HIV-Therapie und Prävention – Positionspapier der Deutschen AIDS-Hilfe

Die Veröffentlichung des sogenannten EKAF-Statements 2008 hat viele Diskussionen ausgelöst. Die Deutsche Aids-Hilfe e.V. (DAH) hat hierzu ihre Position zum Thema HIV-Therapie und Prävention abschließend entwickelt. Diese Position im Folgenden als Dokumentation:

HIV-Therapie und Prävention – Positionspapier der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. (DAH)

April 2009

1. Die HIV-Therapie ist ein wichtiges Element des Risikomanagements und kann zur Entstigmatisierung von Menschen mit HIV beitragen

Die antiretrovirale Therapie (ART) hat die Lebenserwartung von Menschen mit HIV deutlich erhöht und die Lebensqualität vieler Positiver wesentlich verbessert. Sie hat darüber hinaus einen wichtigen primärpräventiven Nebeneffekt: das Ansteckungsrisiko wird deutlich vermindert.

Eine Übertragung bei sexuellen Kontakten ohne Kondom ist unwahrscheinlich (1), wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
– die Viruslast des HIV-positiven Partners/der HIV-positiven Partnerin ist seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze,
– die antiretroviralen Medikamente werden konsequent eingenommen,
– bei den Sexualpartnern/-partnerinnen liegen keine Schleimhautdefekte z.B. als Folge sexuell übertragbarer Infektionen vor.

Das heißt: Das Risiko einer HIV-Übertragung ist unter den oben genannten Bedingungen so gering wie bei Sex unter Verwendung von Kondomen.

Unsere bisherigen Safer-Sex-Botschaften werden durch diese Aussage sinnvoll und wirksam ergänzt; in der Prävention eröffnen sich dadurch neue Möglichkeiten.

1.1 Information als Grundlage für Kommunikation, selbstbestimmtes und verantwortungsvolles Handeln

Die Information, dass eine HIV-Übertragung bei sexuellen Kontakten mit HIV-Positiven unter den oben genannten Bedingungen unwahrscheinlich ist, ist nicht nur für das Risikomanagement (und damit für die Primärprävention) wichtig, sondern kann für Menschen mit HIV und Aids eine Erleichterung und Verbesserung ihrer Lebenssituation und -perspektiven bedeuten, weil sie den Abbau irrationaler Ängste ermöglicht, wie Delegiertenrat und Vorstand der DAH Anfang März 2008 in einer Erklärung betonten. (2) Das gilt auch für HIV-Negative und Ungetestete, etwa Partner/innen in serodifferenten Partnerschaften (3), (weitere) Sexpartner/innen oder Familienangehörige.

Als Selbsthilfeorganisation der von HIV und Aids besonders Bedrohten und Betroffenen und als Präventionsorganisation begrüßt die Deutsche AIDS-Hilfe daher, dass die schweizerische Eidgenössische Kommission für Aidsfragen (EKAF) am 30. Januar 2008 das Positionspapier „HIV-infizierte Menschen ohne andere STD sind unter wirksamer antiretroviraler Therapie sexuell nicht infektiös“ veröffentlicht hat. Die EKAF hat diese Information, die bis dahin „unter der Hand“ bereits kommuniziert wurde (vor allem in der Beratungspraxis), zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion, der Kommunikation unter (Sex-)Partnerinnen und -Partner und zu einem Thema für die Aufklärung gemacht.

Indem die DAH nun ihr eigenes Positionspapier veröffentlicht, verfolgt sie das in ihrem Leitbild formulierte Ziel, „dass die Gesellschaft als Ganze und jede und jeder Einzelne informiert, selbstbestimmt und verantwortungsvoll mit den Risiken von HIV/Aids … umgehen kann“. (4)

1.2 Wie sicher ist sicher genug?

Die DAH verfolgt einen Ansatz der lebensweltorientierten Prävention und Gesundheitsförderung. Das heißt unter anderem: Präventionsbotschaften müssen „lebbar“, also möglichst stabil und einfach umsetzbar sein. In der Frühzeit der HIV-Prävention hat sich die DAH daher für die Propagierung von „Safer Sex“ entschieden. „Safer“ steht in diesem Zusammenhang dafür, dass die Befolgung der empfohlenen „Safer-Sex-Regeln“(5) eine HIV-Übertragung unwahrscheinlich macht und insofern „sicherer“ als ungeschützter Sex ist, aber keinen völlig sicheren Schutz vor einer Infektion bieten (den es nur bei Abstinenz gäbe). Das vor allem im angelsächsischen Raum verbreitete Konzept „Safe Sex“ (durch Abstinenz oder Vermeidung jeglichen Kontakts mit Körperflüssigkeiten (6)) dagegen hielten und halten wir nicht für lebensnah und nicht für wirksam, weil es die sexuellen Bedürfnisse und die Lust ignoriert.

Safer Sex heißt also: Es besteht ein Restrisiko (siehe 3.), das es aus Sicht der DAH zu benennen gilt. Ob der oder die Einzelne es akzeptiert, ist allerdings seine oder ihre autonome Entscheidung. Aufgabe der Prävention ist es, die nötigen Informationen für die Kommunikation über dieses Risiko und für das individuelle Risikomanagement zielgruppengerecht und an den Interessen der Zielgruppen orientiert bereitzustellen. Das gilt in gleicher Weise für andere Strategien der Risikominimierung oder Risikominderung, über deren (ggf. auch irrtümlich angenommene) Wirksamkeit und Schwächen die DAH ebenfalls umfassend informiert – auch dann, wenn sie eine geringere Schutzwirkung und Sicherheit als die klassischen Safer-Sex-Regeln bzw. eine stabil unter der Nachweisgrenze liegende Viruslast bei gleichzeitiger Abwesenheit von Schleimhautdefekten bieten: Wir vertreten den Standpunkt, dass auch „Besser-als-nichts-Strategien“ wichtige Pfeiler im Köcher der Prävention sind. Insbesondere in bevölkerungsbezogener Sicht kann eine sehr sichere Strategie (z. B. Safer Sex) nämlich sehr unsicher werden, wenn die Anwendung nicht konsequent gelingt (und umgekehrt kann eine Schutzstrategie mit beschränkter Effektivität, aber konsequenter Anwendung, die Zahl der HIV-Übertragungen senken helfen). (7) Darüber hinaus wissen (und verteidigen) wir, dass maximal präventives Verhalten nicht immer das Ziel individuellen Risikomanagements ist, sondern dass Menschen je nach Situation und Disposition z. B. den Lustgewinn und die Folgen einer möglichen Infektion gegeneinander abwägen. (8)

1.2.1 Neutrale Informationen oder Empfehlungen?

Die Deutsche AIDS-Hilfe bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Präventionsorganisation mit öffentlichem Auftrag und Selbsthilfe- sowie Interessenvertretungsorganisation. Während aus Perspektive der Selbsthilfe und Interessenvertretung die Befähigung zum selbstverantwortlichen Umgang mit den Risiken sowie die Stärkung und der Schutz der Autonomie im Zentrum stehen, ist das vorrangige Ziel aus Sicht der New Public Health die möglichst weitgehende Vermeidung von HIV-Übertragungen.

Von öffentlicher Seite (und auch aus den Zielgruppen unserer Arbeit) erwarten viele Menschen daher von der DAH nicht nur neutrale Informationen, sondern auch Empfehlungen. Ein solches Vorgehen entspricht auch unserem Selbstverständnis als bundesweites Netzwerk der Kompetenzen für die strukturelle Prävention und Gesundheitsförderung im Kontext von HIV und Aids – in dieser Rolle sehen wir es als unsere Aufgabe, Informationen im Licht der strukturellen Prävention und an den Interessen und Lebenswelten der Menschen aus unseren Zielgruppen zu bewerten. Entscheidend dabei ist aber, dass auch Empfehlungen die Autonomie des oder der Einzelnen nicht verletzen dürfen.

Empfehlungen können indes immer nur allgemeiner Art sein. Neben der Informationsaufbereitung und -vermittlung sind daher das Angebot vertiefender Kommunikation und individueller Beratung für uns zentral.

1.3 Selbstbestimmt heißt: freiwillig und ohne Zwang!

Respekt vor der autonomen Entscheidung des oder der Einzelnen gebietet nicht nur, die verfügbaren Informationen zum Risikomanagement unverkürzt und zielgruppengerecht zu verbreiten, sondern auch, Versuchen entgegenzutreten, das Individuum zu „maximal präventivem Verhalten“ zu drängen. Das heißt konkret: So, wie die Entscheidung für oder gegen den Kondomgebrauch in der Hand des Individuums liegt, so liegt auch die Entscheidung, ob und wann mit einer antiretroviralen Therapie begonnen wird, beim Menschen mit HIV. Hier darf kein Druck und kein Zwang ausgeübt werden (z. B., aus primärpräventiven Gründen mit einer Behandlung zu beginnen).

1.4 Selbstverantwortung, Mitverantwortung und Verantwortung für andere

Die Entscheidung über das individuelle Risikomanagement (und damit über die Nutzung der angebotenen Informationen bzw. die Umsetzung von Empfehlungen) liegt beim Individuum. Wir sehen den Einzelnen und die Einzelne dabei allerdings nicht allein mit dieser Verantwortung, sondern sehen immer auch die Mitverantwortung der anderen – insbesondere dann, wenn die Partner/innen hinsichtlich ihres Wissens, Wollens, Fühlens und Könnens nicht auf gleicher Augenhöhe sind.

Um selbstbestimmt entscheiden und verantwortlich handeln zu können, braucht der und die Einzelne aber – neben ausreichenden Informationen – auch entsprechende Kompetenzen und Ressourcen sowie Akzeptanz und Solidarität. Die Schaffung von Strukturen und Verhältnissen, in denen solche Kompetenzen erworben werden können und solche Ressourcen zur Verfügung stehen, fordert die DAH von Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft ein. Das gilt auch für Akzeptanz und Solidarität: Um sie zu fördern, muss die sogenannte Allgemeinbevölkerung nicht zuletzt auch über den aktuellen Wissensstand zu Strategien des Risikomanagements informiert werden.

2. Botschaften

Die zentrale Botschaft lautet:

Bei sexuellen Kontakten ohne Kondom mit einem/einer HIV-positiven Partner/in ist eine HIV-Übertragung unwahrscheinlich, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
-Die Viruslast des HIV-positiven Partners/der HIV-positiven Partnerin ist seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze,
– die antiretroviralen Medikamente werden konsequent eingenommen,
– bei den Sexpartnern/-partnerinnen liegen keine Schleimhautdefekte (z. B. als Folge sexuell übertragbarer Infektionen) vor.

2.1 (Weitere) Botschaften und Erläuterungen für HIV-Positive mit nicht nachweisbarer Viruslast

Unter „HIV-Positiven mit nicht nachweisbarer Viruslast“ verstehen wir im Folgenden Menschen mit HIV, die sich einer wirksamen ART unterziehen und deren Viruslast sich seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze befindet. Eine wirksame Therapie führt dazu, dass die Viruslast im Blut, im Sperma und in den Schleimhäuten unter die Nachweisgrenze sinkt, wodurch auch eine Ansteckung der Sexpartner/innen unwahrscheinlich wird.

Geschwüre oder Entzündungen der Schleimhäute am Penis, im Darm oder in der Scheide bei einem/einer der Sexpartner/innen – vor allem durch sexuell übertragbare Krankheiten wie Syphilis und Herpes – erhöhen dieses Risiko wieder, weil sich in geschädigter Schleimhaut HIV anreichert und sie außerdem durchlässiger für HIV ist. Das Risiko für den HIV-negativen Partner wird unwägbar. Bis zur Ausheilung sollte wieder Sex mit Kondom praktiziert werden (bzw. ohne dass HIV in den Körper/auf Schleimhäute gelangt).

Im Übrigen gilt: Bei auffälligen körperlichen Veränderungen, die auf eine sexuell übertragbare Krankheit hindeuten könnten, sollte man sich ärztlich untersuchen und gegebenenfalls behandeln lassen. Auch die Partner/innen sollten informiert werden, damit sie sich ebenfalls untersuchen und gegebenenfalls behandeln lassen können.

Bis zum erfolgreichen Abschluss einer STD-Behandlung lautet die Empfehlung „Sex mit Kondom“.

2.1.1 Botschaften für feste Partnerschaften mit HIV-Negativen oder Ungetesteten

Taucht in festen Partnerschaften zwischen HIV-Positiven mit nicht nachweisbarer Viruslast und HIV-Negativen oder Ungetesteten das Thema „Sex ohne Kondome?“ auf, so empfehlen wir folgende Vorgehensweise:
– die Beschäftigung mit den dazu vorliegenden Informationen (Unterstützung und Beratung dazu bieten z. B. die Aidshilfen, aber auch behandelnde Ärztinnen und Ärzte und Mitarbeiter/innen weiterer Beratungsstellen), sodass die Grundlagen für eine informierte Entscheidung gegeben sind,
– die Kommunikation über diese Informationen,
– eine gemeinsame Entscheidung, mit der beide gut leben können, sowie in der Folge
– die regelmäßige Einnahme der HIV-Medikamente und der regelmäßige Besuch beim Arzt/bei der Ärztin, um die Wirksamkeit der Medikamente und die Abwesenheit von Schleimhautdefekten zu überprüfen.

2.1.2 Botschaften für Gelegenheitskontakte

Beim Sex mit Gelegenheitspartner(inne)n empfiehlt sich weiterhin die Verwendung von Kondomen, da die Bedingungen der regelmäßigen STD-Kontrolle (um die Abwesenheit von Schleimhautdefekten bei beiden Partnern/Partnerinnen zu überprüfen), der Kommunikation und der gemeinsamen Entscheidung hier in der Regel nicht gegeben sind.

Positiven mit sexuellen Gelegenheitskontakten neben ihrem/ihrer festen Partner/in empfehlen wir eine regelmäßige Kontrolle auf sexuell übertragbare Krankheiten, da diese häufig ohne auffällige Symptome verlaufen (bzw. da Symptome häufig nicht bemerkt werden) und oft nur durch ärztliche Untersuchungen bzw. im Labor festgestellt werden können.

2.2 Botschaft für HIV-Positive mit nachweisbarer Viruslast, für Ungetestete und HIV-Negative

HIV-Positiven mit nachweisbarer Viruslast, Ungetesteten und HIV-Negativen empfehlen wir – inbesondere bei sexuellen Gelegenheitskontakten – weiterhin die Befolgung der Regeln „Anal- und Vaginalverkehr mit Kondom“ und „Kein Blut/Sperma in den Körper oder auf Schleimhäute gelangen lassen“.

Für Partnerschaften zwischen HIV-Negativen oder Ungetesteten und HIV-Positiven mit nicht nachweisbarer Viruslast gelten die unter 2.1 und 2.1.1 gemachten Aussagen.

Taucht in festen Partnerschaften zwischen HIV-Negativen und/oder Ungetesteten die Frage „Sex ohne Kondom?“ auf, gelten die bisherigen Empfehlungen. (9)

2.3 Exkurs: Botschaften für HIV-Positive mit HIV-positiven Sexpartner(inne)n

Beim Sex zwischen HIV-positiven Partner(inne)n steht die mögliche Übertragung von anderen STDs oder einer Hepatitis C im Mittelpunkt des präventiven Handelns. Da manche STDs bzw. die Hepatitis C bei Menschen mit HIV schneller und schwerer verlaufen können, empfehlen wir ihnen, sich mindestens zweimal jährlich auf diese Krankheiten untersuchen zu lassen.

Um eine „Superinfektion“ (d. h. die Übertragung einer Virusvariante auf den Partner/die Partnerin bzw. die Ansteckung mit einer Virusvariante des Partners/der Partnerin) zu verhindern, reicht die wirksame Therapie eines Partners aus. Möglich (aber epidemiologisch nicht relevant) ist eine Superinfektion, wenn beide Partner/innen unbehandelt oder in einer Therapiepause sind. Nachteilig kann eine Superinfektion werden, wenn dabei medikamentenresistente Viren übertragen werden.

2.4 Besonderheiten bei Drogengebraucher(inne)n

Die erweiterten Präventionsbotschaften, die natürlich auch für Drogengebraucher/innen gelten, beziehen sich ausschließlich auf die sexuelle HIV-Übertragung. Beim Drogengebrauch gilt nach wie vor, dass eine Übertragung bei der gemeinsamen Benutzung von Spritzen und Kanülen erfolgen kann. Zwar ist davon auszugehen, dass auch hier das Risiko gesenkt wird, wenn die Viruslast unter der Nachweisgrenze liegt. Allerdings können die Ergebnisse der Studien zur sexuellen Transmission von HIV nicht auf die Transmission bei intravenösem Drogengebrauch übertragen werden, denn bei der sexuellen Übertragung stellt die intakte Schleimhaut eine Barriere gegen HIV dar, während es eine solche Barriere beim intravenösen Drogengebrauch nicht gibt. Daher gelten die Präventionsbotschaften (Safer-Use-Empfehlungen) in diesem Bereich unverändert weiter, zumal Safer Use auch das Risiko einer Übertragung anderer Infektionskrankheiten wie z. B. Hepatitis B und C minimiert.

Nichtsdestotrotz gilt auch für Drogengebraucher/innen, dass der oben geschilderte Sachverhalt vor allem für HIV-serodifferente Paare in der Substitution entlastend sein kann. Auch wenn die Präventionsbotschaften für den Drogengebrauch weiterhin bestehen, sollten die Änderungen, die sich im Bereich Sexualität ergeben, besprochen werden, denn Drogengebraucher/innen und Substituierte benötigen – wie alle anderen auch – solche Informationen, um ein auf ihr Leben abgestimmtes Risikomanagement betreiben zu können.

