große Freiheit erkämpft, auch eine große sexuelle Freiheit – und das nehmen sie uns nun alles weg!
Was genau drohte, verloren zu gehen?
In der Zeit vor Aids hatten wir ein „Ethos des Experimentierens“. Ich probierte damals wohl fast alles aus, wovon ich gehört und wozu ich Lust hatte. Schlimmeres als einen Tripper oder eine Syphilis gab es ja nicht. Wir erprobten die verschiedensten Lebensformen, zum Beispiel, was das Zusammenleben angeht. Dieses Ethos ist mit Aids den Bach runtergegangen. Heute gibt es relativ wenige Lebensstile, die unter uns Schwulen noch als gesellschaftlich konform gelten: irgendwo zwischen Safer Sex und Lebenspartnerschaft. Das empfinde ich als Rückschritt.
Wann hast du erfahren, dass du positiv bist?
Ich bin vor 25 Jahren gegen meinen Willen getestet worden. Mein Hausarzt meinte aus vermeintlicher Fürsorge, er müsse mal nachschauen, weil ich in diesem Jahr meine dritte Mandelentzündung hatte.
Wie bist du mit der Diagnose umgegangen?
Nach meinen ersten Erfahrungen mit Aidshilfe und Selbsthilfegruppen stellte ich es für mich beiseite. Ich wusste: Ich hab’s. Man konnte damals eh nichts machen. Ich ließ nur alle zwei Jahre meine Blutwerte checken, das war’s. Damals machte ich Karriere, kümmerte mich um mein Fortkommen. Das war eine Umgangsweise, die in mein Leben reingepasst hat. Für viele Positive ist das auch heute so: Verdrängung kann zu bestimmten Zeiten okay sein.
1995 und 1996 warst du dann wochenlang im Krankenhaus …
… wegen mehrerer Lungenentzündungen und einer Antibiotika-Allergie, die zu einem lebensbedrohlichen Lyell-Syndrom geführt hatte. Meine Haut warf große, entzündete Blasen und löste sich von meinen Beinen und Fußsohlen ab. Mein Immunsystem war völlig kaputt. Es war wirklich knapp bei mir. Es gab keine HIV-Medikamente mehr, die bei mir wirkten. Im Frühjahr 1996 sagte dann mein Arzt zu mir: Ich kann leider nichts mehr für dich tun. Ich spritz dich mit Cortison für zwei Wochen fit. Guck zu, dass du mit deinem Mann noch mal einen schönen Urlaub machst.
Hast du seinen Rat befolgt?
Ja, wir haben eine Kreuzfahrt im Mittelmeer gemacht und waren danach noch eine Woche in der Türkei, in einem Hotel direkt am Strand.
Wie ging es weiter?
Nach unserer Rückkehr wechselte ich die Klinik und kam zu einem tollen Arzt. Der hat sich dahintergeklemmt. Zuvor hatte ich selbst schon rausgefunden, dass in den USA gerade ein neues Medikament erprobt wurde: Crixivan, einer der ersten Proteasehemmer. Aber in eine Studie in Deutschland kam ich nicht rein, weil es mir schon zu schlecht ging. Mein Tod hätte den Forschern die Statistik versaut.
Wie bist du trotzdem an das Medikament rangekommen?
Mein Arzt besorgte es mir als Import, sobald es in den USA zugelassen war. Meine private Krankenkasse wollte das anfangs nicht zahlen. Sie übernahm die Kosten erst, nachdem Tex Weber von „Projekt Information“ – ihm ging es genauso schlecht wie mir – und ich beim Vorstand der Versicherung Druck gemacht hatten.
Crixivan hat dir das Leben gerettet.
Ja, schon nach drei Wochen hatte sich mein Befinden verbessert, und nach einiger Zeit zogen auch meine Blutwerte nach. Aber das Mittel hätte keinen Tag später kommen dürfen.
Als du wieder hoffen durftest, was waren deine ersten Ideen?
Ich glaube, ein toller Urlaub – Aquitaine oder Bretagne. Das ist eine sehr raue Landschaft, sie kommt meinem norddeutschen Naturell entgegen. Ich mag Frankreich und die Franzosen sehr. Sie haben schöne Strände und machen guten Sex (lacht). Das ist ein Klischee, aber es ist wirklich so.
Ab wann hast du es gewagt, wieder in die Zukunft zu planen?
Früher war ich ein Mensch, der weit vorausgeplant hat. Als Frank und ich uns kennenlernten, hatten wir beide schon Vorstellungen davon, wie unser Lebensweg aussehen könnte: ein Häuschen im Grünen, später vielleicht ein Umzug nach Südfrankreich, weil es dort wärmer ist. All das warf dieses Scheißvirus über den Haufen. Damals wurde mein gedanklicher Horizont immer enger. Heute fände ich es schick, wenn ich 70 Jahre alt würde. Aber ich plane nicht mehr so lange im Voraus. Gerade stecken wir viel Zeit und Energie in unser Haus, wo wir es uns gemütlich machen wollen. Aber sollten wir in einigen Jahren feststellen, dass das Haus zu klein oder Hamburg nicht unsere Stadt ist, dann machen wir halt was anderes! Wir planen viel flexibler als früher.
Was hat dir geholfen, die schwere Zeit durchzustehen?
Mein Mann, seine Mutter, mein bester Freund und natürlich mein Arzt. Ohne sie hätte ich gar nicht solange durchgehalten, bis die Pillen aus USA angekommen waren. Aber auch die Tatsache, dass ich mich immer selbst um mein Überleben gekümmert habe. Als ich merkte, dass meine Ärzte an Grenzen kamen und ich immer kränker wurde, fing ich an, Fachzeitschriften zu lesen und zu Kongressen zu fahren. Damals merkte ich, dass das auch andere interessiert. Deshalb machte ich selbst Veranstaltungen, zum Beispiel über neue Therapieansätze oder das Verhältnis zwischen Arzt und Patient.
Viele HIV-Patienten waren in den 90er Jahren besser informiert als ihre Ärzte.
Nicht unbedingt besser informiert, aber sehr gut. Es war und ist wichtig, informiert zu sein. Ein Patient sollte wissen, was Nebenwirkungen sind, und sollte kritisch nachfragen können. Nur so kann er zusammen mit dem Arzt eine gute Entscheidung treffen und sie dann auch richtig umsetzen.
Meinst du, die meisten HIV-Patienten machen das so?
Nein, aber die medizinischen Realitäten haben sich ja auch verändert. Bald stehen 30 verschiedene HIV-Medikamente zur Auswahl. Da ist es schwer, den Überblick zu behalten. Wer heute mit seiner Therapie anfängt, muss pro Tag vielleicht nur eine Pille schlucken. Patienten haben deshalb oft nicht den Bedarf, sich groß zu informieren. Aber später wird es dann schwierig, wenn zusätzliche Pillen kommen, wenn Resistenzen oder Nebenwirkungen wie Durchfälle auftreten.
Du lebst seit 29 Jahren mit deinem HIV-negativen Mann zusammen. Hast du manchmal noch Angst, Frank anzustecken?
Nein. Ich kann mich zwar an die ersten Zeiten erinnern, als wir uns fragten, ob wir dieselbe Zahnbürste benutzen dürfen. Aber solche Sorgen konnten uns die Ärzte schnell nehmen. Welche Alternative hätten wir denn gehabt? Wenn man weiß, dass man zusammen sein will, dann macht das keine Angst. Die Angst war eher: Was ist, wenn ich vor Frank sterbe?
Wenn du zurückblickst: hatten deine schlimmen Erfahrungen auch etwas Gutes?
Na klar, man wächst daran. Ich musste mich sehr früh mit Krankheit und Leid auseinandersetzen. Das war später hilfreich für mich. Ein Beispiel: Als meine Mutter an Krebs erkrankte, konnte ich mit ihr, aber auch mit ihrem Arzt umgehen. Ich hatte eine Ahnung, dass ich sie so annehmen musste, wie sie nun mal war. Bei ihr war es der klassische Fall: Jemand stirbt in ein paar Wochen, aber bekommt keine Morphiumpflaster gegen die Schmerzen, weil die süchtig machen könnten. Auf solche Situationen war ich damals vorbereitet: von den Fakten her, aber auch vom emotionalen Umgang damit.
Wie wichtig ist ein offener Umgang mit HIV?