2.5 Besonderheiten bei Menschen in Haft

In Gefängnissen besteht die Besonderheit, dass Inhaftierte kaum über Präventionsmittel (Kondome, Gleitgel, Spritzen, Kanülen oder Substitution) verfügen. Ihr Risiko, sich beim Sex oder beim Drogengebrauch in Haft zu infizieren, ist hoch. Zudem wird auch die für das unter 2.1.1 beschriebene Vorgehen notwendige dreimonatliche Viruslastbestimmung häufig nicht oder in viel größeren zeitlichen Abständen vorgenommen als draußen. Es gilt daher weiterhin, sich für eine gute medizinische Versorgung der HIV-positiven Gefangenen einzusetzen, die der Versorgung außerhalb der Gefängnismauern entspricht, und die o. g. Argumente (bessere medizinische Versorgung = mehr Sicherheit in Haft) in die Diskussionen mit den Anstaltsärzten und Anstaltsärztinnen einfließen zu lassen.

Gegenüber Gefangenen sollten die Informationen zur sexuellen Übertragung möglichst in einem Informations- oder Beratungsgespräch mitgeteilt werden, um hier auch den Informationspart, den Ärztinnen und Ärzte aus HIV-Schwerpunktpraxen sonst übernehmen, zumindest teilweise abzudecken. (Leider ist nicht davon auszugehen, dass die von den Anstaltsärztinnen oder -ärzten gegebenen Informationen mit denen in einer HIV-Schwer–punktpraxis vergleichbar sind.) Um ein sinnvolles Risikomanagement in Haft betreiben zu können, muss im Informations- oder Beratungsgespräch der Haftalltag genauer beleuchtet werden (z. B. das Thema sexuelle Beziehungen in Haft, Risiken der einzelnen sexuellen Praktiken, Viruslast und Medikamenteneinnahme, STDs, Risiken beim Drogengebrauch).

2.6 Besonderheiten beim Thema Kinderwunsch, Schwangerschaft und Stillen

Für Paare mit Kinderwunsch, in denen eine/r oder beide der Partner/innen HIV-positiv ist/sind, gelten folgende Aussagen:
– Bei nicht nachweisbarer Viruslast und Erfüllung der unter 1. und 2. genannten Bedingungen kann die Zeugung des Kindes auf natürlichem Weg erfolgen, ohne eine Ansteckung des Partners/der Partnerin zu riskieren.
– Bei HIV-positiven Müttern mit nicht nachweisbarer Viruslast ist das Risiko einer HIV-Übertragung auf das Kind während der Schwangerschaft und unter der Geburt gering. Bei entsprechender medizinischer Betreuung durch Spezialist(inn)en ist daher auch eine vaginale Geburt möglich.
– Weiterhin abgeraten wird jedoch vom Stillen – für eine Änderung der Empfehlung reichen die wissenschaftlichen Daten bisher nicht aus.

3. Hintergründe und Erläuterungen

3.1 Bedeutung von Schleimhautläsionen und sexuell übertragbaren Krankheiten (STDs)

Schleimhautläsionen (Geschwüre, Entzündungen) spielen eine erhebliche Rolle bei der Transmission von HIV: Bei HIV-negativen Partner(inne)n stellen sie eine Eintrittspforte für HIV dar. Bei HIV-positiven Partner(inne)n führen sie zu einer Anreicherung von Immunzellen im Geschwür bzw. in der Entzündung. Da ein Teil dieser Immunzellen mit HIV infiziert ist, reichert sich auch HIV in und um die Läsion herum an.

Schleimhautläsionen kommen z. B. vor bei
– sexuell übertragbaren Krankheiten: Syphilis und Herpesinfektionen führen zu Geschwüren und erhöhen damit am stärksten von allen STDs die Wahrscheinlichkeit einer HIV-Transmission. Bei anderen STDs ist entscheidend, wie umfangreich die Entzündungsreaktion der Schleimhaut ist: Gonokokken (Tripper) und Chlamydieninfektionen können im Darm zu ausgedehnten Entzündungen führen – während sie im Rachen ggf. nur geringfügige Läsionen verursachen.
– Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Amöbenruhr
– Fisteln von Scheide oder Darm/Anus.

Die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer HIV-Übertragung bei gleichzeitig vorliegenden STDs ist bei nicht antiretroviral therapierten Menschen mit HIV in zahlreichen wissenschaftlichen Studien gut belegt (z.B. Laga 1993, Craib 1995, Fleming 1999, Cohen 2005). Für Menschen mit stabiler antiretroviraler Therapie gibt es bislang keine aussagekräftigen epidemiologischen Studien, allerdings wurden Erhöhungen der HIV-Konzentration in den genitalen Sekreten (Schleimhäuten) bei gleichzeitig vorliegender STD nachgewiesen (Sadiq 2002).

Sexuell übertragbare Krankheiten können ganz oder phasenweise asymptomatisch verlaufen. Daher kommt der Diagnostik/dem Screening von STDs auch bei fehlender Symptomatik hohe Bedeutung zu. Folgende Untersuchungen sind möglich und üblich:
Syphilis Serologie (Blutuntersuchung)
Herpes Inspektion und Anamnese (Befragung/Krankengeschichte), ob Herpesbläschen oder Geschwüre beobachtet wurden. Die Serologie ist aufgrund der relativ hohen Prävalenz von untergeordneter Bedeutung, denn die Antikörper bleiben lebenslang nachweisbar.
Chlamydien Abstriche vaginal/zervikal, aus der Harnröhre, aus dem Rektum und dem Rachen. Alternativ oder ergänzend zum Harnröhrenabstrich (beim Mann schmerzhaft) ist eine Urinuntersuchung möglich.
Gonokokken Abstriche vaginal/zervikal, aus der Harnröhre, aus dem Rektum und dem Rachen. Beim Mann wird ein Abstrich aus der Harnröhre in der Regel bei fehlenden Symptomen nicht für erforderlich gehalten, da Gonokokken – im Gegensatz zu Chlamydien – beim Mann zu Beschwerden in der Harnröhre führen.

3.2 Bedeutung der Viruslast im Blut und in den genitalen/rektalen Sekreten

Einer Senkung der Viruslast im Blut folgt in der Regel auch eine Senkung der Viruslast in den genitalen und rektalen Sekreten und Schleimhäuten. Ausnahmen sind jedoch möglich. Bei einigen wenigen HIV-Positiven, deren Viruslast im Blutplasma länger als ein halbes Jahr unter der Nachweisgrenze war und bei denen keine STDs vorlagen, konnte HIV im Sperma nachgewiesen werden (Nachweisgrenze für Blutplasma 40 Kopien/ml, Nachweisgrenze für Sperma ca. 200 Kopien/ml); allerdings war die gemessene Viruslast in einem niedrigen Bereich (< 1500) und Transmissionen wurden von diesen Fällen nicht berichtet.
Wissenschaftlich ist nicht geklärt, ob es einen Schwellenwert für die Viruslast im Blut bzw. den genitalen Sekreten gibt, unterhalb dessen eine Infektion nicht mehr stattfinden kann.

3.3 Bedeutung von Therapietreue und Therapiekontrolle

Eine „stabile antiretrovirale Therapie“ beinhaltet regelmäßige Kontrollen der Viruslast, in der Regel alle drei Monate. Die Therapie sollte kontinuierlich eingenommen werden, um Schwankungen der Wirkstoffkonzentration und damit die Gefahr einer Entwicklung von Resistenzen mit nachfolgendem Therapieversagen zu minimieren.

Resistenzen und Therapieversagen gehen allerdings nicht ausschließlich auf mangelnde Therapietreue zurück. Auch andere Faktoren können dazu führen, dass die erforderlichen Wirkstoffkonzentrationen im Blut nicht erreicht werden. Ratsuchende sollten in der Beratung auf diese Faktoren hingewiesen werden:
– Wechselwirkungen mit anderen (auch nicht verschreibungspflichtigen) Medikamenten oder naturheilkundlichen Substanzen können zu einem Wirkungsverlust der HIV-Medikamente führen. Die Einnahme anderer Medikamente sollte daher mit dem HIV-Arzt/der HIV-Ärztin abgesprochen werden.
– Erkrankungen können die Aufnahme der HIV-Medikamente in den Körper verzögern oder verhindern (Brechdurchfall, Lymphom, atypische Mykobakteriose).
– Nach Operationen des Magen-Darm-Trakts kann es zur verminderten Aufnahme von Medikamenten kommen.

3.4 Bedeutung der Kommunikation zwischen den Partner(inne)n

Die Präventionsmethode „Senkung der Viruslast unter die Nachweisgrenze“ bedarf – mehr als bei Verwendung von Kondomen – einer funktionierenden Kommunikation zwischen den Sexualpartner(inne)n. Mangelnde Therapietreue oder unbeabsichtigte Therapiepausen (z. B. im Urlaub) sollten thematisiert werden; es sollten dann wieder Kondome verwendet werden.

Grundsätzlich sollten in der Beratung sexuelle „Außenkontakte“ und der Umgang mit ihnen angesprochen werden, auch wenn die Paare zum Zeitpunkt der Beratung davon ausgehen, keine Außenkontakte zu pflegen. Sexuelle Außenkontakte bergen prinzipiell die Problematik, dass STDs erworben werden können und dann ggf. die Voraussetzungen für die Methode „Viruslast“ nicht mehr gegeben sind.

3.5 Vergleich: Stärken und Schwächen von Kondomen und der„Viruslastmethode“

Beide Methoden verfügen über ein unterschiedliches Profil von Vor- und Nachteilen. Beide Methoden lassen sich miteinander oder mit anderen Strategien der Risikosenkung kombinieren. Die Beratung kann bei der Auswahl individuell passender Präventionsmethoden helfen.

3.5.1 Verwendung von Kondomen

Stärken
– kann ohne Abklärung von Vorbedingungen erfolgen
– reduziert das Risiko auch für andere sexuell übertragbare Infektionen (v. a. Syphilis, Tripper, Chlamydieninfektion); eignet sich daher besonders für Sex mit Gelegenheitspartner(inne)n oder für Sexarbeit
– bietet gleichzeitig Schwangerschaftsverhütung (wenn gewünscht).

Schwächen
– Anwendungsfehler möglich: Beschädigung des Kondoms bei der Handhabung, Verwendung ungeeigneter Gleitmittel (z. B. fetthaltiger Öle), Verwendung von Gleitmittel zwischen Kondom und Penis)
– Materialfehler möglich (sehr selten)
– Effektivität sinkt bei nicht durchgehender (100%iger) Verwendung, z. B. infolge Alkoholkonsums vor dem Sex oder erektiler Dysfunktion.

3.5.2 Senkung der Viruslast unter medikamentöser Behandlung

Stärken
– deckt neben den Sexualpraktiken mit hohem HIV-Übertragungsrisiko (Analverkehr, Vaginalverkehr) auch „kleine Risiken“ ab, die sich durch das Kondom nicht reduzieren lassen oder bei denen gewöhnlich kein Kondom verwendet wird, z. B. Oralverkehr, Spermaspiele mit Schleimhautkontakt, Trinken von Muttermilch, nichtinsertive Schleimhaut-Schleimhaut-Kontakte, Blutkontakte
– Schwangerschaft möglich (falls gewünscht).

Schwächen
– erfordert eine Abklärung der Vorbedingungen: die Viruslast ist seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze von derzeit 40 Viruskopien/ml, Kontrollen der Viruslast erfolgen regelmäßig, d. h. in der Regel alle 3 Monate, die Therapie wird zuverlässig eingenommen und es liegen bei beiden Partnern keine Schleimhautläsionen z. B. durch sexuell übertragbare Erkrankungen vor
– unzureichende Senkung der Viruslast in den genitalen/rektalen Sekreten möglich (selten)
– Anstieg der Viruslast bei Medikamenten-Wechselwirkungen oder Therapieversagen möglich (erfolgt in der Regel langsam und wird bei Kontrollen bemerkt)
– kein Schutz vor anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen.

3.5.3 Wirksamkeit von Kondomen und „Viruslastmethode“

Sowohl die konsequente (100-prozentige) Verwendung von Kondomen (10) als auch die dauerhafte Senkung der Viruslast beim/bei der HIV-positiven Partner/in – bei Abwesenheit von Schleimhautläsionen/STDs bei beiden Partner(inne)n – bieten eine ausreichende Sicherheit zur Vermeidung einer HIV-Infektion, das Restrisiko einer HIV-Übertragung ist vernachlässigbar gering.(11) Bei Kombination beider Methoden nähert sich das Restrisiko gegen Null.

Transmissionsrisiko für 100 Sexualakte bei diskordanten MSM-Paaren
Transmissionsrisiko für 100 Sexualakte bei diskordanten MSM-Paaren

Die Graphik stellt das Transmissionsrisiko für 100 Sexualakte bei diskordanten MSM-Paaren dar (nach Garnett, Gazzard 2008). Die Autoren beziehen sich auf eine Modellrechnung von Wilson et al. (2008), die von einem hohen Transmissionsrisiko ausgeht und den Wert der Methode „Viruslast“ kritisch betrachtet.

3.6 Wissenschaftliche Datenlage zum Thema Viruslast und Infektiosität bei Heterosexuellen und Männern, die Sex mit Männern haben (MSM)

Die epidemiologische Datenlage zum Thema „Viruslast und Infektiosität“ ist für Männer, die Sex mit Männern haben, schlechter als für Heterosexuelle. An dieser Ungleichheit wird sich in den nächsten Jahren voraussichtlich nichts ändern. Die einzige randomisierte Interventionsstudie (HIV Prevention Trial Network 2008), die derzeit zur Senkung der Infektiosität bei antiretroviraler Therapie läuft, hat die Rekrutierung abgeschlossen und kein einziges MSM-Paar eingeschlossen.

Darf man nun MSM eine bei Heterosexuellen beeindruckend wirkende Präventionsmethode so lange vorenthalten, bis auch zu MSM Daten vorliegen, oder ist es nicht angesichts der deutlich höheren HIV-Inzidenz bei MSM geboten, Analogieschlüsse zu ziehen und Empfehlungen auf geringerem Evidenzniveau auszusprechen, um gerade bei MSM alle Möglichkeiten in der Prävention nutzen zu können?

Es ist nicht anzunehmen, dass sich der Zusammenhang zwischen Viruslast und Infektiosität grundlegend anders bei MSM als bei Heterosexuellen darstellt. Sowohl bei HIV-positiven Heterosexuellen als auch bei MSM senkt eine effektive antiretrovirale Therapie die Viruslast auf ein tausendstel bis zehntausendstel. Bei Heterosexuellen ist durch Kohortenstudien erwiesen, dass es bei Erfüllung der o. g. Bedingungen praktisch zu keinen Infektionen mehr kommt (Barreiro, 2006, Bernasconi 2001, Castilla 2005, Melo 2006, Quinn 2000, Gray 2001). Für MSM liegen solche Kohortenstudien nicht vor. Lediglich eine epidemiologische Studie mit MSM in San Francisco belegt eine deutliche Reduktion der Infektiosität nach Einführung der antiretroviralen Therapie (Porco 2004). Beobachtungen aus klinischen Kohorten und der Praxis weisen darauf hin, dass auch bei MSM-Paaren eine ähnliche Reduktion der Infektiosität zu beobachten ist.

Auch wenn man einen „Sicherheitsfaktor“ einbezieht (und die Möglichkeit in Betracht zieht, dass die Effektivität der Methode bei MSM bzw. bei Analverkehr geringer sein sollte als bei Heterosexuellen), kann man mit einer Wirksamkeit rechnen, die die Wirksamkeit bei der Verwendung von Kondomen erreicht oder übersteigt (s. oben).

3.7 Individuelle Ebene und Public Health

Auf der individuellen Ebene gibt es derzeit wissenschaftlich kaum mehr Kontroversen darüber, dass eine Transmission bei Einhaltung der Kriterien (Viruslast mindestens ein halbes Jahr unter der Nachweisgrenze, Therapietreue, keine Schleimhautläsionen) eine HIV-Übertragung unwahrscheinlich ist.

Anders stellt sich die Situation auf Public-Health-Ebene dar. Hier gibt es Befürchtungen, dass es durch die Aufnahme der „Viruslastmethode“ in die Prävention zu einem Anstieg der HIV-Neuinfektionen kommen könnte: In einer südwestpazifischen Stellungnahme (Wilson 2008) zur Veröffentlichung der Eidgenössischen Kommission für Aidsfragen (2008) wird anhand eines mathematischen Modells angenommen, dass HIV-Positive mit stabiler ART, die bisher Safer Sex praktiziert haben, nun in großem Umfang auf Kondome verzichteten. Ausgehend von der Annahme, dass durch die Verwendung von Kondomen bei stabiler ART das Risiko einer HIV-Übertragung gegen Null sinkt, nehmen Wilson et al. an, dass das Risiko (auf das Restrisiko-Niveau der verbleibenden Methode) steigt, wenn auf eine der beiden Methoden verzichtet wird. Insgesamt könnte es bei diesem Szenario tatsächlich zu einem „Risiko–anstieg“ und damit auf die Bevölkerung bezogen zu einem potenziellen Zuwachs an Infek­tionen kommen – auch wenn das Risiko für das Individuum vernachlässigbar gering bleibt.

Diese Position lässt verschiedene Argumente außer Acht:
– Die Kriterien für die Verwendung der „Viruslast-Methode“ sind streng gefasst; es kommen nur relativ wenige Personen dafür in Frage; seit Veröffentlichung der EKAF-Information vor einem Jahr konnten wir keine Reduktion der Kondomverwendung beobachten.
– Die Prävention hat seit 25 Jahren mit der Propagierung der Botschaft „Safer Sex“ genau diese Höhe eines Restrisikos toleriert. Für das Individuum wäre es nicht nachvollziehbar, wenn ein noch kleineres Restrisiko nicht toleriert würde. In der Prävention fokussieren wir seit 25 Jahren auf den Schutz, den eine Methode (z.B. Kondomverwendung) bietet, und nicht auf das sehr geringe Restrisiko.
– Die Aussicht, kaum mehr infektiös zu sein, kann für Menschen mit HIV einen Anreiz darstellen, rechtzeitig mit einer Therapie zu beginnen und die Therapie auch konsequent fortzusetzen. Derzeit beginnen zu viele Menschen mit HIV zu spät mit der Therapie; ca. 30 % der Neudiagnostizierten sind sog. „late presenter“.

Insgesamt kann die DAH den Befürchtungen nicht folgen, es könnte zu einer Zunahme der Infektionen kommen, wenn die „Viruslast-Methode“ in der Prävention eingesetzt wird. Im Gegenteil: die DAH sieht in dem Nutzen, den die antiretrovirale Therapie bietet, eine Chance in der Prävention.

3.8 Literatur (Auswahl)

[Literatur hier nicht dokumentiert; siehe Positionspapier auf aidshilfe.de]

– – –
Anmerkungen:
(1) Siehe hierzu die Erläuterungen unter 3.
(2) Papier „Neue Wege sehen – neue Wege gehen!“, vom Delegiertenrat der DAH in seiner Sitzung vom 7. bis 9. März 2008 in Abstimmung mit dem Vorstand verabschiedet
(3) Hier: ein/e Partner/in ist HIV-positiv getestet, der oder die andere HIV-negativ.
(4) Sie tut dies im Folgenden vor allem mit Blick auf diejenigen Individuen und Gruppen, die sie vertritt und mit denen und für die sie arbeitet: die Menschen, die mit HIV/Aids leben, und die von HIV, Aids, Hepatitis und anderen sexuell und beim Drogenkonsum übertragbaren Krankheiten besonders Bedrohten und Betroffenen.
(5) Die Safer-Sex-Regeln im engeren Sinn lauten: Beim Anal- und Vaginalverkehr Kondome benutzen, beim Oralverkehr kein Blut oder Sperma in den Mund gelangen lassen (für die Zielgruppe der Männer, die Sex mit Männern haben, z. B. in der Formulierung „Ficken mit Kondom. Beim Blasen raus bevor’s kommt.“). Im weiteren Sinne kann man unter „Safer Sex“ Maßnahmen verstehen, mit denen man verhindert, das HIV in einer für eine Ansteckung ausreichenden Menge in den Körper oder auf Schleimhaut gelangt.
(6) durch die Benutzung von Kondomen beim Anal-, Vaginal- und Oralverkehr und den Verzicht auf Zungenküsse
(7) Vgl. Aids-Hilfe Schweiz: Rahmen- und Positionspapier: Sexuelles Risikomanagement – April 2007/Januar 2008. Vom Vorstand an seiner Sitzung vom 24. April 2007 verabschiedet und für verbindlich erklärt. Aktualisiert am 30. Januar 2008. Bern: Aids-Hilfe Schweiz 2008
(8) Vgl. ebenda.
(9) Beide Partner/innen sollten drei Monate konsequent Kondome beim Anal- und Vaginalverkehr einsetzen, kein Blut/Sperma in den Körper oder auf Schleimhäute gelangen lassen und sich anschließend auf HIV testen lassen. Bis zur Mitteilung der Testergebnisse muss weiter konsequent Safer Sex betrieben werden. Fallen die HIV-Tests negativ aus, kann innerhalb der Partnerschaft auf Kondome verzichtet werden, sofern bei sexuellen Kontakten außerhalb der Partnerschaft die oben genannten Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Das setzt allerdings großes Vertrauen und Offenheit voraus: Bei ungeschützten Kontakten außerhalb der Beziehung müssen die Partner/innen miteinander reden und sich beim Sex wieder schützen, bis sie das geschilderte Vorgehen wiederholt haben.
(10) Generell nimmt man an, dass Safer Sex das Risiko einer HIV-Übertragung um 95 % senkt. Restrisiken bestehen durch Anwendungsfehler, Materialfehler und sog. „kleine Risiken“ beim Sex, die durch das Kondom nicht abgedeckt werden oder bei denen in der Regel kein Kondom verwendet wird (Oralverkehr, andere Schleimhaut-Schleimhaut-Kontakte, Blutkontakte). Eine Cochrane-Analyse (Weller et al. 2006) bei Heterosexuellen berechnete einen Schutzeffekt von 80 %. Bei MSM geht man im Allgemeinen von einer geübteren Handhabung und daher von einem höheren Schutzeffekt (95 %) aus als bei Heterosexuellen. Eine Cochrane-Analyse zur Sicherheit von Kondomen bei MSM gibt es nicht.
(11) Bei beiden Methoden –der Verwendung von Kondomen und der Viruslastmethode – kann es in seltenen Fällen trotz korrekter Einhaltung der Regeln zu HIV-Transmissionen kommen; bei der Viruslastmethode ist bislang ein solcher Fall dokumentiert (Stürmer 2008).

[Das Positionspapier der DAH findet sich auch online auf dem Internetangebot der Deutschen Aidshilfe als pdf]

Positive Begegnungen 2009: Grußwort der Bürgermeisterin Müller-Trimbusch

Die Positiven Begegnungen 2009 in Stuttgart wurden u.a. mit einem Grußwort der  Bürgermeisterin für Gesundheit, Soziales und Jugend,  Gabriele Müller-Trimbusch eröffnet, die in Vertretung für Stuttgarts Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster sprach. Die Rede als Dokumentation:

Grußwort zur Veranstaltung der Deutschen Aidshilfe
„Positive Begegnungen – Konferenz zum Leben mit HIV/AIDS“
Rathaus, Großer Sitzungssaal
29. Januar 2009, 18:15 Uhr

Meine Damen und Herren,
liebe Gäste,

im Namen des Schirmherrn dieser Veranstaltung, Herrn Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster, begrüße ich Sie sehr herzlich hier bei uns im Rathaus zu den „Positiven Begegnungen 2009“.

„Leben mit HIV und AIDS“ – so heißt der Untertitel der „Positiven Begegnungen“. Ein Leben mit HIV und AIDS, das war in den ersten Jahren der AIDS-Pandemie kaum vorstellbar. Wer an AIDS erkrankt war, hatte meist nur eine Lebenserwartung von wenigen Monaten. Heute ermöglichen hochwirksame Medikamente, dass HIV-positive Menschen über viele Jahre, manchmal Jahrzehnte mit ihrer Infektion leben können. Doch die Behandlung hat ihren Preis: So wirksam die Medikamente sind, so viele Nebenwirkungen können sie auch haben, die die Erkrankten in ihrem täglichen Leben oft erheblich beeinträchtigen. Und trotz aller Bemühungen der Forschung bleibt die HIV-Infektion eine chronische Erkrankung, die nicht heilbar ist.

Zusammen mit den Neuinfektionsraten, die in den letzten Jahren leider wieder ansteigen, ergibt sich eine immer größere Zahl von Menschen, die mit HIV und AIDS leben.

In der breiten Öffentlichkeit wird das Bild von HIV und AIDS von mehreren Aspekten geprägt: Einerseits erscheint AIDS durch die relativ guten Behandlungsmöglichkeiten vielen Menschen nicht mehr als bedrohlich, sondern als Krankheit wie viele andere. Das öffentliche Interesse hat im Vergleich zu den 80er und 90er Jahren leider deutlich abgenommen. Sich mit Kondomen gegen eine Ansteckung zu schützen, erscheint manch einem vielleicht unnötig; es gibt doch Medikamente.

Doch ganz anders sieht es häufig aus, wenn im beruflichen
oder privaten Umfeld ein Mensch seine HIV-Infektion offenbart. Dann machen sich Angst und Unsicherheit bei den Personen in der Umgebung breit. Aus Furcht vor Ansteckung wird Distanz gehalten oder der Kontakt zu einem Erkrankten ganz abgebrochen. Der Arbeitsplatz gerät in Gefahr, weil der Arbeitgeber krankheitsbedingte Fehlzeiten fürchtet; vielleicht könnten Kunden ausbleiben, die nichts mit einem HIV-positiven Mitarbeiter zu tun haben wollen. Dies zeigt: AIDS ist doch keine Krankheit wie alle anderen. Wer HIV-positiv ist, überlegt es sich in der Regel sehr genau, wem er davon erzählt.

Überdurchschnittlich viele Menschen mit HIV und AIDS sind arbeitslos und auf staatliche Unterstützung angewiesen. Ihre Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sind deutlich reduziert.

Ein Besuch im Kino, im Café, im Museum, ein Wochenendbesuch bei Freunden in einer anderen Stadt – das alles sind Dinge, die für uns selbstverständlich sind, nicht aber für einen Menschen, der wegen seiner HIV-Infektion keine Arbeit mehr findet. Auch dies ist eine Form von Ausgrenzung.

Die Entstigmatisierung von Menschen mit HIV und AIDS ist eine der großen Aufgaben der nächsten Jahre. Hier haben die AIDS-Hilfen bundesweit eine wichtige Funktion, indem sie Öffentlichkeit schaffen und auf die Probleme von Betroffenen hinweisen.

Die Stadt Stuttgart unterstützt dieses Anliegen im regionalen Arbeitskreis AIDS zusammen mit der AIDS-Hilfe Stuttgart und einer Reihe von anderen Akteuren: der AIDS-Beratungsstelle der Evangelischen Gesellschaft, anderen kirchlichen AIDS-Beratungsstellen und den Gesundheitsämtern in der Region.

Wir freuen uns ganz besonders, die „Positiven Begegnungen“ dieses Jahr in Stuttgart begrüßen zu dürfen. Dass die Konferenz hier im Rathaus stattfindet, unterstreicht die besondere Bedeutung, die wir dem Thema beimessen.

Sie haben ein dichtes Programm mit zahlreichen interessanten Themen vor sich, dennoch hoffe ich, dass Sie auch die Zeit finden, das breite kulturelle Programm unserer Stadt zu genießen.

Ich wünsche den „Positiven Begegnungen 2009“ einen erfolgreichen Verlauf mit vielen neuen Impulsen!

Selbsthilfekonferenz zeichnet verändertes Bild über das Leben mit HIV

Zum Abschluß der ‚Positiven Begegnungen‘ zog die deutsche Aids-Hilfe folgendes Fazit (Pressemitteilung der DAH vom 01.02.2009):

Positive Begegnungen in Stuttgart – Selbsthilfekonferenz zeichnet verändertes Bild über das Leben mit HIV

Auf der heute [am 1. Februar] in Stuttgart zu Ende gegangenen „Positiven Begegnungen – Konferenz zum Leben mit HIV und Aids“ zeichneten die mehr als 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ein vielfältiges, vor allem aber ein verändertes Bild zum Leben mit HIV und Aids im Jahr 2009. In zahlreichen Plena, Workshops, einer Ausstellung, einer Trauerinstallation im Stuttgarter Rathaus sowie mit einer Aktion in der Stuttgarter Innenstadt thematisierten Menschen mit HIV die diesjährigen Schwerpunkte Stigmatisierung und Diskriminierung. Die Workshops und Vorträge der viertägigen Selbsthilfekonferenz fanden erstmals in einem Rathaus statt. Die Deutsche AIDS-Hilfe e.V. (DAH) will mit diesem Schritt in die Öffentlichkeit – in die Mitte der Gesellschaft – die Arbeit der Aidshilfen besser erfahrbar machen und über das Leben mit HIV als chronischer Krankheit informieren.

Carsten Schatz, Mitglied des Vorstandes der DAH, erklärt dazu:

„So, wie sich das Leben mit HIV und Aids verändert hat, muss sich auch das in der Öffentlichkeit verbreitete Bild der Erkrankung verändern. Dazu werden Menschen mit HIV und Aids und ihr Interessenverband, die Deutsche AIDS-Hilfe, einen Beitrag leisten. Themen wie Arbeit und Altern mit HIV, ohne Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung und die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme werden die Aktivitäten der Selbsthilfegruppen von Menschen mit HIV/Aids in Deutschland, Österreich und der Schweiz in den kommenden Jahren bestimmen. Dazu gehört auch eine umfassendere und differenziertere Information der Medien, der Politik und von Interessensverbänden.

Aids geht uns nach wie vor alle an, denn Ignoranz grenzt aus und macht krank.“

Rede von Bundespräsident Köhler zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

In seiner Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus rief Bundespräsident Köhler dazu auf, die Erinnerung an die Verbrechen des Holocaust wachzuhalten. Köhler gedachte auch der homosexuellen NS-Opfer. Die Rede als Dokumentation.

„Heute, am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee, gedenken wir ihrer: der Juden, der Sinti und Roma, der Kranken und Menschen mit Behinderung, der politisch Andersdenkenden und der Homosexuellen und aller, die der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten und den deutschen Raub- und Vernichtungskriegen zum Opfer fielen.“

Die Rede Köhlers im Wortlaut (Quelle: Bundespräsidialamt):

Vor dem Mannheimer Hauptbahnhof gibt es einen merkwürdigen Wegweiser: „Gurs 1170 Kilometer“, steht auf dem Schild.

Gurs, das ist ein Dorf in den französischen Pyrenäen. In Mannheim war der Ort lange Zeit unbekannt.

Am 22. und 23. Oktober 1940 wurden in Baden, im Saarland und in der Pfalz mehr als 6.000 Menschen aus ihren Häusern geholt, zu den Bahnhöfen getrieben, auf Züge verladen und quer durch Frankreich transportiert. Es waren Handwerker, Arbeiter, Ärzte, es waren Männer und Frauen, Greise und Säuglinge. Sie hatten nur eines gemeinsam: Es waren Juden und ihre Familien.

Der Transport begann am Laubhüttenfest. Es dauerte drei Tage, und als die Menschen aus Mannheim und Karlsruhe, aus Kaiserslautern und dem Saarland endlich ankamen, waren sie in Gurs. Aber nicht in dem kleinen Bergdorf, sondern in einem Internierungslager nahebei. Die Lebensbedingungen waren entsetzlich. Mehr als tausend Deportierte starben an Hunger und Krankheit. Einigen gelang es, zu entkommen, aber die meisten wurden schließlich nach Auschwitz geschafft und dort ermordet.

Am 13. Mai 2005 machten sich wieder Menschen aus Mannheim und Umgebung auf den Weg nach Gurs. Es waren Jugendliche, die mehr wissen wollten über die Geschichte ihrer Stadt und der verschleppten und ermordeten Bürger. In Gurs stießen sie auf die Überreste des Lagers und besuchten den Friedhof, auf dem viele Menschen aus Mannheim begraben liegen. Sie verglichen Namenslisten. Sie trafen sich mit Überlebenden. Das hat sie verändert.

Als sie zurückkehrten, machten sie eine Ausstellung. Bis heute interessieren sich viele Menschen dafür. Und die Jugendlichen schafften es, dass der Stadtrat beschloss, den Wegweiser vor dem Hauptbahnhof zu errichten. Als Zeichen. Zur Erinnerung. Zum Nachdenken. Zum Nachfragen.

Die jüdischen Bürger aus Mannheim, aus den übrigen Teilen Badens und der Saarpfalz gehören zu den Millionen von Menschen, die während des so genannten Dritten Reiches erniedrigt, entrechtet, verfolgt und ermordet wurden. Heute, am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee, gedenken wir ihrer: der Juden, der Sinti und Roma, der Kranken und Menschen mit Behinderung, der politisch Andersdenkenden und der Homosexuellen und aller, die der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten und den deutschen Raub- und Vernichtungskriegen zum Opfer fielen.

„Auschwitz“ – dieser Name ist Inbegriff für die Verbrechen der Nationalsozialisten. Er steht für den Versuch, ein ganzes Volk auszulöschen. Was uns an Auschwitz erschüttert und fassungslos macht, das ist nicht allein das Ausmaß des Völkermordes. Es ist die fabrikmäßige Rationalität, die Maschinerie. Es sind die Schicksale, die hinter den Opferzahlen stehen – die Lebensgeschichten von Männern, Frauen und Kindern aus ganz Europa, die hier getötet wurden, weil die Nationalsozialisten ihnen das Recht zu leben absprachen.

Die Nationalsozialisten kamen weit mit dem Versuch, das Volk zu vernichten, das nach biblischer Überlieferung von Gott die Zehn Gebote erhalten hat, und sie wollten diese Gebote selbst und den Respekt vor der Heiligkeit des Lebens auslöschen. Sie wollten den Deutschen das Gewissen austreiben. So ist die Schoah mehr als ein ungeheuerlicher Verstoß gegen moralische Prinzipien, die alle Kulturen und Religionen verbinden. Sie ist der Versuch, alle Moral abzuschaffen.

Das Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten hat gezeigt, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist, wie zweischneidig die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik, wie zerbrechlich die kulturellen Sicherungen, auf die wir uns täglich wie selbstverständlich verlassen.

Hitler und seine Leute hätten ihre Verbrechen nicht begehen können, wenn es nicht so viele Mittäter und Mitläufer gegeben hätte: glühende Fanatiker, aber auch „ganz normale Männer“ und Frauen, stumpfe Befehlsempfänger und bedenkenlose Profiteure, in denen uns die Banalität des Bösen begegnet. Und schließlich die vielen, die wegschauten und schwiegen.

Diese Vergangenheit in eine Beziehung zur eigenen Gegenwart und Zukunft setzen und Lehren aus ihr ziehen – das ist der Sinn unseres Erinnerns. Wir erinnern uns aus Respekt vor den Opfern. Wir erinnern uns, um aus der Geschichte zu lernen. Und wir erinnern uns um unserer selbst willen. Denn Erinnerung bedeutet auch: Nach der Wahrheit, nach einem festen Grund für das eigene Leben suchen.

Wer sich der eigenen Vergangenheit nicht stellt, dem fehlt das Fundament für die Zukunft. Wer die eigene Geschichte nicht wahrhaben will, nimmt Schaden an seiner Seele. Das gilt für jeden Menschen. Und ich bin überzeugt: Es gilt auch für Völker und Nationen. Denn nur mit der Erinnerung leben, birgt die Chance, mit sich und anderen ins reine zu kommen.

Die Verantwortung aus der Schoah ist Teil der deutschen Identität. Die Trauer über die Opfer, die Scham über die furchtbaren Taten und der Wille zur Aussöhnung mit dem jüdischen Volk und den Kriegsgegnern von einst – sie führen uns zu den Wurzeln unserer Republik: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ So lautet der erste Artikel unseres Grundgesetzes. Dieser Satz ist die Antwort auf die Erfahrung der Hitler-Diktatur. Er ist ein Bekenntnis zu Menschlichkeit und Freiheit.

Es geht um die Frage, wie Menschen – also: wie wir – miteinander umgehen: Wie wollen wir miteinander leben – in unserem Land, in unserer Einen Welt? Wie gelingt es uns, wenn wir einander begegnen, bei all unserer Verschiedenheit nie zu vergessen: Der Andere, das ist ein Mensch. Einzigartig. Gleichwertig. Teil der Schöpfung, wie Du und ich.