Was das angeht, habe ich alles durch: vom Verdrängen übers Leugnen bis hin zum offensiven Umgang damit. Inzwischen ist das eine Selbstverständlichkeit für mich. Es gibt nur noch ganz wenige Situationen, wo ich es nicht sage.
Kannst du ein Beispiel nennen?
Wenn ich anonymen Sex habe. Dann schaue ich, dass ich mein Verhalten vor mir und dem anderen verantworten kann. Aber ich muss nicht immer sagen, hallo, ich bin positiv. Oft kommt es sonst nicht zum Sex, sondern zu einer Fluchtreaktion oder zu einem Beratungsgespräch, und das ist in dem Moment von beiden Seiten nicht beabsichtigt. Auch in anderen Situationen erzähle ich es nicht ungefragt. Aber wenn es jemand wissen will, dann sage ich es. Auf Versteckspiele habe ich keine Lust mehr.
Hast du inzwischen Routine in Sachen „positives Coming-out“?
Mir hat es damals sicher geholfen, dass ich vorher schon mein schwules Coming-out hatte. Ich wusste ungefähr, wem ich es erzähle und wie ich es sage, dass ich positiv bin – bei Freunden, Lovern und am Arbeitsplatz. Aber die Angst vor den Reaktionen kommt immer wieder mal. Ich glaube nicht, dass man da eine Routine entwickeln kann.
Interview: Philip Eicker
Zur Person: Ulli Würdemann ist einer der bekannten deutschen HIV-Aktivisten und bloggt auf seiner Website Ondamaris über das Leben mit HIV. Geboren wurde er 1959 in Delmenhorst. Würdemann ist Wirtschaftsingenieur und war früher Consultant für Transportbetriebe und Verkehrspolitik. Seit 1993 ist er wegen seiner HIV-Infektion berentet.
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(Dieses Interview hat Philip Eickler mit mir geführt für das DAH-Blog; auch online bei Matthias Gerschwitz; eine verkürzte Version erscheint auch im Hamburger CSD-Magazin)
Diese Nachricht ist „ein Hammer“, sie wird das Leben mit HIV wie auch die HIV-Prävention verändern.
„Studie abgebrochen“, diese Nachricht ist – aus verschiedensten Gründen – des öfteren zu hören. Dieser Abbruch allerdings wird weitreichende Konsequenzen haben.
Die Deutsche Aids-Hilfe geriet zunächst massiv in die Kritik, als sie die Ergebnisse des EKAF-Statements nicht nur wiedergab, sondern in ihrem Positionspapier (HIV-Therapie und Prävention – Positionspapier der Deutschen AIDS-Hilfe) auch zu einer Bewertung kam – die zur „Viruslast-Methode“ führte.
Beide dürfen sich nun im nachhinein bestätigt fühlen, durch eine randomisierte kontrollierte Studie.
Eine wirksame antiretrovirale Therapie verhindert eine HIV-Übertragung zu 96%, zeigt die jetzt vorzeitig abgebrochene Studie. Damit hat antiretrovirale Therapie eine Schutz-Wirkung wie Kondome (genau betrachtet, sogar eine bessere).
„Kondome schützen“, heißt es schon bisher, und dies gilt auch weiterhin. Nun ergänzt um „wirksame Pillen auch“.
Und bei beiden Methoden werden wir lernen müssen, ehrlicher umzugehen mit der Frage,was heißt „96%“, und wie gehen wir mit den verbleibenden vier Prozent um.
Und: nun gilt es umso mehr, sicherzustellen, dass HIV-Positive weltweit möglichst umfassend die Möglichkeit haben, diese Option zu nutzen – was auch heißt: antiretrovirale Therapie muss weltweit zu bezahlbaren Konditionen verfügbar sein.
Und: diese Option muss immer genau dies sein: eine Option, eine Handlungs-Alternative, zu der sich die Beteiligten informiert und frei entscheiden können. Ohne Druck, ohne Zwang zu „treatment as prevention“.
Pillen wirken, senken das Risiko einer HIV-Übertragung drastisch. HIV-Positive und HIV-Negative sowie Ungetestete dürfen sich freuen, über eine neue hochwirksame Möglichkeit, das Risiko von HIV-Übertragungen deutlich zu senken.
Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit Information von und für HIV-Positive, von Anfängen bei der ‚Virulent‚ über mehrere Auflagen „Wechselwirkungen“, MedInfo-Gruppe und Veranstaltungsreihe, HIV-Nachrichten und HIVlife bis nun seit einigen Jahren www.ondamaris.de
ondamaris hat sich in den fünf Jahren seines Bestehens stetig entwickelt von einem privaten Weblog mit gelegentlichen Posts zu einer Plattform mit werktäglich, oft häufiger neuen aktuellen Artikeln.Von einem privaten ‚Tagebuch‘ für einen kleinen Freundes- und Bekanntenkreis zu einer Site mit einer großen und aktiven Leser/innen-Schar, nahezu 2.000 Artikeln und über 7.000 Kommentaren.
Auf ondamaris finden sich Artikel mit hohen Leser-Zahlen im fünf- und sechsstelligen Bereich. Es finden sich Artikel und Kommentare, die zu Empörung und Aufregung Anlass waren. Texte, die zu intensiven Debatten und hitzigen Diskussionen führten. Artikel, die viel Aufmerksamkeit erregten – und hoffentlich zumindest in dem ein oder anderen Fall auch einige Dinge positiv in Bewegung brachten.
Angesichts dieser erfreulichen Entwicklung könnte man zufrieden zurück blicken, sich der Grimm’schen Märchen erinnern („… und lebten sie glücklich bis an das Ende ihrer Tage“) und gelassenen Blickes mit einem „weiter so“ zur Tagesordnung übergehen.
Aber halt.
Ist das wirklich alles?
Reicht ein einfaches „weiter so“?
Bedeutet ein „weiter so“ letztlich nicht auch Stagnation, Stillstand?
Reicht mir, reicht euch, reicht uns das für die kommenden Jahre?
Brauchen wir nicht mehr, Neues?
Und: wollen – und können wir nicht auch viel mehr?
Ich denke, nach fünf erfolgreichen Jahren ist es an der Zeit, für ondamaris gemeinsam nach neuen Wegen zu suchen, und sie wo möglich auch gemeinsam zu gehen.
Konkret heißt das:
Ich kann mir vorstellen, aus dem heutigen eher ‚persönlichen Projekt‘ ondamaris ein Medium und Meinungs-Forum von und für HIV-Positive und unsere Communities weiter zu entwickeln, ein Gemeinschaftsprojekt für die Zukunft.
Ich möchte diese Idee, diesen Vorschlag zur Diskussion stellen.
Wie kann die Zukunft von ondamaris aussehen?
Wie soll ondamaris sich weiter entwickeln?
Was fehlt, was kann besser oder anders werden?
Wie und wo hast du Lust dabei mitzumachen?
Wie können wir gemeinsam ondamaris als HIV-positive Informations- und Meinungs- Plattform auf eine noch breitere Basis stellen?
Ich bin gespannt auf eine Debatte und viele Anregungen und Ideen „in ondamaris-eigener Sache“ – hier in den Kommentaren, per Email an mich oder gern auch persönlich 🙂
Die Therapie der Hepatitis C steht vor großen Umbrüchen – große Wirksamkeit bei wesentlich weniger Nebenwirkungen als bisherige Therapien. Doch – HIV-Positive sind meist immer noch ausgeschlossen.
Gleich mehrere neuen Substanzen werden derzeit in Phase-III-Studien gegen Hepatitis C getestet. Die bisherigen Ergebnisse sind sehr erfolgversprechend. Sie lassen hoffen, dass letztlich nicht nur bestehende Therapien gravierend verbessert werden können – sie lassen schon bald möglich erscheinen, dass eine Behandlung der Hepatitis C ganz ohne das (nicht eben nebenwirkungsarme) Interferon auskommen könnte (siehe entsprechende Investoren-‚Befürchtungen‘, (3)).
HIV-Positive haben ein erhöhtes Risiko, sich mit Hepatitis C zu infizieren. Und bei HIV-Positiven, die mit Hepatitis C ko-infiziert sind, besteht ein Risiko, dass die Hepatitis-C-Infektion schneller fortschreitet als bei einer singulären HCV-Infektion.