Das geht uns alle an: ganz gleich, wann und wo wir geboren sind; ganz gleich, ob wir zur Generation der Kinder, der Enkel oder Urenkel gehören.

Es ist gut, dass Bundespräsident Roman Herzog 1996 den 27. Januar zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus proklamiert hat. Es ist gut, dass die Vereinten Nationen diesen Tag 2005 zum internationalen Holocaust-Gedenktag erklärt haben – denn die Lehren aus der Geschichte sind wichtig für alle.

Und ich danke Generalsekretär Ban Ki-moon, dass er die Weltgemeinschaft in einer eindringlichen Botschaft auf die Bedeutung dieses Tages hinweist.

Wir Deutsche haben uns unserer Geschichte gestellt. Und wir lassen in unserem Ringen mit ihr nicht nach. Ich bin froh, dass gerade auch junge Menschen weiter Fragen stellen. Sie wollen wissen: Was geschah mit den Juden in unserer Stadt? Was wurde aus den Patienten der örtlichen Psychiatrie? Wie lebten Christen und Juden in den Jahrzehnten und Jahrhunderten vor 1933 zusammen? Welches Schicksal hatten die überlebenden Opfer nach 1945 – welches die Täter? Und: Wie gehen wir heute mit Minderheiten um? Was können wir dagegen ausrichten, wenn neuer Ungeist sich regt? Diese Fragen sind nicht neu. Aber es ist wichtig, dass sie immer neu gestellt werden.

Fragen wie diese haben vor über 20 Jahren engagierte Bewohner des Bayerischen Viertels hier in Berlin-Schöneberg dazu veranlasst, die Geschichte ihres Wohngebietes zu erforschen, das vor 1933 ein Ort blühenden deutsch-jüdischen Lebens war. Das Ergebnis waren eine Ausstellung, ein Straßenverzeichnis mit über 6.000 Namen und Lebensdaten jüdischer Einwohner und die Errichtung eines ungewöhnlichen Denkmals: 80 Tafeln, verteilt im ganzen Viertel, auf denen der Text antijüdischer Gesetze und Verordnungen abgedruckt ist. Da heißt es zum Beispiel: „Juden dürfen keine Haustiere mehr halten.“ Und auf einer anderen Tafel lesen wir vom Besitzer eines Wellensittichs, der sich von dem Tier nicht trennen konnte. Daraufhin musste er zur Gestapo, und seine Frau berichtet: „Nach vielen angstvoll durchlebten Wochen bekam ich von der Polizei eine Karte, dass ich gegen Zahlung einer Gebühr von 3,- Reichsmark die Urne meines Mannes abholen soll.“

In Landsberg am Lech legten Schülerinnen und Schüler des Ignaz-Kögler-Gymnasiums 1995 die Fundamente eines vergessenen KZ-Außenlagers frei, in dem während des Krieges Hunderte von Juden der so genannten „Vernichtung durch Arbeit“ zum Opfer gefallen waren.

Im Stuttgarter Jugendamt wurde im Jahr 2000 auf Initiative von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Denkmal errichtet, das an die Kinder aus Sinti- und Roma-Familien erinnert, die während der Nazi-Zeit von ihren Eltern getrennt, für Versuche missbraucht und schließlich in Auschwitz ermordet wurden.

In Leipzig haben Bürgerinnen und Bürger die verwischten Spuren jüdischen Lebens in ihrer Stadt wieder sichtbar gemacht: durch eine Ausstellung, im Internet und mit einer CD, die man auch als Stadtführer nutzen kann.

In Darmstadt haben Studenten der Technischen Universität zerstörte Synagogen aus vielen deutschen Städten am Bildschirm rekonstruiert und die Bilder und Pläne im Internet zugänglich gemacht – als Informationsquelle und als virtuelles Denkmal.

Das Bundesarchiv und das Institut für Zeitgeschichte haben vor einem Jahr den ersten Band einer wissenschaftlichen Quellensammlung über die „Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland“ vorgestellt. Darin werden auch viele neu zugängliche Dokumente aus osteuropäischen Archiven veröffentlicht, die unseren Blick für das Ausmaß der Verbrechen in Mittel- und Osteuropa schärfen. Zugleich ist die Sammlung ein Schriftdenkmal für die Opfer, denn sie enthält auch viele private Briefe und Tagebuchaufzeichnungen.

Ungezählte Beispiele wie diese zeigen: Die Erinnerung an die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten und das Gedenken an die Verfolgten und Ermordeten sind lebendig bei uns.

Viele Erinnerungsprojekte befassen sich auch mit der Geschichte derjenigen, die nicht schwiegen und wegschauten, sondern Verfolgten beistanden. Es berührt uns, wenn wir in den Tagebüchern von Victor Klemperer lesen, wie nichtjüdische Nachbarn und Geschäftsleute ihm und seiner Frau heimlich Lebensmittel zusteckten. Es bewegt uns, bei Hannah Arendt und Arno Lustiger zu lesen, wie der Wehrmachts-Feldwebel Anton Schmid in Wilna Juden vor der Erschießung rettete und dafür zum Tode verurteilt und ermordet wurde.

Ein Lesebuch mit preisgekrönten Aufsätzen von Schülern, das Bundespräsident Johannes Rau herausgegeben hat, setzt solchen Stillen Helden ein Denkmal. Es ist wichtig, dass wir uns an diese mutigen Frauen und Männer erinnern. Sie retteten ihre Mitmenschen. Sie verteidigten die Menschlichkeit.

Wer solche Aufzeichnungen liest und sich von ihnen anrühren lässt, schärft das eigene Gewissen. Millionen von Kindern und Jugendlichen sind mit dem „Tagebuch der Anne Frank“ und Judith Kerrs Roman „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ groß geworden. Zehntausende Menschen kennen den erschütternden Briefwechsel zwischen der nach Auschwitz verschleppten Jüdin Lilli Jahn und ihren Kindern. Und in den vergangenen Jahren gab es auch beeindruckende Versuche für neue literarische Zugänge zu diesem schwierigen Thema. Ich denke zum Beispiel an Art Spiegelmans Bildgeschichte „Maus“ oder die Comic-Reihe des Anne-Frank-Hauses, die auf großes Interesse gestoßen sind.

Die Auseinandersetzung mit dem Naziregime und seinen Verbrechen steht in den Lehrplänen aller Schulformen. Aber Untersuchungen zeigen immer wieder, dass es mit dem Geschichtswissen bei unseren jungen Leuten nicht zum Besten steht. Das betrifft nicht allein ihr Wissen über die erste deutsche Diktatur und den Holocaust; aber da ist der Befund besonders bedrückend. Wie passt das zusammen? Fehlt es da an Unterrichtszeit, an guten Büchern und Filmen, an pädagogischen Hilfen für die Lehrer? Fehlt es an Zusammenarbeit mit außerschulischen Geschichtsprojekten, die es doch fast überall längst gibt?

Ich sehe hier eine gemeinsame Aufgabe für alle in Deutschland, denen die Zukunft der Erinnerung (Roman Herzog) wichtig ist. Sie sollten zusammenfinden und zusammen arbeiten. Wir wollen dafür viele Wege bahnen, und für junge Menschen auch viele Wege außerhalb des Klassenzimmers. Wir wollen erreichen, dass alle Schulen in ihrem Umfeld gute Partner für den Geschichtsunterricht finden können.

Die Anstrengung lohnt sich, das wissen alle Lehrerinnen und Lehrer, die sich in diesem Bereich schon engagieren und denen ich an dieser Stelle von Herzen danke. Die Anstrengung lohnt sich auch deshalb, weil diese historische Bildung zugleich ein Baustein für die Humanität der Gesellschaft ist, in der wir morgen leben werden.
Das Ziel ist hoch gesteckt: Wir wollen erreichen, dass die Seele jedes Menschen berührt wird vom Leid der Opfer, vom Mut der Helfer und von der Niedertracht der Täter.

Das ist unser gemeinsamer Auftrag.

Immer wieder haben mir Jugendliche berichtet, wie sehr ihr Interesse an Geschichte, ihr Engagement und ihr Verantwortungsbewusstsein für ein gutes Miteinander gerade dadurch beflügelt wurden, dass sie den Spuren der Vergangenheit in ihrem heutigen Alltag nachgingen, dass sie zum Beispiel das Schicksal jüdischer Schüler an ihrer eigenen Schule erforschten und mit Zeitzeugen darüber sprachen, wie damals eine Minderheit ausgegrenzt und verteufelt wurde, und dass sie schließlich überlegten: Wie kann ich das, was ich erfahren und gelernt habe, meinen Mitschülern vermitteln – auch denen, die nichts davon wissen wollen?

Es gibt viele gute Beispiele für Initiativen, die den Schulunterricht ergänzen und vertiefen können und deren Erfahrungen möglichst allen zugänglich sein sollten. Ich denke etwa an das Projekt „step21“, das Jugendliche zu Zivilcourage, Aufgeschlossenheit und Toleranz erziehen will, oder an die Arbeitsgemeinschaft „Spurensuche“ der Jakob-Grimm-Schule in Rotenburg an der Fulda, die im Internet die Geschichte der Juden in der Region seit dem 13. Jahrhundert vorstellt. Oder an die Schüler aus Apolda in Thüringen und Mühlheim am Main in Hessen, die seit der friedlichen Revolution in der DDR jedes Jahr gemeinsam nach Auschwitz fahren. Im ehemaligen Konzentrationslager helfen sie bei Erhaltungsarbeiten, sie betreiben eigene Recherchen und lassen die Eindrücke dieses Ortes auf sich wirken. Einen Teil ihres Aufenthalts verbringen sie in den Familien von Schülern einer polnischen Partnerschule. So verbindet sich Erinnerungsarbeit mit Völkerverständigung – und junge Menschen lernen fürs Leben.

Ich wünsche mir, dass die vielen guten Erinnerungsprojekte, die es in unserem Land bereits gibt, immer neue Nachahmer und Nachfolger finden. Ich wünsche mir, dass vor allem junge Menschen weiter auf Spurensuche gehen und sich darum bemühen, den Opfern und den Tätern Namen und Gesicht zu geben – dort, wo sie gelebt und gearbeitet haben; dort, wo sie unsere Nachbarn hätten sein können.

Wir brauchen viele „Stolpersteine“ und immer wieder neue, die unseren Alltag unterbrechen. Und wir brauchen auch die Kraft der Künstler, die Auseinandersetzung mit dem Unfassbaren immer wieder neu anzustoßen.

Die Zeit wird kommen, in der kein Mensch mehr am Leben sein wird, der aus eigener Erfahrung über die Jahre vor 1945 berichten kann. Deshalb ist das Gespräch der Zeitzeugen mit den Nachgeborenen so wichtig. Denn eines Tages werden die jungen Menschen, die heute den Alten zuhören, die unmittelbarsten Träger der Erinnerung in Deutschland sein.

Zur Vorbereitung auf diese Rede habe ich vor ein paar Tagen mit Jugendlichen gesprochen und sie gefragt, wie sie die Zukunft der Erinnerung sehen. Ein Schüler aus Berlin, der einen Film mit Überlebenden gedreht hat, sagte mir: „Jetzt sind wir die Zeugen der Zeitzeugen. Wenn uns unsere Enkelkinder eines Tages fragen, gibt es viel, was wir ihnen erzählen können.“

Diese Antwort hat mir Zuversicht gegeben. Sorgen wir dafür, dass es immer viel gibt, was junge Menschen in Deutschland über die Untaten der Nationalsozialisten wissen und zu erzählen haben.

Ich danke den Menschen, die sich am heutigen Tag überall in unserem Land und auf der ganzen Welt versammeln, um der Ermordeten zu gedenken. Und ich danke auch den Rednern, die in den vergangenen Jahren bei der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag eindrucksvolle Worte gefunden haben. Viele von ihnen waren Zeitzeugen, die über ihr eigenes Erleben und Erleiden berichtet haben. Ihre Botschaft ist kostbar für uns. Wir werden sie weitertragen. Und vielleicht können wir an dieser Stelle in den nächsten Jahren einmal einen jungen Menschen hören, der berichtet, was Erinnerung für ihn und seine Generation bedeutet.

Erinnerung stiftet Vertrauen. Michaela Vidlakova aus Prag war als Kind sechs Jahre lang im Konzentrationslager Theresienstadt eingesperrt. Nach der Befreiung schwor sie sich, nie wieder ein Wort Deutsch zu sprechen. Im vergangenen Jahr kam sie nach Berlin, zum 50. Jahrestag der Gründung der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, und hielt eine Rede.

Sie sprach auf Deutsch, und ihre ersten Worte waren: „Liebe Freunde“. Und dann sprach sie davon, wie wichtig für die Holocaust-Überlebenden in Prag die Begegnung mit Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen ist – weil diese jungen Deutschen ihnen das Gefühl vermitteln, dass das Bekenntnis „Nie wieder!“ für sie keine Floskel ist.
Ich bin dankbar dafür, wenn ich erlebe, wie Juden und Angehörige anderer Opfergruppen uns die Hand zur Versöhnung reichen. Ich bin froh darüber, dass die Präsidenten der Lagergemeinschaften der ehemaligen Konzentrationslager heute hier sind.

Es ist ein Geschenk, dass heute in Deutschland wieder jüdisches Leben erblüht, dass die jüdischen Gemeinden wachsen, dass Rabbiner bei uns ausgebildet und neue Synagogen gebaut werden. Aber dass die Orte jüdischen Lebens von der Polizei vor alten und neuen Extremisten geschützt werden müssen, das ist eine Schande. Stellen wir uns an die Seite unserer jüdischen Landsleute. Wer sie angreift, greift uns alle an.

Die größten Feinde der Erinnerung sind die Verdrängung und die Lüge. Wir dürfen nicht zulassen, dass Holocaust-Leugner und Extremisten aller Art in unserem Land Beifall oder auch nur Verständnis finden. Wer gegen Juden und andere Minderheiten hetzt, wer Anderen die Menschenwürde abspricht, hat nichts aus unserer Geschichte gelernt. Treten wir solchen Leuten entschieden entgegen. Gestatten wir es ihnen nicht, Deutschlands Namen zu beflecken.

Bei meinem Besuch in Israel im Jahr 2005 war ich auch in Sderot. Viele kennen den Namen dieser Stadt im Süden Israels aus den Nachrichten. Seit Jahren schlagen dort immer wieder Raketen ein, die aus dem benachbarten Gaza-Streifen abgefeuert werden. Ich habe bei diesem Besuch die Atmosphäre der Angst und der Bedrohung gespürt, unter der die Menschen leiden: das bange Warten auf den Sirenenton, das beständige Ausschauhalten nach dem nächsten Bunker am Straßenrand oder auf dem Schulhof. Das ist Terror.

Doch auch die vielen Toten und Zerstörungen des Krieges im Gaza-Streifen sind Teil eines Teufelskreises der Gewalt, der endlich gebrochen werden muss. Die Welt muss jetzt zusammenstehen, damit Frieden im Nahen Osten möglich wird. Es ist gut, dass sich die Bundesregierung aktiv in diesen Prozess einbringt.

Deutschland steht mit seiner Geschichte in besonderer Verantwortung für Israel. Wir Deutsche wollen, dass die Bürger Israels in sicheren Grenzen frei von Angst und Gewalt leben können. Und wir wollen, dass das palästinensische Volk in einem eigenen lebensfähigen Staat seine Zukunft finden kann.

Damit im Nahen Osten endlich Frieden möglich wird, braucht es Realismus und Mut – auch den Mut, an Wunder zu glauben und dafür zu arbeiten, dass sie Wirklichkeit werden. Menschen, die diesen Mut haben, habe ich neulich kennen gelernt, hier in Berlin beim Konzert des von Daniel Barenboim und Edward Said 1999 gegründeten West-Eastern Divan Orchestra. Es waren junge Musiker aus Israel und Palästina. In der Pause sprach ich mit einigen. Sie standen zu ihren unterschiedlichen Meinungen. Sie verleugneten nicht ihre Herkunft. Und doch fanden sie in einer Erklärung auch zu Gemeinsamkeit. Zwei Sätze aus der Erklärung will ich hier zitieren:

„Wir, die Mitglieder des West-Eastern Divan Orchestra, sind überzeugt davon, dass es keine militärische Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt gibt.“

„Wir streben nach völliger Freiheit und Gleichheit zwischen Israelis und Palästinensern – das ist die Basis, auf der wir heute zum gemeinsamen Musizieren zusammenkommen.“

Ich finde, diese beiden Sätze zeigen auch: Frieden im Nahen Osten ist keine Utopie. Lassen wir uns von dieser Botschaft anstecken.

Die Nationalsozialisten wollten eine Welt schaffen, in der es keine Anderen mehr geben sollte: keine Andersdenkenden und Andersfühlenden, keine Kranken und Schwachen und auch nicht diejenigen, die man zwang, den Judenstern zu tragen.

Eines der bekanntesten Bilder des ermordeten Felix Nussbaum ist ein Selbstporträt, das er wenige Monate vor seiner Verhaftung gemalt hat. Es zeigt unter düsterem Himmel eine hohe Mauer und davor einen ernsten Mann, der den Stern trägt und dem Betrachter seinen Ausweis entgegenhält. Geburtsdatum und Geburtsort sind ausradiert. Bei „Nationalität“ steht „ohne“. Geblieben sind nur der Name, das Passbild und in großen roten Buchstaben die Worte „Juif – Jood“ – Jude, die für Nussbaum und Millionen von Leidensgenossen das Todesurteil bedeuteten.

Auch heute werden Menschen auf ihre Abstammung, ihre Herkunft oder andere äußerliche Merkmale reduziert und verächtlich gemacht. Auch nach Auschwitz gab und gibt es Versuche, Menschen und ganze Völker zu vernichten. In Ruanda, in Darfur, in Bosnien und anderswo.

„Es vergeht kein Jahr ohne ein Srebrenica irgendwo auf der Welt.“ schrieb der polnische Journalist Konstanty Gebert, nachdem er 1995 Tadeusz Mazowiecki durch das frühere Jugoslawien begleitet hatte. „Könnte es daran liegen“, so Gebert weiter, „dass wir Auschwitz als Museum ansehen, in dem man die Vergangenheit studieren kann – nicht als einen Ort, an dem wir mit unserer Gegenwart und Zukunft konfrontiert sind?“

Für uns Deutsche darf diese Vergangenheit nicht zum Museum werden. Das Geschehene bleibt Teil unserer Gegenwart, und die Lehren aus der Vergangenheit gehören zum Fundament unseres Selbstverständnisses als Nation.

Herr Bundestagspräsident, meine Damen und Herren, ich möchte heute das Versprechen ablegen: Wir Deutsche werden die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und das Gedenken an die Opfer wach halten. Wir sehen einen Auftrag darin. In unserem Einsatz und in unserer Arbeit für die Freiheit, für die Menschenrechte und für Gerechtigkeit. Für die Seelen der Toten. Und für unsere eigenen.

Zehn Gründe, die gegen die Kriminalisierung von HIV-Exposition oder -Übertragung sprechen

In Europa und den USA steigt in den vergangenen Jahren die Zahl der Menschen, die wegen HIV-Exposition oder -Übertragung juristisch verfolgt wurden. In einigen Staaten Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und der Karibik wurden neue HIV-spezifische Strafrechtsparagraphen eingeführt.

Vor diesem Hintergrund als Dokumentation eine Veröffentlichung des Open Society Institutes (ins deutsche übertragen von der Deutschen Aids-Hilfe): „Zehn Gründe, die gegen die Kriminalisierung von HIV-Exposition oder -Übertragung sprechen

Anmerkung: Dokumentiert sind hier nur die zehn Gründe als Leitsätze. Jeder Grund ist im Original-Papier (siehe Links unten) ausführlich erläutert und kommentiert.

Zehn Gründe, die gegen die Kriminalisierung von HIV-Exposition oder -Übertragung sprechen

1. Die Kriminalisierung von HIV-Übertragungen ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Übertragung in der bösartigen Absicht anderen Schaden zuzufügen erfolgt. In diesen seltenen Fällen kann und sollte, anstatt neue HIV-spezifische Gesetze zu erlassen, die Anwendung des bereits existierenden Strafrechts erfolgen.

2. Die Anwendung des Strafrechts auf HIV-Exposition oder -Übertragung reduziert nicht die Ausbreitung von HIV.

3. Die Anwendung des Strafrechts auf HIV-Exposition oder -Übertragung untergräbt Bemühungen der HIV-Prävention.

4. Die Anwendung des Strafrechts auf HIV-Exposition oder -Übertragung verbreitet Angst und führt zu Stigmatisierung.

5. Anstatt Frauen Gerechtigkeit zu verschaffen, gefährdet sie die Anwendung des Strafrechts auf HIV-Exposition und -Übertragung und trägt zu einer weiteren Unterdrückung bei.

6. Die Gesetze, die HIV-Exposition und -Übertragung kriminalisieren, sind zu weit gefasst und bestrafen oftmals Verhalten, das nicht schuldhaft ist.

7. Die Gesetze, die HIV-Exposition und -Übertragung kriminalisieren, werden oft ungerecht, selektiv und unwirksam angewendet.

8. Die Gesetze, die HIV-Exposition und -Übertragung kriminalisieren, verdecken die wahre Herausforderung der HIV-Prävention.

9. Anstatt Gesetze einzuführen, die HIV-Exposition und -Übertragung unter Strafe stellen, sollten die Gesetzgeber die Gesetze reformieren, die der HIV-Prävention und -Behandlung im Weg stehen.

10. Bestrebungen die auf Menschenrechten gründen sind am effektivsten.

Zehn Gründe, die gegen die Kriminalisierung der HIV-Infektion sprechen
© Open Society Institute
deutsche Übersetzung: Deutsche Aids-Hilfe (pdf)
englisches Original:
Ten Reasons to Oppose the Criminalizatioon of HIV-Exposure or Transmission (open society institute / soros foundation)

Verfolgung von Menschen mit HIV/Aids in Ägypten

Verfolgung von Menschen mit HIV/Aids in Ägypten

Zum 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10.12.2008 veranstaltet amnesty international eine Kerzenaktion unter dem Motto „Lichter für die Menschenrechte“. Die amnesty – Gruppe MERSI (Menschenrechte und sexuelle Identität) möchte in diesem Rahmen auf die aktuelle Verfolgung und Verhaftung von Menschen mit HIV und Aids in Ägypten aufmerksam machen, Unterschriften für die Freilassung der Inhaftierten sammeln und ruft auf, hierzu zahlreich zu erscheinen am:

Mittwoch, den 10.12.2008 um 19.00 Uhr

vor dem Brandenburger Tor

Amnesty international beobachtet seit Oktober 2007 in Ägypten eine Serie von Verhaftungen von Personen, die HIV-infiziert sind oder verdächtigt werden, dies zu sein. 12 Männer wurden in diesem Jahr vor Gericht gestellt, neun davon zu ein bis drei Jahren Gefängnis wegen „gewohnheitsmäßiger Unzucht“ verurteilt, die anderen drei freigesprochen; die neun Männer befinden sich seitdem in Haft, die Urteile wurden in zweiter Instanz bekräftigt.

Die Gerichte schlossen in ihren Urteilen vom HIV-Status auf die sexuelle Orientierung, d.h. HIV-infiziert wird gleichgesetzt mit schwul sein. Fünf der Betroffenen, welche allesamt die Anschuldigungen als falsch zurückwiesen, sind HIV-infiziert und wurden zum Teil monatelang gegen ihren Willen in Krankenhäusern festgehalten und an Krankenbetten angekettet. Misshandlungs- und Foltervorwürfen während der Untersuchungshaft gegen Polizei und Krankenhauspersonal gingen die Behörden bislang nicht nach. Die meisten Männer mussten eine Zwangsuntersuchung des Anus zur Feststellung homosexueller Handlungen sowie HIV-Tests ohne ihre Zustimmung über sich ergehen lassen.

Amnesty international stuft die Männer als gewaltlose politische Gefangene ein und fordert ihre sofortige und bedingungslose Freilassung. Amnesty international ruft die ägyptischen Behörden auf, die von den 12 Männern erhobenen Misshandlungs- und Foltervorwürfe vollständig, zügig und unparteiisch zu untersuchen. Kommen Sie also zu unserer Aktion und/oder unterschreiben Sie die Forderung zur Freilassung der Inhaftierten.

Wir sind Teil der Gesellschaft

Wir sind Teil der Gesellschaft

Unsere Normalitäten leben wir in der Öffentlichkeit und im Privaten, wie andere auch.
Mit dem Unterschied, dass sie nicht wahrgenommen werden.

Denn: Eine normale Lebenserwartung, gute medizinische Versorgung und Leistungsfähigkeit schützen nicht vor Ausgrenzung.
Die Alten Bilder und Vorurteile sind noch immer in den Köpfen, und werden immer neu produziert:
Wenn zum Beispiel die Medien nur Geschichten bringen über Sex & Crime oder über schwere Diskriminierung, geht das an unseren Lebensrealitäten vorbei:
Die stille Diskriminierung wird genauso verschwiegen, wie unsere Integration.
Wir sind längst Teil dieser Gesellschaft

Eine HIV-Infektion ist noch immer eine unanständige Krankheit.
Menschen mit HIV und AIDS verstecken sich , aus Furcht ihre wiedergewonnene „Normalität“ zu verlieren.
Wer sich zeigt, muss damit rechnen ausgegrenzt zu werden, im privaten sozialen Umfeld, am Arbeitsplatz, in der Gesellschaft. Also bleiben viele von uns unsichtbar.

Wer sich zeigt, selbstbewusst und ohne Scham, muss damit rechnen, übersehen zu werden, weil nichts mehr an die Bilder erinnert, die HIV und AIDS spannend und „sexy“ machten. Weil nicht sein darf was nicht sein darf: wir werden die Bilder nicht los, die Sex, Krankheit, Sucht und Tod bedeuten.

Aber: Sexualität, Krankheit, Sucht und Tod gehören zur Gesellschaft und zum Leben, das tragen wir nicht alleine.

Wir sind Teil dieser Gesellschaft und unsere Gesundheit zahlt sich aus.

Medienmitteilung
LHIVE, Organisation der Menschen mit HIV und AIDS in der Schweiz

Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Empfang anlässlich des 25. Jubiläums der Deutschen AIDS-Hilfe e.V.

Im Folgenden als Dokumentation die Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel beim Welt-Aids-Tags-Empfang der Deutschen Aids-Hilfe am 13.11.2008 (als Video hier):

Lieber Herr Henn,
liebe Frau Kollegin Ulla Schmidt,
liebe Freunde und Unterstützer der Deutschen AIDS-Hilfe,
meine Damen und Herren,

um auf die Anmoderation einzugehen: In der Tat werden nicht nur hier bei der AIDS-Hilfe immer gute Ideen und kräftige Hilfe gebraucht, sondern auch bei den Weltfinanzen; das ist in diesen Tagen offensichtlich. Wenn Sie also eine gute Idee haben, nehme ich sie gerne nach Washington mit. Wenn Sie mir dann sogar noch helfen könnten, sie durchzusetzen, wäre es noch besser.

25 Jahre Deutsche AIDS-Hilfe sind 25 Jahre gelebte Solidarität. Deshalb möchte ich damit beginnen, einfach Danke zu sagen, und zwar denen, die die Deutsche AIDS-Hilfe 1983 gegründet haben, was damals gar nicht so selbstverständlich war, wie es heute erscheint. Ich möchte auch all denen Danke sagen, die aus der anfänglichen Selbstinitiative in Berlin einen bundesweit aktiven Dachverband gemacht haben, der heute rund 120 regionale Mitgliedsorganisationen umfasst, sowie all denen, die sich für die Deutsche AIDS-Hilfe in so vielfältiger Weise immer wieder eingesetzt haben.

All diejenigen, die den Mut aufgebracht und sich ein Herz gefasst haben, die sich engagiert haben, haben dazu beigetragen, dass die Deutsche AIDS-Hilfe heute ein richtiges Erfolgsmodell ist und dass sie ein völlig unverzichtbarer Streiter und Partner im Kampf gegen AIDS geworden ist. Dahinter steckt unglaublich viel. Wenn wir noch einmal an die Anfangssituation in den 80er Jahren denken, erinnern wir uns daran, dass nach den ersten bekannt gewordenen AIDS-Diagnosen die Informationen rund um die Immunschwächeerkrankung rudimentär waren. Gerüchte hatten alle Möglichkeiten, sich zu verbreiten. Unbegründete Vorstellungen schossen ins Kraut, vor allem was vermeintliche Übertragungswege der Krankheit anbelangte. Viele haben geglaubt, allein durch Berühren des gleichen Geschirrs könne das Virus übertragen werden. Was die Ansteckungs- und Krankheitsgefahr anbelangt, war vieles überhaupt noch nicht abschätzbar.

Wenn wir uns daran zurückerinnern – das ist nun gerade einmal 25 Jahre her –, dann bekommen wir ein Verständnis dafür, wie es für viele Länder auf der Welt ist, in denen man genau in der gleichen Situation ist. Man muss überhaupt nicht verzagen, sondern muss einfach mutig seinen Weg gehen. Denn wenn man sieht, was wir erreicht haben, dann kann man sagen: Unwissenheit, Unsicherheit und Ängste, die damals noch erstaunliche Blüten getrieben haben, sind überwunden. Damals fühlten sich von der Krankheit Betroffene genau deshalb auch hilflos und alleingelassen. Es ist heute schon gesagt worden: Die Angst vor verstärkter Ausgrenzung und vor Diskriminierung ging gerade bei Homosexuellen um.

In dieser für uns heute kaum noch vorstellbaren Situation haben damals zehn Männer und eine Frau den Mut zur Gründung der Deutschen AIDS-Hilfe gehabt. In einer Zeit der Unsicherheit, der Angst, der Orientierungslosigkeit haben sie nicht nur die Notwendigkeit gesehen, aufzuklären, zu beraten, zu informieren und zu helfen, sondern sie haben das auch in die Tat umgesetzt. Dazu gehörte Mut, denn sie mussten nicht allein gegen die kaum fassbare Gefahr AIDS ankämpfen, sondern sie mussten vor allen Dingen – und das ist mindestens genau so schwierig gewesen – gegen Vorurteile, Diskriminierung und Ausgrenzung angehen.

Die Anfänge der Zusammenarbeit mit den Behörden und der Bundesregierung waren vermutlich nicht immer einfach, um es einmal vorsichtig zu sagen. Es sind dann aber – das ist heute schon erwähnt worden – doch Schritte gelungen mit der damaligen Gesundheitsministerin Rita Süssmuth. Ich weiß aber, dass sie dafür auch in meiner Partei – ich sage das einmal so – nicht immer nur Lob bekommen hat. Trotzdem waren di Schritte richtig. Sie hat es vor allen Dingen geschafft, dass es möglich wurde, den seuchenpolizeilichen Ansatz der AIDS-Bekämpfung zurückzudrängen und dagegen den Ansatz der gesellschaftlichen Lernstrategie so zum Durchbruch zu verhelfen, wie wir ihn auch heute kennen. Deshalb ist auch all denen, die diese Richtungsentscheidung mitgetragen haben, ganz herzlich Dank zu sagen.

Wir wissen, dass sich der Mut der Gründer der Deutschen AIDS-Hilfe und der im Laufe der Jahre angewachsenen Schar von Mitstreiterinnen und Mitstreitern wirklich gelohnt hat. Wir haben ihnen zu verdanken, dass in den letzten 25 Jahren in Deutschland in gewisser Weise ein Stück Normalität eingekehrt ist, wenn man das so sagen darf. Wir können stolz auf das sein, was Ministerin Schmidt eben gesagt hat, nämlich darauf, dass wir wirklich zu den vorbildlichen Ländern auf der Welt gehören. So können wir heute über die einstigen Tabuthemen HIV und AIDS weitgehend offen sprechen. Das ist vielleicht die erste Voraussetzung, um überhaupt voranzukommen, wenngleich ich glaube, dass das von Generation zu Generation immer wieder neu gelernt und eingeübt werden muss.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass es Selbsthilfegruppen, Verbände und Nichtregierungsorganisationen gibt, die mit den Regierungen – auch der Bundesregierung – im Kampf gegen HIV und AIDS zusammenarbeiten. Heute sehen wir es als selbstverständlich an, dass Mittel für diesen Kampf bereitgestellt werden. Ich möchte die Gesundheitsministerin ausdrücklich in dem, was sie eben zur Behandlung gesagt hat, unterstützen: Es wird von uns nicht zugelassen werden, dass es hier Einschränkungen gibt, die nicht vertretbar sind. Ulla Schmidt hat das eben sehr deutlich zum Ausdruck gebracht.

Ich bin sehr dankbar dafür, dass viele von Ihnen, obwohl die Probleme im eigenen Land groß sind, sich engagieren, auch in anderen Ländern dazu beizutragen, dass dort der Kampf gegen AIDS ganz selbstverständlich geführt wird. Ich war deshalb auch sehr gerne bei der von der Gesundheitsministerin organisierten G8-Konferenz – einer Konferenz, die uns vor Augen geführt hat, dass nicht nur in Afrika oder in Asien, sondern auch direkt bei uns um die Ecke, in der europäischen Nachbarschaft, noch viele, viele Vorurteile zu überwinden sind. Wir können kein einiges Europa, keine Europäische Union sein, wenn es nicht möglich ist, in den Mitgliedstaaten in gleicher Weise vorzugehen. Ich glaube, das ist eine Aufgabe für uns alle.

Das, was wir seit Anfang der 80er Jahre erreicht haben, haben wir erreicht, weil es mutige Menschen gab. Das haben wir auch dadurch erreicht, dass bis heute, wie ich sagte, ein Stück weit Normalität eingekehrt ist. Aber ich will auch, so wie Herr Henn das schon getan hat, auf die Gefahren solcher Selbstverständlichkeiten hinweisen. Denn alles, was geradezu selbstverständlich aussieht, kann allzu leicht auch aus dem Licht der Öffentlichkeit und damit wieder aus dem Bewusstsein herausrücken. Wenn ein Problem nicht mehr täglich in den Nachrichten auftaucht, muss es deshalb noch lange nicht aus der Welt sein. Deshalb dürfen wir nicht vergessen, dass wir zwar, wie hier gesagt wurde, ein Plateau bei der Zahl der Infizierten erreicht haben, dass wir aber längst noch nicht das erreicht haben, was wir erreichen wollen: weniger Menschen, die sich infizieren, und auch das Besiegen der Krankheit, das immer noch nicht gelungen ist.

Die traurige Wahrheit ist, dass das Leid vieler Menschen heute noch mit dieser Krankheit verbunden ist. Auch in Deutschland müssen wir immer wieder wachsam sein. Hinter jeder Krankheit stehen leidvolle Schicksale. An AIDS erkrankte Menschen leiden auch heute noch oftmals doppelt: zum einen körperlich und zum anderen an einer Umgebung, die zum Teil immer noch auf Distanz geht. Die Bekämpfung dieser Krankheit hat deshalb auch eine gesamtgesellschaftliche Dimension. Ob Politik, ob medizinische Forschung oder die gesamte Zivilgesellschaft – letztlich ist jeder Einzelne in unserer Gesellschaft aufgerufen, sich in die Phalanx gegen AIDS einzureihen. Wenn die ganze Gesellschaft dies als eine Aufgabe begreift, haben wir viel geschafft.

Politik allein – das sage ich auch – wäre hier auf verlorenem Posten. Deshalb ist es so ein Erfolgsmodell, dass mit der Deutschen AIDS-Hilfe ein starker, ein unverzichtbarer, ein kompetenter Partner da ist, der natürlich oft auch sehr eigenständig sagt, was konkret vor Ort notwendig ist. Erst damit wird gezielte Hilfe in gemeinsamer Kooperation überhaupt möglich. Die Zusammenarbeit zwischen engagierten Bürgern, Selbsthilfegruppen, Verbänden und Regierungsstellen ist es, die überhaupt das Fundament dafür bildet, dass AIDS-Bekämpfung erfolgreich sein kann. Wir brauchen einen Staat, der einen verlässlichen Rahmen schafft – darüber ist gesprochen worden –, einen Staat, der Unterstützung anbietet, aber das Heft des Handelns in der Hand derer belässt, die mit ihren Erfahrungen am besten wissen, was vor Ort und für den einzelnen Menschen ganz konkret zu tun ist.