Doch – genau diese Menschen mit HIV sind aus Studien mit neuen Medikamenten gegen Hepatitis C derzeit meist prinzipiell ausgeschlossen.
So zeigt eine Suche im neuen ‚EU Clinical Trials Register‚ beispielhaft an einer Phase-III-Studie des Hepatitis-C-Proteasehemmers Telaprevir Studie (EudraCT Number: 2010-021628-84):
„Principal exclusion criteria:
…
18. Subject has human immunodeficiency virus (HIV) or hepatitis B virus (HBV) co-infection.“
Zwar gibt es inzwischen Studien, die HCV-Proteasehemmer bei HIV-Positiven untersuchen (erste Daten wurden auf der CROI 2011 vorgestellt, siehe (1)) – aber nur vereinzelt. Und erste Studien zeigen, dass dieser Medikamente auch bei HIV-Positiven gut wirken – ein Grund weniger, HIV-Positive zukünftig weiterhin aus Studien auszuschließen. Zudem wurden erste Daten zu Wechselwirkungen mit HIV-Medikamenten vorgestellt (2). Ein weiterer Grund weniger.
Dieser Ausschluss ist mit Gründen erfolgt – und sicher nicht mit diskriminierender Absicht.
So ist eine Behandlung beider Infektionen (Hepatitis C und HIV) komplizierter als die Behandlung einer einzigen Infektion. Und die Interpretation von Studien-Ergebnissen könnte sich als komplizierter erweisen. Über Wechselwirkungen zwischen HIV-Therapie und den neuen Hepatitis-C-Substanzen ist (naturgemäß) noch wenig bekannt.
Doch – rechtfertigt all dieses tatsächlich, Menschen mit HIV generell von Studien mit erfolgversprechenden Hepatitis-C-Medikamenten auszuschließen ?
Rechtfertigt dies, ihnen dadurch – für sie besonders wichtige – Behandlungs – Optionen weiter vorzuenthalten ?
Rechtfertigt dies einen prinzipiellen Ausschluss bei einer ganzen Gruppe, die ein erhöhtes Risiko einer Infektion mit Hepatitis C hat? Und die zudem ein erhöhtes Risiko einer schneller fortschreitenden Erkrankung hat ?
Forscher und Sponsoren müssen sich fragen lassen, ob dieser prinzipielle Ausschluss noch zu verantworten ist.
Zulassungsbehörden wie auch Ethik-Kommissionen müssen sich fragen lassen, ob dieser prinzipielle Ausschluss noch vertretbar ist.
Doch – letztlich wird sich vermutlich hieran nichts ändern, solange HIV-Positive, die auch mit Hepatitis C ko-infiziert sind, nicht selbst „den Arsch hoch bekommen“, Druck machen, sich selbst engagieren und für ihre Rechte und Gesundheit kämpfen …
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Danke an Armin Schafberger (DAH) und Kees Rümke (Hiv Vereniging Nederland) für Hinweise!
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„Warum soll ich mich als HIV-Positiver engagieren – ich hab mit ‚denen‘ ja doch nur drei Buchstaben, nur dieses Virus HIV gemeinsam.“ Dieser Satz ist so oder ähnlich oft zu hören, wenn es um Engagement und HIV-positive Selbsthilfe geht. Nur – stimmt er? Verbinden uns wirklich ’nur drei Buchstaben‘?
HIV und Aids sind heute, beinahe 30 Jahre nach dem Beginn der HIV-Epidemie, anders als ‚damals‘ in den 1980er und 1990er Jahren. Die Hoffnungs- und Aussichtslosigkeit, das gemeinsame Erfahren von Leid, Schmerz und Trauer ist so heute nicht mehr.
Viele HIV-Positive erleben ihre HIV-Infektion heute eine zwar potentiell schwere, aber behandelbare chronische Krankheit. Gut so – das wollten wir immer haben!
Aber – ist das alles? Können wir uns nun zurück lehnen und sagen ‚Alles in Ordnung‘?
Ja, scheinen viele zu denken.