Es ist immer das Spannungsfeld in Demokratien, dass Regierungen Rahmen schaffen müssen, staatliche Stellen einen Rahmen sicherstellen müssen, aber dann natürlich auch ein Stück loslassen müssen, damit sich Menschen engagieren können, damit sich Menschen auch gegen Bedenkenträger und Widerstände durchsetzen können und damit diejenigen eine Chance bekommen, die nicht aufgeben, die manchmal unbequem sind, die nicht wegschauen und die immer wieder neue Wege gehen. Deshalb müssen die staatlichen Stellen natürlich die Kraft dazu aufbringen, das, was gestern war, nicht immer schon auch für morgen für gut zu halten.

Ich glaube, dass ein schönes Beispiel für das, was gemeint ist, ein ganz in der Nähe von hier liegendes Wohnareal ist: Eine Wohnanlage für Menschen mit AIDS, eines der gemeinnützigen Wohnprojekte von „ZIK – Zuhause im Kiez“. Betroffene können dort so wohnen und leben, wie es ihren Bedürfnissen entspricht. Sie erfahren Pflege und Betreuung, die sie brauchen. So ist aus einer Eigeninitiative engagierter Bürger ein echtes Vorbild geworden für Strukturen, in denen Leben, Betreuung, Pflege und Vorsorge möglich ist.

Die Krankheit ist inzwischen behandelbar, aber heilbar ist sie immer noch nicht. Deshalb ist Prävention nach wie vor der beste Schutz – man kann das nicht oft genug wiederholen. Darüber dürfen die großartigen Erfolge in der Erforschung und Entwicklung von Impfstoffen und Arzneimitteln nicht hinwegtäuschen. Prävention ist und bleibt auch auf absehbare Zeit das beste Mittel. Wir wissen, Nährboden für Neuinfektionen sind noch immer vor allem Unwissen, Leichtsinn und Fehleinschätzungen. Das heißt, wir müssen auch weiterhin auf Aufklärung, Information und Förderung von Gesundheits- und Verantwortungsbewusstsein setzen.

Das ist natürlich an dieser Stelle leichter gesagt, als es dann in der Praxis in umfassender Weise getan wird. Man kann das nicht von oben herab verordnen. Vielmehr funktioniert Prävention dann, wenn sie dezentral und auch gemeinsam mit den betroffenen Menschen entwickelt wird, wenn also der gemeinsame, teilhabende Charakter der Prävention betont wird. Genau darauf setzt die Deutsche AIDS-Hilfe auch mit ihrer kürzlich gestarteten Initiative „ICH WEISS WAS ICH TU“. Das ist eine Kampagne, die sich über die verschiedensten Medien hinweg erstreckt, einschließlich des Internets – ich glaube, dass das sehr wichtig ist –, bis zu Aktivitäten vor Ort. Ich möchte ausdrücklich sagen, dass ich dieser Kampagne viel Erfolg wünsche – einen Erfolg, der sich dann möglichst auch so niederschlägt, dass wir in den nächsten Jahren auf bessere Zahlen bei den Neuinfektionen blicken können.

Darauf hinwirken und den Trend umkehren, das ist eine Aufgabe für uns alle. Deshalb werde ich auch nicht müde, nun gerade auch für die Benefiz- und Spendenaktionen rund um den Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember um Unterstützung zu bitten und um Unterstützung zu werben. Ich will jedem sagen, der noch unsicher ist: Ob Geld- oder Sachspenden – jeder einzelne Betrag und Beitrag hilft hier weiter. Ich glaube, auch jedes Zeichen der menschlichen Solidarität ist willkommen. Dieses kann man zum Beispiel setzen, indem man sich auf der Internetseite des Welt-AIDS-Tages als Botschafter einträgt.
Ich glaube, es wäre das beste Geburtstagsgeschenk für Sie, Herr Henn, und Ihre Mitstreiter in der Deutschen AIDS-Hilfe, wenn sich möglichst viele in unserer Gesellschaft engagieren – mit Optimismus, Tatkraft und der Bereitschaft, auch einmal einen unbequemen Weg zu gehen. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch und viel Kraft für die weitere Arbeit! Sie dürfen ab und zu auch unbequem sein, damit wir nicht vergessen, was noch Wichtiges zu tun ist. Alles Gute für die nächsten Jahre!

[Quelle: bundeskanzlerin.de]

„Aidshilfe muss mit eigener Stimme sprechen“ – Rede von Tino Henn

Am 13. November 2008 fand der diesjährige Welt-Aids-Tags-Empfang der Deutschen Aids-Hilfe statt. Folgend als Dokumentation die Rede von Tino Henn, Mitglied des Bundesvorstands der DAH:

„25 Jahre Deutsche AIDS-Hilfe“
Rede von Tino Henn,
Mitglied des Bundesvorstands der Deutsche AIDS-Hilfe e.V. (DAH),
anlässlich der Veranstaltung „Empfang zum Welt-AIDS-Tag 2008“
Umspannwerk Berlin-Kreuzberg, 13. November 2008

(Es gilt das gesprochene Wort.)

Tino Henn, Vorstandsmitglied der deutschen Aids-Hilfe
Tino Henn, Vorstandsmitglied der deutschen Aids-Hilfe

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrte Frau Bundesministerin Schmidt,
sehr geehrte Damen und Herren Staatssekretäre,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
sehr geehrte Mitglieder des Abgeordnetenhauses und der Landtage,
sehr geehrte Frau Prof. Pott,
sehr geehrte Frau Bätzing,
sehr geehrter Herr Dr. Heide,
liebe Ehrenmitglieder,
liebe Mitglieder und Kooperationspartner,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

zunächst einmal möchte ich meiner Freude Ausdruck verleihen, dass die Bundeskanzlerin und die Bundesgesundheitsministerin an diesem Abend zu uns gekommen sind. Dies zeigt die gesellschaftliche Anerkennung, die unsere Arbeit erfährt.

Meine Damen und Herren: Am 23. September 1983 wurde die Deutsche AIDSHilfe in Berlin gegründet, kurz darauf folgten die Aidshilfen in München und Köln. Heute sind in der Deutschen AIDS-Hilfe 120 örtliche Aids- und Drogenhilfen, Präventionsprojekte, Schwulen- und Lesbenzentren sowie Wohn- und
Pflegeprojekte im Engagement gegen Aids und für Menschen mit HIV vereint.

Viel ist geschehen in den letzten 25 Jahren: Schienen zunächst vor allem Schwule und Drogengebraucher in den westlichen Industriestaaten von HIV und Aids betroffen zu sein, haben wir es heute mit einer weltweiten Epidemie zu tun. Auch die Krankheit selbst und ihre Wahrnehmung haben sich geändert – neben der Todesdrohung steht nun das Bild einer zwar nicht heilbaren, aber behandelbaren chronischen Krankheit. Und nicht zuletzt ist der gesellschaftliche Umgang mit der Krankheit und den von ihr Bedrohten und Betroffenen „normaler“ geworden – zumindest an der Oberfläche. Über schwule Lebensweisen zum Beispiel lässt sich heute meist leichter reden als noch vor 25 Jahren, und auch der „mündige Drogenkonsum“ scheint zumindest denkbar.

Aber, und das ist ein großes Aber: „Normal“ sind HIV und Aids, Homosexualität und Drogengebrauch keineswegs: Auch heute noch werden schwule Männer zusammengeschlagen, weil sie sich in der Öffentlichkeit geküsst haben. Und nach wie gibt es Anfragen von besorgten Mitmenschen, ob man sich beim gemeinsamen Benutzen eines Glases mit HIV anstecken könne.

Meine Damen und Herren, die Krankheit, der Umgang mit ihr und damit auch die Aidshilfearbeit haben sich geändert. Was aber ist geblieben, worauf können wir auch in Zukunft bauen? Ich möchte drei Punkte benennen, die sich als tragfähig erwiesen haben:
1. Selbsthilfe,
2. Interessenvertretung,
3. Strukturelle Prävention.

1. Selbsthilfe
Die Empörung über den unmenschlichen Umgang mit Aidskranken. Die Solidarität mit den Betroffenen. Die Angst vor HIV und Aids. Und das Bewusstsein: Aids bedroht nicht nur Leib und Leben, sondern auch unsere Freiheit. Das waren einige der Triebfedern der Aidshilfe-Gründergeneration.

Diese Männer und Frauen haben sich selbst geholfen. Weil sie ihren Lebensstil schützen wollten. Weil sie anderen helfen wollten.
Zwei der Gründer der Deutschen AIDS-Hilfe sind heute Abend hier anwesend: Rainer Schilling und Bruno Gmünder. Ich begrüße sie ganz herzlich.

Die Aidshilfebewegung kommt also aus der Selbsthilfe. Ja, sie ist Selbsthilfe. Wer sich hier engagiert, der gehört oft selbst zu denjenigen, die von HIV und Aids besonders bedroht und betroffen sind. Wir sind nicht nur nah dran, sondern mittendrin.

Damals, in den entscheidenden Jahren, wurde auch auf der Seite des Staates erkannt, dass ohne die Selbsthilfe nichts geht. Denn die am stärksten von HIV betroffenen Gruppen standen und stehen staatlichen Stellen oft misstrauisch gegenüber: schwule Männer, Drogengebraucherinnen und Drogengebraucher, Menschen in der Sexindustrie und Menschen in Haft, heute auch Migrantinnen und Migranten aus Ländern mit weiter HIV-Verbreitung. Um Zugang zu ihnen zu bekommen, braucht man vor allem eins: Glaubwürdigkeit. Und die erreicht man, indem man mit ihnen zusammenarbeitet. Ihre Sprache spricht. Ihre Bilder verwendet. Ihre Lebensweisen kennt und akzeptiert. Dinge beim Namen nennt.

Die Aidshilfe machte sich also fortan mit Unterstützung des Staates an die Arbeit – an dieser Stelle spreche ich all jenen in Regierung und Verwaltung unseren herzlichen Dank aus, die uns in den letzten 25 Jahren solidarisch begleitet, gefördert und auch geschützt haben. Stellvertretend nenne ich an dieser Stelle die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth, Sie, liebe Frau Bundesministerin Schmidt, und natürlich Sie, liebe Frau Professor Pott: Die langjährige Unterstützung durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und durch Sie ganz persönlich haben maßgeblichen Anteil daran, dass wir partnerschaftlich Präventionsarbeit leisten konnten und dass die Arbeitsteilung zwischen Staat und Selbsthilfeorganisation ein auch international beachtetes Erfolgsmodell geworden ist.

Gemeinsam mit unseren Partnern in der Prävention haben wir sachliche Aufklärung gegen die Aids-Hysterie in Teilen der Medien, der Politik und der Gesellschaft gestellt. Wir haben Präventionsbotschaften formuliert und zielgruppengerecht an den Mann und die Frau gebracht. Gemeinsam mit Fachleuten und Betroffenen haben wir neue Präventionsansätze entwickelt, zum Beispiel mit und für Drogengebraucher. Wir haben angepackt und eigene Pflegedienste gegründet, um Menschen mit HIV angemessen zu versorgen, denn der Umgang mit ihnen, ihren Lebenspartnern und Freunden war in den bestehenden Pflegeeinrichtungen oft unwürdig.

Eine tragende Säule der Aidshilfebewegung war, ist und bleibt also die Selbsthilfe. Und dazu gehört für uns immer auch die Hilfe zur Selbsthilfe. Das heißt: Initiativen anstoßen, unterstützen und begleiten und mit ihnen zusammenarbeiten. So fördern wir zum Beispiel die Selbsthilfe von Menschen mit HIV und Aids, auch wenn sie – zum Glück – unbequem war und ist. Aber wir brauchen diese Bodenhaftung, und das gemeinsame Engagement von HIVPositiven, HIV-Negativen und Ungetesteten zeichnet uns und unsere Arbeit aus.
Oder nehmen wir Helmut Ahrens, den ersten Drogenreferenten der Deutschen AIDS-Hilfe. Auch er hat Selbsthilfe angestoßen und gefördert, denn auf seine Initiative geht das im Juni 1989 gegründete und heute allgemein anerkannte Netzwerk von Junkies, Ehemaligen und Substituierten zurück. Heute heißt Hilfe zur Selbsthilfe für uns zum Beispiel die Initiierung und Förderung des Afrikaner- Netzwerks AfroLeben+. Oder Unterstützung, um irgendwann einmal auch in Ländern Osteuropas zu stabilen Selbsthilfestrukturen zu kommen – unter gesellschaftlichen Bedingungen allerdings, die aus Sicht der Prävention nur als katastrophal gelten können.

2. Interessenvertretung
Aidshilfe ist eine Selbsthilfeorganisation, und das muss sie auch bleiben. Aus unserem eigenen Verständnis heraus, aber auch als Voraussetzung für eine weiterhin erfolgreiche Prävention. Das heißt: die Aidshilfe muss und darf mit anderen zusammenarbeiten, aber sie muss sich dabei ihre Unabhängigkeit so weit wie möglich bewahren. Vom Staat. Von der Medizin. Und erst recht von der Pharmaindustrie und den Lobbyisten im Gesundheitswesen.

Aidshilfe muss mit eigener Stimme, in eigener Sache sprechen. Das hat sie von Anfang an getan, laut und vernehmlich. Ich erinnere hier an die Großdemonstration in München im Oktober 1987 gegen den bayerischen Maßnahmenkatalog – er sah unter anderem vor, „Ansteckungsverdächtige“ zur Durchführung des HIV-Tests vorzuladen oder auch schwule Saunen zu schließen. Ein anderes Beispiel: Pfingsten 1988 gingen Teilnehmer des Zweiten Europäischen Positiventreffens unter dem Motto „Mut gehört dazu“ in München auf die Straße – damals wie heute ein unerhört mutiger Schritt, offen als Positive aufzutreten. Wir gedenken an dieser Stelle –stellvertretend für viele andere – der 1993 verstorbenen Celia Bernecker-Welle, einer offen lebenden HIV-infizierten Drogengebraucherin, die entscheidenden Anteil an der Vorbereitung und Durchführung dieser Demonstration hatte.

Nun ist es in den letzten Jahren ruhiger geworden um das Thema HIV und Aids, die großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen scheinen ausgefochten.
Und manches Mal hat die Aidshilfe auch geschwiegen, wenn sie gefordert war, oder sie hat sehr spät ihre Stimme gefunden. Doch ich bleibe dabei: Die Aidshilfe ist keine Präventionsagentur, die lautlos funktioniert. Sie ist und bleibt Selbsthilfe, sie ist und bleibt Interessenvertretung. Das ist für uns Prävention, strukturelle Prävention. Deswegen mischen wir uns ein, wenn Verhältnisse und Entscheidungen das Leben mit HIV und Aids und die Prävention betreffen – in Deutschland wie auch international.

Wir formulieren unsere Interessen selbst. Wir vertreten diese Interessen. Wir entwickeln im Dialog mit der Selbsthilfe und unseren Partnern Präventionsansätze und verteidigen sie gegen moralische oder auch ideologische Vorbehalte. Und wir leihen – ähnlich wie bei der Hilfe zur Selbsthilfe – jenen eine Stimme, die noch nicht gehört werden.

3. Strukturelle Prävention
Selbsthilfe, Hilfe zur Selbsthilfe und Interessenvertretung sind Grundpfeiler unserer Arbeit. Ihren Rahmen findet sie im Konzept der strukturellen Prävention, das kluge Köpfe – stellvertretend erinnere ich hier an Hans-Peter Hauschild – schon Ende der 80er Jahre entwickelt haben. Dieses Konzept prägt uns bis heute, und wir halten es auch in Zukunft für unverzichtbar.

Strukturelle Prävention heißt: Wir nehmen das Verhalten Einzelner in den Blick, aber auch die Verhältnisse oder eben Strukturen, die dieses Verhalten beeinflussen. Auf diese Strukturen versuchen wir so einzuwirken, dass Menschen sich selbst und andere schützen können und wollen – und das auch tun. Strukturelle Prävention heißt deshalb für uns zum Beispiel Antidiskriminierungs- und Menschenrechtsarbeit. Strukturelle Prävention heißt, die Integration von Menschen mit HIV und anderen chronischen oder versteckten Krankheiten ins Arbeitsleben voranzutreiben. Und Strukturelle Prävention heißt Selbstwertstärkung, zum Beispiel als Element unserer Kampagne „Ich weiß, was ich tu“ für Männer, die Sex mit Männern haben.
Denn eines haben wir gelernt: Wer sich schätzt, schützt sich auch eher. Und er schützt auch andere. Schwierig hingegen ist der Schutz der Gesundheit oft, wenn man sich selbst und seine Sexualität verleugnen muss. Wenn man ständig in Angst vor Abschiebung lebt. Wenn man hinter Gittern keinen Zugang zu sterilem Spritzbesteck hat. Oder nicht ins erfolgreiche Projekt zur medizinisch kontrollierten Heroinvergabe an Schwerstabhängige aufgenommen wird, weil dessen Fortführung an ideologischen Widerständen scheitert.

Wir übernehmen Verantwortung für die Prävention. Aber wir können diese Arbeit nicht alleine schultern. Hier sind Sie alle gefragt. Jeder von Ihnen kann etwas tun, an seinem Platz in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Medien und Gesellschaft. Setzen Sie sich mit uns ein für Solidarität und Akzeptanz.
Engagieren Sie sich ehrenamtlich oder finanziell. Sichern Sie die Präventionsarbeit und ehren Sie damit auch jene mutigen Männer und Frauen aus der Aidshilfebewegung, die heute Abend nicht mehr bei uns sein können.

Meine Damen und Herren, lassen sie mich schließen, indem ich im Namen der Deutschen AIDS-Hilfe allen Frauen und Männern danke, die in den vergangenen 25 Jahren zum Erfolg unserer Arbeit beigetragen haben, die sich ehren- und hauptamtlich engagiert oder uns in einer anderen Art und Weise unterstützt haben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Prävention muss aufklärerisch ansetzen

Anlässlich des Starts der bundesweiten Präventionskampagne „ich weiss, was ich tu!“ am 13.10.2008 dokumentieren wir hier die Rede, in der Dr. Dirk Sander die Hintergründe der Kampagne erläuterte:

Dr. Dirk Sander 13. Oktober 2008 / 11.30

ICH WEISS WAS ICH TU – Start-Pressekonferenz

Vielen Dank Frau Prof. Dr. Pott und vielen Dank Winfried!

Ich möchte Ihnen jetzt kurz die Hintergründe unserer neuen Kampagne erläutern.

Die HIV-Prävention in der Bundesrepublik Deutschland – das wurde schon gesagt – ist auch im internationalen Vergleich als Erfolgsgeschichte zu bezeichnen.

Diese Aussage mag einige von Ihnen verwundern:

Beobachten wir doch seit Beginn dieses Jahrtausends einen Anstieg der HIV-Neudiagnosen, insbesondere in der Gruppe, die seit Beginn der Aids-Epidemie in den 80er Jahren am meisten von HIV und Aids betroffen war -und ist. Nämlich bei schwulen, bisexuellen und anderen Männern, die Sex mit Männern haben. Wir beobachten diesen Anstieg gleichfalls in einer Gruppe, die – so zeigen es soziologische Studien – in aller Regel auch bestens über Infektionswege und Schutzmöglichkeiten aufgeklärt zu sein scheint.

Über die Gründe für diesen Anstieg ist auch in den Medien in den letzten Jahren viel spekuliert worden: Es wird z.B. immer wieder eine „neue“ oder „wiederkehrende Sorglosigkeit“ im Schutzverhalten bei schwulen Männern behauptet. Skandalisierend wird von „Pozzern“ und „bug-chasern“ berichtet. Diese mag es geben, allerdings stellen sie dann ein absolutes Randphänomen im HIV-Infektionsgeschehen dar. Wenig wird sich übrigens bei der teilweise reißerischen Berichterstattung mit der Frage auseinandergesetzt, welche sozialen und psychischen Hintergründe ein solches selbst- und fremdschädigendes Verhalten haben könnte.
Auch geraten immer wieder HIV-positive unter Generalverdacht! Sie hätten deshalb mehr – wenn nicht die alleinige Verantwortung für die epidemiologische Entwicklung zu tragen. Diesen Anspruch lehnen wir allerdings aus guten ethischen aber auch medizinisch-therapeutischen Gründen ab. Darauf komme ich noch mal zurück.

Pressekonferenz zum Start der Kampagne (Foto: DAH)
Pressekonferenz zum Start der Kampagne (Foto: DAH)

Als Begründung für die unterstellte „zunehmende Sorglosigkeit“ wird behauptet, dass die Ursache für ein abnehmendes Schutzverhalten in den beeindruckenden medizinisch-technischen Entwicklungen in der Behandelbarkeit der HIV-Infektion zu sehen sei. Diese Fortschritte haben nämlich in den letzten zehn Jahren dazu beigetragen, dass eine HIV-Infektion – wenn sie rechtzeitig erkannt wird -, nicht mehr wie früher schnell zu AIDS und einem frühen Tod führt. Wir sprechen heute allgemein von HIV als einer chronischen behandelbaren Krankheit mit langen Überlebenszeiten, die allerdings durch viele negative körperliche, seelische sowie soziale Einschränkungen und Einschnitte gekennzeichnet sein kann.

Auch deshalb lohnt es sich weiterhin, sich vor HIV zu schützen!

Behauptet wird aber ohne empirische Belege, dass – kurz gesagt – die Angst abgenommen habe und deshalb das Schutzverhalten erodieren würde.

Aber der Schutz vor HIV ist kein Auslaufmodell!

Im Gegenteil! Die Schutzmotivationen sind auch nach 25 Jahren „Safer Sex“ – Botschaften bei 80 % unserer Zielgruppe ungebrochen hoch. Bei weiteren 10 % kommt es zu sporadischen Risikokontakten, – soweit jedenfalls die Zahlen in der aktuellen Erhebung von Michael Bochow und Axel Schmidt. Auch andere Studien stellen keine Abnahme der Schutzmotivationen fest.
Trotzdem haben wir einen Anstieg in den Neuinfektionen seit Beginn dieses Jahrtausends zu verzeichnen.

Wie hängt das zusammen, fragt man sich? Und hier komme ich nun zur Beantwortung der Frage, warum wir die Kampagne „ICH WEISS WAS ICH TU“ in dieser Form entwickelt haben.

Der Anstieg der HIV-Infektionen ist nämlich auf ein komplexes Bedingungsgeflecht zurückzuführen.
1. Erstens: Zum einen ist HIV durch andere sexuell-übertragbare Infektionen – wie z.B. die seit Beginn dieses Jahrtausends grassierende Syphilis – wieder leichter übertragbar. Liegt aber eine ulzerierende (geschwürige) Infektion wie z.B. die Syphilis vor, so ist es für HIV einfacher, anzudocken. Das gilt zum einen für den HIV-negativen Partner, der eine solche Syphilis-Infektion hat. Das gilt aber auch für gut therapierte schon HIVpositive Menschen: Hier erhöht eine zusätzliche andere sexuell-übertragbare-Infektion die Übertragungswahrscheinlichkeit. Denn, und das möchte ich an dieser Stelle auch festhalten: Eine erfolgreiche HIV-Therapie verringert auf individueller Ebene die Übertragungswahrscheinlichkeit von HIV immens.
Insgesamt müssen wir also stärker noch als bisher die Infektionswege und Behandlungsmöglichkeiten anderer sexuell-übertragbarer Infektionen in der Prävention aufgreifen.

2. Zweitens: Wir gehen von einer gar nicht geringen Anzahl von Menschen aus, die nicht wissen, oder nicht wissen wollen, wie ihr Immunstatus ist. Wir wollen die Leute aber zum Test ermuntern. Das ist uns auch zum Teil schon in den letzten Jahren gelungen: Schwule Männer lassen sich im Vergleich zu anderen Teilgruppen der Gesellschaft öfter testen. Auch das ist ein Grund für den Anstieg der Neudiagnosen. Wir wollen aber trotzdem niedrigschwellige regionale (Schnell-)Testangebote weiter ausbauen.
Denn aus medizinisch-therapeutischer Sicht lohnt es sich heute zu wissen, ob man HIVpositiv ist, oder nicht. Aber ein Test muss sich auch aus sozialer Sicht lohnen! Denn immer noch erfahren Menschen, die HIVpositiv sind, massive Stigmatisierungen, sie werden diskriminiert, ihnen wird Leichtfertigkeit unterstellt. Auch hier muss Prävention quasi aufklärerisch ansetzen.

3. Drittens: Deshalb verfolgt die neue Kampagne auch keinen rein primärpräventiven Ansatz. Wir werden gleichberechtigt HIV-negative und HIV-positive Personen als Rollenmodelle in die Kampagne einführen. Die HIV-positiven können z.B. in der Prävention die Aufgabe übernehmen, falsche Bilder vom Leben mit HIV aufzuweichen, falsche Risikostrategien entlarven, und die oben genannten falschen Bilder von HIV-Positiven selbst korrigieren helfen! Denn: HIV-Infektionen passieren viel „banaler“ als es in den Medien bisher dargestellt wird; z.B. nicht auf gewissen Partys sondern in Beziehungen, sie beruhen auf kommunikativen Missverständnissen, auf Infektionsmythen und Wunschdenken. Auf den Schutz verzichtet wird auch manchmal wenn man sich in biographisch krisenhaften Situationen befindet. All das wird in der Kampagne aufgegriffen werden.

4. Viertens: Die alten Safer-Sex-Botschaften (Beim Analverkehr Kondome, beim Blasen: Raus bevor´s kommt) sind gelernt. Sie verschwinden deshalb aber nicht, sondern sie müssen durch neue lebensweltbezogene Botschaften ergänzt werden. Es geht heute deshalb nicht mehr nur darum, den Leuten zu sagen, wann ein Kondom auf jeden Fall zum Einsatz kommen sollte (nämlich dann, wenn der Sex sporadisch ist, wenn man nichts über den gesundheitlichen Zustand des Partners weiß, also im Unsicherheitsfall); man muss unseres Erachtens heute auch darüber reden, wann das Kondom ohne Risiken mal weggelassen werden kann. Dazu gehört aber die Bereitschaft, sich intensiv mit seinen sexuellen Wünschen und dem eigenen sexuellen Handeln auseinander zu setzen und individuelle passgenaue Risikomanagementstrategien zu entwickeln. Das tun die Individuen zwar schon, aber nicht immer sind die Strategien wirklich sicher. Dieses Management erfordert Kommunikation und Kommunikationsbereitschaft. Hier will die Kampagne, deren Motto „ICH WEISS WAS ICH TU“ Sie jetzt schon besser verstehen, Informationen bereit stellen.

5. Fünftens: Die widersprüchlichen Bilder von Aids müssen aufgegriffen und korrigiert werden. Wie eine aktuelle Studie festhält, existieren zwei gegensätzliche Bilder von Aids in der Zielgruppe. Auf der einen Seite die Angst machenden Bilder des „Alten Aids“. Auf der anderen Seite die Bilder von und Kontakte zu Menschen, die HIVpositiv sind, offensichtlich aber relativ gut damit leben können. Diese widersprüchlichen Erfahrungswerte bzw. kognitiven Dissonanzen können zur selektiven Wahrnehmung von Informationen führen, und sind deshalb für die Prävention kontraproduktiv. Sie „forcieren“ – so schreibt der Autor der Studie – „sexuelles Risikoverhalten bei schwulen, bisexuellen und anderen Männern, die Sex mit Männern haben“ (Zitat Ende). Auch hier müssen wir in der Prävention ansetzen. Sie dürfen z.B. auf die Uraufführung unseres ersten Kampagnen-Films gespannt sein, den wir Ihnen gleich im Anschluss aber auch heute Abend vorstellen möchten. Er zeigt junge HIV-positive schwule Männer, die Licht- und Schattenseiten ihres Lebens.

6. Sechstens: Und damit möchte ich es bewenden lassen: Die alten Medien der Prävention müssen zunehmend durch neue Medien ergänzt und ersetzt werden. Die Kontakt- und Informationssuche hat sich nämlich insbesondere in unserer Zielgruppe in den letzten Jahren deutlich ins Internet verschoben. Ein Großteil der jungen Schwulen – so zeigt es eine angloamerikanische Studie – findet heute seinen ersten Sexpartner im Internet! Hierauf haben wir uns in der Deutschen Aids-Hilfe auch schon eingestellt: Unsere Online-Beratung, aber auch der „health-support“ auf dem beliebtesten deutschen schwulen Kontaktportal erfreut sich eines wachsenden Nachfrage-Zulaufs. Was bisher noch in der Bundesrepublik fehlte ist eine Internetkommunikationsplattform für die am meisten von HIV betroffene Zielgruppe. Dieses zentrale Kampagnenmodul werden wir ebenfalls heute starten. Die „ICH WEISS WAS ICH TU“- Internetplattform wollen wir in den nächsten Jahren zu dem zentralen Gesundheits-, Informations- und Diskussionsportal für die Zielgruppe ausbauen. Wir erreichen damit Personen, die wir durch die herkömmlichen Medien nur noch schlecht erreichen.

Lassen Sie mich, bevor Herr Kuske Ihnen noch einige Kampagnendetails zeigt und Sie Nachfragen stellen können, mit einem Fazit schließen:

Prävention, das ist wohl deutlich geworden, ist schwerer bzw. komplexer geworden. Wir wollen in unserer neuen zielgruppenorientierten Kampagne „ICH WEISS WAS ICH TU“ diese und andere neue Anforderungen aufgreifen. Wir erhoffen uns von Ihnen, dass sie diesen Weg redaktionell begleiten und unterstützen.

Vielen Dank erstmal, ich bitte Herrn Kuske, den Kampagnenmanager, ums Wort.

AIDS und Armut – ein vernachlässigter Zusammenhang!

Im Folgenden als Dokumentation ein Text des ‚Netzwerk plus e.V. – Das bundesweite Netzwerk der Menschen mit HIV und Aids‘ zum Thema Aids und Armut:

Von HIV und Aids betroffen zu sein bedeutet, wie bei kaum einer anderen Infektionskrankheit, ein überdurchschnittliches Risiko, einen wirtschaftlichen Abstieg hinnehmen und von Sozialtransfer-Leistungen leben zu müssen.

Die Mehrzahl der Menschen mit HIV und Aids wird von der Krankheit in jungen Jahren getroffen, in denen Gesunde Vermögen aufbauen und für ihr Alter vorsorgen. Dank der verbesserten Lebenserwartung steigt auch die Zahl älterer Menschen mit HIV und Aids. Viele HIV-Positive werden bis an ihr Lebensende auf Hartz IV oder Grundsicherung angewiesen sein. Die Bemessung dieser Leistungen fällt jedoch immer rigoroser aus, trotz steigender Lebenshaltungskosten und immer neuer Kürzungen im Gesundheitssystem. Die Mehrbedarfszuschläge für Ernährung, Hygiene und Kondome sind – wenn sie denn überhaupt in Anspruch genommen werden – seit über zehn Jahren nicht mehr angehoben worden. Nicht einmal ein Inflationsausgleich wurde vorgenommen.

Angesichts dieser Lage verzichten viele Betroffene schon seit Jahren auf kleine Extras wie eine Reise oder eine besondere Anschaffung. Die überwiegende Mehrheit lebt allein. Zur Armut kommt dann oft noch die soziale Isolation hinzu. Wenige der Betroffenen haben die Energie, für ihre Bedürfnisse mit politischen Forderungen einzutreten.

Es gibt kaum genaue Zahlen darüber, wie stark Menschen mit HIV und Aids von materieller Not betroffen sind, aber sicher ist: Leben mit der HIV-Infektion geht häufig einher mit Armut und sozialer Ausgrenzung. Netzwerk plus erwartet deshalb von der Deutschen AIDS-Hilfe, dass sie sich künftig intensiver mit den wirtschaftlichen Folgen von HIV und Aids für die davon betroffenen Menschen befasst und darauf in der Öffentlichkeit stärker aufmerksam macht. Eine konkrete Hilfe wäre es beispielsweise, die Arbeit der regionalen Aidshilfen zur Linderung von sozialen Notlagen zu erfassen und zu dokumentieren.

Manifest der Menschen mit HIV und AIDS zum Welt-AIDS-Kongress 2008 in Mexico City

Im Folgenden als Dokumentation ein ‚Manifest‘, das von Menschen mit HIV und Aids am 3. August 2008 auf dem Welt-Aids-Kongress in Mexico City vorgestellt wurde:

MANIFEST

der Menschen mit HIV und AIDS zum Welt-AIDS-Kongress 2008 in Mexico City

Die Veröffentlichung der Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen (EKAF) in der Schweizerischen Ärztezeitschrift vom 30. Januar 2008 über die Nicht-Infektiosität von Menschen mit HIV* hat viele Reaktionen hervorgerufen.

Die daraus resultierende Debatte über die Evidenz der zugrundeliegenden Studien und die Kritik an der breiten öffentlichen Mitteilung haben auch rund um die Welt die Organisationen von Menschen mit HIV und AIDS und deren Repräsentanten zusammengerufen:

A. Wir begrüssen ausdrücklich die Veröffentlichung der EKAF.

Sie ist wissenschaftlich hinreichend begründet und begünstigt die Lebensgestaltung, die Lebensqualität und insbesondere die Integration von Menschen mit HIV und AIDS und damit auch eine strukturelle, nachhaltige Prävention für Menschen, die ihren aktuellen HIV-Status nicht kennen.

Die offene Verfügbarkeit aller wissenschaftlichen Fakten ist die Grundlage für jede glaubwürdige Aufklärung und Information.

Nur eine aufgeklärte, tolerante Gesellschaft, in der die Menschen mit HIV und AIDS integriert sind, kann eine nachhaltig wirksame Antwort auf die Herausforderung HIV und AIDS geben.

B. Wir fordern angesichts der EKAF-Veröffentlichung weltweit die Institutionen und Repräsentanten der Wissenschaft, Medizin und Wirtschaft, der Regierungen, der WHO und der UNAIDS auf,

1.die auf wissenschaftlichen Studien basierende Evidenz der EKAF-Verlautbarung anzuerkennen,
2.die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten von Menschen mit HIV und AIDS zu respektieren,
3.die Mündigkeit von Individuum und Gesellschaft zu akzeptieren,
4.volle und uneingeschränkte Aufklärung zu garantieren,
5.bestehendes Wissen konsequent zu erweitern,
6.den Zugang zu antiviralen Therapien weltweit voranzutreiben.

C. Wir erkennen den konkreten Einsatz der Akteure für diese Forderungen an folgenden Merkmalen:

1. Die Debatte über die Bedeutung der EKAF-Verlautbarung für die Prävention wird objektiv und evidenzbasiert geführt.

Jeder Versuch, Information und Diskussion aus moralischen, politischen, oder anderen nicht sachbezogenen Motiven zu unterbinden, wird als inakzeptable Zensur ausdrücklich abgelehnt.

Die verschiedenen möglichen individuellen Schutzmassnahmen und ihre HIV-Transmissionsrisiken werden grundsätzlich mit gleichen wissenschaftlichen Massstäben beurteilt.

2. Das bisher in der Öffentlichkeit wahrgenommene Bild von Menschen mit HIV und AIDS wird deren tatsächlichen Alltagsrealitäten angepasst.

Das heisst vor allem: Auf das Bild des gefährlichen und verantwortungslosen HIV-Infizierten und dessen Instrumentalisierung wird genauso verzichtet, wie auf das Bild des bemitleidenswerten Zeitgenossen ohne Selbstverantwortung.

3. Die Öffentlichkeit wird über Prävention, Behandlung und die aktuellen Lebenswirklichkeiten transparent und uneingeschränkt informiert.