Armin Traute, ehemaliger HIV-Referent und später Geschäftsführer der Berliner Aids-Hilfe sowie Dipl.Psych. und bis Dezember 2010 langjähriger Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen, macht sich Gedanken über HIV-positive Selbsthilfe. Traute spricht in einem Artikel Ende 2010 vom Zusammenhang zwischen Selbsthilfe und Grad der Erkrankung („Grenzen von Selbsthilfe“, in: „25 Jahre Herzblut – Berliner Aids-Hilfe e.V.“) und konstatiert
„Wer als HIV-Betroffener ‚gesund‘ ist (damit ist ein körperliches und psychisches Wohlbefinden und ein funktionierendes soziales Netz gemeint), findet heute kaum mehr seinen Weg in eine Selbsthilfegruppe.“
Traute formuliert auch einen möglichen Grund. Er postuliert:
„Selbsthilfe funktioniert nicht, wenn die Betroffenen – oder die Akteure der Selbsthilfe – zu krank oder bedürftig sind und wenn sie zu gesund sind.“
Trautes Aussage klingt zunächst einleuchtend. Wer nicht krank ist (ob subjektiv oder objektiv), warum sollte der sich in Selbsthilfe engagieren?
Ist Selbsthilfe HIV-Positiver also ein ‚Opfer des medizinischen Erfolgs‘?
Doch – so einleuchtend er scheinen mag, der Gedanke, Selbsthilfe (allein) vom medizinischen Zustand abhängig zu machen, mag für manche Erkrankungen gelten – nicht für HIV. Die HIV-Infektion ist (wie nicht zuletzt Susan Sontag mehrfach aufgezeigt hat) eben nicht nur ein medizinisches Syndrom, sondern auch sozial, politisch.
Und diese Erfahrung machen viele von uns auch alltäglich:
oder ‚einfach nur‘ der attraktive Mann, die attraktive Frau, der / die plötzlich doch kein Interesse mehr hat, nachdem sie/er von HIV erfahren hat,
oder die Angst, die Eltern / die Nachbarn / die Freuden / der Arbeitgeber / die Kollegen könnten ‚davon‘ erfahren,
usw usw …
All diese Probleme mit Ärzten, Versicherungen, Arbeitgebern, all die Befürchtungen und Ängste vor Reaktionen unserer Umwelt, reale wie gefürchtete Stigmatisierung und Diskriminierungen, sie existieren – aufgrund von HIV, aufgrund unserer HIV-Infektion. Sie existieren oft auch unabhängig davon, wie unser Gesundheitszustand ist, und weitgehend unabhängig davon, wie behandelbar HIV ist.
HIV-infiziert zu sein bedeutet in der Realität eben wesentlich mehr als „nur“ die medizinische Tatsache der HIV-Infektion. Ob wir wollen oder nicht, und ob wir offen mit unserem Serostatus umgehen oder nicht, immer ist da ein ganzer Komplex an weiteren Themen mit im Gepäck, zwangsläufig, unvermeidbar.
Ja – uns verbinden drei Buchstaben: H, I und V.
Und uns verbinden all die Konsequenzen, die aus diesen drei Buchstaben potentiell resultieren, die wir befürchten, mit denen wir uns ob wir wollen oder nicht im Alltag auseinander setzen müssen.
HIV ist eben mehr als „nur diese drei Buchstaben“.
Und wenn wir mit diesen Konsequenzen besser, anders umgehen wollen, wenn wir unsere Situation verbessern wollen, dann hilft nur eins: zusammen arbeiten, gemeinsam handeln. Aus vielen einzelnen ‚ichs‘ ein schlagkräftiges und engagiertes ‚wir‘ machen.
‚Bugchasing‘ – die erste Folge der neuen Reihe „Wild Germany“ auf ZDF neo befasste sich am 12.2.2011 mit Menschen, die behaupten sich absichtlich mit HIV infizieren zu wollen. Und fand keine.
Samstag, 12. Februar 2011,22:15. Der ZDF-Kanal ’neo‘ startet eine neue Reportage-Reihe „Wild Germany“. Thema der ersten Folge der neuen Reihe: HIV – oder genauer Menschen, die behaupten, sich absichtlich mit HIV infizieren zu wollen: „Manuel Möglich will wissen, ob dieses Phänomen wirklich existiert und was einen gesunden Mann dazu bringen kann, todkrank sein zu wollen“, hatte ZDF neo seine Sendung über ‚bugchasing‘ angekündigt.
Der journalistische Anspruch war in der Ankündigung hoch gehängt: „Manuel Möglich begegnet seinen Gegenübern auf Augenhöhe, ohne die journalistische Distanz zu verlieren“, hatte ZDF neo angekündigt. „Die Reportagen sind mehr als ein Szeneeinblick, sie sind vielmehr ehrliche Porträts von Deutschlands Städten und Dörfern. Darin werden Menschen und ihre Geschichten so gezeigt, wie sie sind.“ (Quelle)
Die 30-minütige Sendung beginnt mit einem kurzen Interview mit Dr. Uli Marcus (Robert-Koch-Institut). Er bemüht sich, potentielle Motive für ‚Bugchasing‘ zu erläutern, das Phänomen und mögliche Beweggründe verständlicher zu machen.
Dann geht es ab ‚auf die Piste‘ – in schwules Tag- und Nachtleben, auf der Suche nach dem unbekannten Bugchaser. Berichte aus der Schwulen-Szene in Berlin und in Leipzig – mit Kommentaren wie „sie spielen russisches Roulette“ und „es geht um Leben und Tod“.
Claude wird interviewt, ein HIV-positiver schwuler Mann aus Berlin, der offen und reflektiert über sein Sexleben berichtet. Anschließend kommentiert der Reporter, der eben noch so verständnisvoll war, voller Entrüstung „Claude ist aidskrank und veranstaltet trotzdem [sic!] Sexparties“.
Weiter geht es nach Leipzig. Nach Gesprächen mit zwei Leipziger Schwulen der Versuch, eine schwule Sexparty zu besuchen. Angezogen und mit Kamera wird der Zutritt verwehrt – der Reporter zieht sich aus, um doch auf die Sexparty zu kommen, ohne Kamera. Wieder heraus, berichtet er der Kamera. Er habe sich „völlig verängstigt“ gefühlt, sei „schockiert“. Er wäre in einem „echt fiesen Keller“ gewesen, dort wären „alle völlig nackt“ und „komplett rasiert, jeder zweite mit nem Cockring“. Ein Gast habe sich „fies einen runtergeholt“ – immerhin, „ich bin nicht direkt angegrabbelt worden“.
Am nächsten Tag besucht der ‚Reporter‘ mit Wirt und Kamera den gleichen Laden tagsüber, ohne Gäste. Die Kamera zeigt einen Gyn-Stuhl, dann einen Sling – mit begleitender Grusel-Musik und einem verzweifelt dreinschauenden Reporter, der von „Geisterbahn-Feeling“ spricht. „Bezahlen um HIV-positiv zu werden“, kolportiert der ‚Bericht‘ via Interview gen Schluss noch Kneipen-Gerüchte über Freier, die Sex mit positiven Sexworkern suchen, verkauft sie unhinterfragt als bare Münze.
Und das Resümee?
„Fakt ist, Bugchaser gibt es“ wird drohend konstatiert. Sexparties werden pauschal als ‚Motor der Infektion‘ bezeichnet und ‚Realtitätsverlust‘ bei Schwulen konstatiert. Auf Basis zweier kurzer und bei weitem nicht repräsentativer kurzer Blicke in Ausschnitte vom schwulem Leben stellt der Reporter entrüstet fest: „HIV und Aids scheinen ihren Schrecken völlig verloren zu haben – Wahnsinn!“
Einen „bugchaser“ allerdings, Thema der Sendung, hat der Reporter letztlich nicht finden können. Kein Wunder, mag der halbwegs Informierte denken – schließlich sind Experten sich seit langem einig, dass es sich hier – wenn überhaupt existierend – aus epidemiologischer Sicht um ein absolutes Rand-Phänomen handelt. Was in der ‚Reportage‘ (trotz interviewtem Epidemiologen) jedoch nicht gesagt wurde. Warum nicht?
Kein ‚bugchaser‘ also. Weil der Film aber nicht ohne Pseudo-Skandal auskommen kann, wurde ein anderer Aufhänger, Aufreger gesucht. Nur wo? Zusammengefasst: der Reporter scheint, den Eindruck kann man als Zuschauer gewinnen, den dann eigentlichen Skandal darin zu sehen, dass HIV-Positive Sex haben. Und dass sie auch Sex mit ungetesteten oder HIV-negativ getesteten Sexpartnern haben.
Nur – worin soll der Skandal liegen, wenn Menschen miteinander einvernehmlich Sex haben? Der Reporter nimmt vorgreifend schon zu Beginn die Gesundheitsökonomie zu Hilfe – die monatlichen Behandlungskosten im Fall einer Infektion. Worin die Konsequenz seines Gedankengangs letztlich liegt, lässt er unausgesprochen. Der Zuschauer kann (soll?) sich seinen Teil denken: soll ‚denen‘ vielleicht doch einfach der Sex verboten werden?
Nach der Sendung standen zwei Experten der Aids-Hilfe Mainz im Chat für Fragen zur Verfügung. Welche Fragen sie wohl gestellt bekamen?
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‚Bugchasing‘ – Menschen, die sich wissentlich, absichtlich mit HIV infizieren (oder als vermeintliche ‚Pozzer‘ andere infizieren) – diese ‚urbane Nachtleben-Legende‘ wird immer wieder gerne von gewissen Medien hervorgeholt.
Menschen zu zeigen „so wie sie sind“ und „ohne die journalistische Distanz zu verlieren“- ist die Sendung ihrem selbst gewählten Anspruch gerecht geworden? Oder hat die ‚Reportage‘ eher ein Zerr-Bild von HIV-Positiven und allgemein von schwulen Männern gezeichnet, das mit der Realität äußerst wenig zu tun hat? Sich gar am Stricken von Virus-Mythen beteiligt?
Muss sich die Reportage zudem fragen lassen, ob sie letztlich unterschwellig homophobe Hetze gegen Schwule betreibt?
Der ‚Reporter‘ bemüht sich, auf seine Interviewpartner einzugehen – solange sie ihm gegenüber stehen. Aus dem Off kommen hinterher Kommentare wie ‚Claude ist es egal, ob andere sich infizieren‘ – obwohl Claude sich abwägend, überlegt geäußert hat. Der Reporter geht – in Unterhose, Respekt, mit Einsatz für die Recherche – auf eine Sex-Party. Und ist hinterher entrüstet über nackte Männer – was hat er erwartet, auf einer Sexparty?
Zudem, bei allem Bemühen um den Eindruck von Verständnis, der ‚Reporter‘ vermag sich seiner eigenen Meinung in der konkreten Situation oft nicht zu enthalten – „totaler Irrsinn“ kommentiert er direkt in der Situation. Dies scheint zum Konzept der Reihe zu gehören. Und wirkt doch nur wie billige Effekthascherei, verbunden mit viel ‚erhobenem Zeigefinger‘.
Werden hier Interviewpartner um Stellungnahme gebeten aus ehrlichem Interesse, um ein Thema zu ergründen – oder werden sie vorgeführt, ‚ausgebeutet‘ als Staffage für eigene schon vorher geplante Aussagen oder Werturteile (‚exploitation‚)? Ist dies tatsächlich investigativer Journalismus? Oder nur eine weitere Form von ‚Provo-Infotainment‘? Letztlich auch auf dem Rücken von Schwulen und von HIV-Positiven?
Serophobie, unreflektierte Angst vor Positiven – dies zu schüren, der Verdacht bleibt nach dieser Sendung.
Serophobie, die zudem noch den Beigeschmack der Homophobie hat – kann (soll?) der Zuschauer doch den Eindruck gewinnen, die jährlich ca. 3.000 Neuinfektionen mit HIV in Deutschland fänden ‚freiwillig‘ statt, wissentlich und gar absichtlich. Diese verantwortungslosen Schwulen … dies suggeriert meines Erachtens der Film nur notdürftig verhüllt. Nicht nur Serophobie, dunkelste Homophobie scheint durch.
Was bleibt als Resümee der ‚Reportage‘? Kein Erkenntnisgewinn. Kein Bugchaser gefunden. Niemand, der sich absichtlich mit HIV infizieren will.
Es bleibt allerdings der Beigeschmack der Sendung – ‚vorgeführte‘ Interviewpartner, und gehäuft Homo- und Serophobie. Gut zumindest, dass diese Sendung nur in einem digitalen Spartenkanal zu sehen war …