Die Strategien von Prävention und Behandlung werden sowohl beim Individuum als auch in der Gesellschaft an die erforderliche Integration von Menschen mit HIV und AIDS angepasst.

Verantwortung ist unteilbar.

Das heisst auch: Die Rechtssprechung wird diesem Grundsatz und den wissenschaftlichen Fakten gerecht.

Alle Patienten und Patientinnen haben gleichermassen Zugang zu Information, und sie haben volle Entscheidungsfreiheit über das individuell beste Therapieregime und die eigene Strategie zur individuellen Prävention und Harm Reduction.

Im Sinne der Ottawa-Charta der WHO ist Gesundheitsförderung Bestandteil aller Strategien und Massnahmen. Sie zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Mass an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen.

4. Der bisherige Erfolgsweg der Prävention von HIV und AIDS mit unvoreingenommenen Aufklärungskampagnen wird beibehalten und gestärkt.

5. Studien, die sich am jeweils aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse orientieren und soziale Faktoren wie etwa Lebensgestaltung, und Gender einbeziehen, werden gezielt gefördert.

Das sind in der HIV-Transmissionsfrage zum Beispiel: Studien zur Risikominimierung beim Analverkehr, zur Differenzierung der Relevanz unterschiedlicher STDs bei HIV-Übertragungen und zur Adhärenz und zu Langzeitnebenwirkungen von ART.

6. Wirksame Therapie wird global als wirksame Prävention verstanden. Die Verteilung der Ressourcen wird weiter vorangetrieben.

Sie wird als prioritäre Grundvoraussetzung für Gesundheitsförderung, Prävention und Behandlung bewertet.

Die Versprechungen zur Überwindung des Arm-Reich-Grabens werden endlich eingelöst.

Organisationen
LHIVE                                                       Switzerland
P.V.A-Genève                                            Switzerland
AIDS-Hilfe Schweiz                                      Switzerland
HIV Europe                                                Europe
Positiv e.V.                                               Germany
Deutsches Community Advisory Board-HIV      Germany
AIDS-Hilfe Offenbach                                  Germany
Münchner AIDS-Hilfe e.V.                             Germany
Deutsche AIDS-Hilfe e.V.                               Germany
the WARNING                                             France
HIV Vereniging Nederland                              Netherlands
HIV-Danmark                                              Danmark
HIV-Sverige                                               Sweden
HIV-Iceland                                                Iceland
HIV Norge                                                  Norway
SIEC PLUS                                                 Poland
„Pozityvus gyvenimas“                                  Lithuania
The All Ukrainian Network PLWH                     Ukranie
Project THAMES                                          U.S.A.
EMPOWER                                                  India

Einzelpersonen:
Michèle Meyer                                         Switzerland
Mic Rasmussen  Meyer                              Switzerland
Christopher Park                                      Switzerland
Ervan Rached                                          Switzerland
Tommy Rauber                                        Switzerland
Ulli Würdemann                                        Germany
Michael Jähme                                         Germany
Bernd Aretz                                             Germany
Kalle Ohnemus                                          Germany
Konstantin Leinhos                                    Germany
Guido Kissenbeck                                      Germany
Olaf Lonczeswski                                      Germany
Matthias Hinz                                           Germany
Carsten Schatz                                        Germany
Stefan Stein                                            Germany
Engelbert Zankl                                         Germany
Ulrike Sonnenberg-Schwan                          Germany
Wolfgang Kirsch                                        Germany
Pierre Cuffini                                             France
Bernal Sabah                                            France
Bernard Forbes                                         U.K.
Julian Hows                                              U.K.
Peter Smit                                                Netherlands
Dr. Joseph Sonnabend                                U.S.A.
Michael Petrelis                                         U.S.A.
Sean Strubb                                             U.S.A.
Mike Barr                                                 U.S.A.
Peter McQuaid                                          U.S.A.
Tony Valenzuela                                        U.S.A.
Dermot Ryan                                            Australia
Neil McKellar-Stewart                                 Australia
Joel Reyes                                               Mexico
Monica Gonzales                                       Mexico
Itzuko Mendez                                         Mexico
Minerva Valenzuela                                   Mexico
Niklaus Ritter                                          Mauritius
Nakazono Hiroyuki                                    Japan
Konojar Akuyo                                         Japan
Patricia Ukoli                                           Nigeria

Anmerkung: das Manifest als pdf: Mexico Manifest deutsch und in der englischen Version Mexico Manifesto englisch

Bedeutung von ’sART ohne STD‘ – Infektiosität: Angst und Entlastung

Im Folgenden als Dokumentation ein Artikel zum Thema Infektiosität (Bezug: EKAF-Statement „keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne anderer STDs„), der im „info #44“ der Deutschen Aids-Hilfe (Info Telefon Online Beratung) erschienen ist:

Bedeutung von ’sART ohne STD‘ (1) – Infektiosität: Angst und Entlastung

Bedeutet die Abnahme der Infektiosität durch die HIV-Therapie eine Veränderung dessen, was das Leben mit einer HIV-Infektion heute ausmacht? Und wird dies nicht nur zu einer veränderten Selbstwahrnehmung von Positiven, sondern auch zu einem allgemeinen Umdenken führen, an dessen Ende gar eine Entstigmatisierung von HIV steht?
Auf dem diesjährigen Treffen des Beraterteams von www.aidshilfe-beratung.de führte Prof. Dr. Martin Dannecker in seinen Workshop die Bedeutung der Infektiosität und somit auch der sART für das psychische Wohlbefinden von Positiven aus.

Psychische Belastung
Ausgangspunkt war, dass die Diskussion rund um sART nicht nur für die Prävention bedeutungsvoll ist, sondern auch für die psychische Situation von HIV-Infizierten. Schließlich „leiden nicht wenige Positive unter einer diffusen Angst, ihre Sexualpartner/innen trotz Safer Sex anstecken zu können“. Für manche Positive ist das Wissen um ihre Infektiosität sogar das größte Problem, das sie mit HIV verbinden. Dannecker sprach von dem „Introjekt der Ansteckung” und meint damit die Selbstwahrnehmung von Positiven als “monströse Infektionsträger“. Der Infizierte trage die Infektiosität als „verinnerlichtes Böses“ in sich, was sein seelisches Befinden erheblich beeinflusse.
Das eigentlich Revolutionäre an der ganzen Diskussion um die Viruslast sei, dass sie die Vorstellung von Positiven über sich selbst verändert: „Ich bin infiziert, aber praktisch nicht ansteckend“ (zumindest unter bestimmten Bedingungen) ist eine Vorstellung, die vor den Diskussionen um sART undenkbar war. Workshopteilnehmer bestätigten, dass für viele Positive die Infektiosität eine große Verunsicherung und die Möglichkeit der Nichtansteckung allein schon eine Art halbe (seelische) Heilung darstelle.
Nach Dannecker könne dann zu einer Ablösung vom „verinnerlichten Bösen“ kommen, wenn „durch sART unter gewissen Bedingungen die Grundlage dieser Angst entfällt“ Dann könne es auf längere Sicht auch zu einer Umschreibung der Sexualität von HIV-Infizierten kommen: Wenn man als HIV-Infizierter sexuell nicht mehr lebenslang ansteckend ist, wird sich die Sexualität wieder stärker mit dem Leben verbinden und ihre Verschränkung mit Krankheit und Tod abstreifen.“

Loslassen?
Diskutiert wurde, dass die Abnahme der Infektiosität durch ’sART ohne STDs‘ eine große Erleichterung sein mag. Für viele andere hingegen kann ein Umdenken als schwierig erlebt werden, da viele Gefühle an das Introjekt der Ansteckung gebunden sind und zum Beispiel Schuldgefühle nicht einfach von der Persönlichkeit abgestreift werden können.
Auch für Negative stelle sich die Frage, wie bereit sie sind, ihre Risikobereitschaft neu zu justieren und alte Angstgefühle hinter sich zu lassen. Wer so sozialisiert wurde, dass HIV eine der größten Bedrohungen seiner Gesundheit darstellt, erfährt Safer Sex wie das Sicherungsnetz für den Hochseilartisten. Von heute auf morgen auf dieses Sicherungsnetz zu verzichten, bloß weil andere davon überzeugt sind, dass man mit einem neuartigen Gerät auf dem Rücken jetzt fliegen kann, wird nicht für jeden auf Anhieb eine wunderbare neue Möglichkeit darstellen. Es braucht ja auch Vertrauen, sich auf das Neue einzulassen. Und woher weiß man, wie zuverlässig das Ding wirklich funktioniert…?

Auswirkungen für die Beratung
Durch die aktuelle Diskussion zur Risikoeinschätzung rückt wieder ins Bewusstsein, dass Safer Sex immer nur eine Minimierung des Risikos war und nie hundertprozentige Sicherheit versprechen konnte. Somit bringt jede Senkung der Infektiosität zusätzliche Sicherheit, egal welche Form der Risikominderung jemand für sich wählt. Selbst Safer Sex wird so noch mal sicherer! Was nicht nur für (Hoch-) Ängstliche eine gute Nachricht ist und manche PEP überflüssig machen wird.
Der Stellenwert der Medizin wird zwar zunehmen und wer ’sART ohne STDs‘ als Risikovermeidungsstrategie praktiziert, steht verstärkt in der Verantwortung, seine Viruslast zu beobachten. Beratung in Aidshilfe wird in Zukunft komplexer werden, wenn es darum, kompetent zur „medikalisierten Prävention“ zu beraten und der Dachverband ist gefordert, entsprechende Qualifizierungsangebote bereit zu halten.
Die Risikoeinschätzung einer HIV-Übertragung mag dank ’sART ohne STDs‘ für manche zwar im Bereich der allgemeinen Lebensrisiken angekommen sein, aber eben nicht für jede/n dort dauerhaft bzw. kontinuierlich bleiben. Durch ’sART ohne STDs‘ statt Kondombenutzung kann das regelmäßige Therapie-Monitoring also auch eine durchaus belastende Rolle spielen.
Auch zum Therapiebeginn wird weitergehende Beratung gefragt sein. Ob der eventuelle sexuelle Benefit ein zusätzlicher guter Grund wird, früher mit der HAART zu beginnen, dürfte sich durch die bisherige Sorgfalt gegenüber dem Beginn einer dauerhaften Einnahme starker Medikamente beantworten.

Resümee
„Was wäre, wenn…“ ist der große Horizontöffner, mit dem Martin Dannecker einen Blick in noch recht unbestimmte Gefilde ermöglichte. Es ging zur Abwechslung also einmal nicht um die Erfüllung der Kriterien, die man unter ’sART ohne STDs‘ versteht und wie man diese im Verhältnis zu Risikoeinschätzungen setzt. Und auch nicht darum, ob man sich auf (Rest-) Risiken einlassen und das Kondom weglassen könne. Das Faszinierende seiner Ausführungen war das, was auch viele Positive in der sART sehen: Die Möglichkeit, sich als nicht infektiös sehen zu können. Und auch nicht mehr als (so) ansteckend wahrgenommen zu werden.

Die Betrachtungen führen zu weitergehenden Fragen:
– Bei der ’sART ohne STDs‘ geht es nicht um eine ‚gefühlte‘ Infektiosität, sondern um Laborwerte. Aber ist die Infektiosität in diesem streng rationalen Sinn das Prägende im Verhältnis von Positiven zu sich selbst und zwischen Positiven und Negativen?
– Es darf bezweifelt werden, dass gesellschaftliche Stigmatisierung auf solch rationalen Grundlagen basiert. Und selbst wenn, was hieße das denn für „Therapieversager“, „Späteinsteiger“, „Therapieverweigerer“ usw.?
– Was ist mit den vielen Positiven (und Negativen), für die die Infektiosität nicht das große, angstbesetzte Thema ist? Schließlich bedeutet Safer Sex für viele etwas anderes als Angstmanagement.
– Mit anderen Worten: Welche Bedeutung hat ’sART ohne STDs‘ für diejenigen, die sich trotz HIV einen angstfreien Umgang mit Sexualität bewahrt haben und für die Infektiosität nichts ‚Monströses‘, sondern ein Sachverhalt ist?

_ _ _
(1) Gemeint ist ’sART ohne STDs‘: Erfolgreiche stabile antiretroviralen Therapie (sART) mit vollständig supprimierter Viruslast seit über sechs Monaten bei Abwesenheit von sexuell übertragbaren Erkrankungen.

Martin Dannecker: Rede zur Einweihung des „Magnus- Hirschfeld- Ufer“

Zur Einweihung des Magnus-Hirschfeld-Ufers am 6. Mai 2008 hier als Dokumentation die Rede von Prof. Martin Dannecker:

Rede zur Einweihung des „Magnus-Hirschfeld-Ufer“ am 6. Mai 2008

Heute vor 75 Jahren drangen in weiße Hemden gekleidete Studenten der Berliner Hochschule für Leibesübungen als Auftakt der „Aktion wider den undeutschen Geist“ in das Institut für Sexualwissenschaft ein. Unter den barbarischen Klängen einer Blaskapelle, die vor dem Haus Aufstellung bezogen hatte, zerstörten sie die Einrichtung des Instituts und plünderten dessen Bestände, luden sie auf einen großen Lastwagen und transportierten sie ab. Ein erheblicher Teil davon landete wenige Tage später auf dem von nationalsozialistischen Horden errichteten Scheiterhaufen. Auf diesem wurden, begleitet von dem Feuerspruch „gegen die seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens“, am 10. Mai 1933 die Schriften von Magnus Hirschfeld und Sigmund Freud verbrannt.

Vernichtet wurde in jenen Tagen das Lebenswerk des homosexuellen Juden Magnus Hirschfeld, der, nicht weit von hier, das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaft im Jahr 1919 eingerichtet und bis zu dessen Zerstörung geleitet hat. Hirschfeld befand sich in jener schrecklichen Zeit bereits im Exil. Er, der schon mehrfach von Nazis angegriffen und 1921 bei einem Attentat schwer verletzt wurde, hatte sich angesichts der immer mächtiger werdenden nationalsozialistischen Umtriebe entschlossen, von einer im Jahr 1930 angetretenen Vortragsreise nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren. Im Exil ist er an seinem 67. Geburtstag in Nizza gestorben.

Hirschfeld, der am 14. Mai 1868 im pommerschen Kolberg als Sohn eines angesehenen Arztes geboren wurde, ist mit Berlin auf besondere Weise verbunden. Hier, in Charlottenburg, lässt er sich, nachdem er vorher zwei Jahre in Magdeburg praktiziert hatte, 1896 als 28-jähriger Arzt nieder. Offenbar befand er sich während dieser Zeit in hochgespannter Stimmung, die ausgelöst wurde durch den Selbstmord eines homosexuellen Patienten von ihm und durch die Verurteilung des homosexuellen Dichters Oscar Wildes wegen „Verletzung der Sittlichkeit“ im Jahr 1895.

Diese beiden Ereignisse, so betonte Hirschfeld später immer wieder, hätten den Anstoß für seine wissenschaftliche und sexualreformerische Beschäftigung mit der Homosexualität gegeben. Der Fall des berühmten Dichters ins Nichts und der Selbstmord seines homosexuellen Patienten konnten einen, der sexuell und erotisch dem gleichen Geschlecht zugeneigt war, nicht gleichgültig lassen. Denn als Homosexueller identifiziert man sich nolens volens mit dem Schicksal anderer Homosexueller, was bedrohlich sein kann. Die Reaktionen auf die Bedrohung fallen je nach historischem Ort und individueller Voraussetzung ganz unterschiedlich aus. In Magnus Hirschfeld, der ein mutiger Mann war, reifte aus dem Gefühl der latenten Bedrohung der Entschluss heran, die Welt so zu verändern, dass in ihr auch einer wie er einen sicheren und reputierlichen Platz haben kann. Dergleichen aber muss von den Metropolen aus durchgesetzt und es muss politisch organisiert werden. Und kaum in Berlin angekommen, publizierte Hirschfeld unter dem Titel „Sappho und Sokrates“ seinen ersten sexualwissenschaftlichen Text, der mit dem nicht geringen Anspruch auftrat, die gleichgeschlechtliche Liebe zu erklären.

Mit einer gewissen Berechtigung kann dieser Text als das Gründungsmanifest der ersten Homosexuellenbewegung in der Geschichte bezeichnet werden. Denn die kleine Schrift muss zusammengedacht werden mit der kurz nach deren Publikation erfolgten Gründung des „Wissenschaftlich-humanitären Komitees“ (WhK) im Jahr 1897, dessen Vorsitzender Hirschfeld bis 1929 blieb. Das WhK war nichts anderes als eine später zu einer Bewegung angewachsene Gruppierung, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, im Namen der Wissenschaft die Gleichstellung Heterosexueller und Homosexueller durchzusetzen. Damit war mehr als die rechtliche Gleichstellung gemeint, auch wenn die Änderung des § 175 vom WhK als vordringlich angesehen wurde.

Sexualwissenschaft und Sexualreform waren für Hirschfeld untrennbar miteinander verknüpft. Durchdrungen von der Überzeugung, dass Wissen zur Vernunft führt, rückte er mit einem unbändigen Willen zum Wissen der Sexualität, nicht nur jener der Homosexuellen, zu Leibe. Er erforschte sie mit empirischen Mitteln, was damals neu und überaus originell war und zu Einsichten führte, die nicht vom klinischen Blick zugerichtet waren. Eine solche, durch ihr sexualreformerisches Standbein genuin politische Sexualwissenschaft hat es so nicht mehr gegeben. Die Nationalsozialisten, die sich durchaus sexualwissenschaftlicher Erkenntnisse zur Legitimierung ihrer Interessen bedienten, haben der Sexualwissenschaft ihre sexualreformerischen Füße abgeschlagen. Danach ging sie auf dem Kopf und hat sich erst sehr viel später wieder dem Gedanken angenähert, dass Sexualwissenschaft etwas mit der Befreiung der Sexualität zu tun hat und es folglich zu ihren Aufgaben gehört, den wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Zugriff auf das Sexuelle zu analysieren.

Auch das außerhalb der Universität angesiedelte Hirschfeldsche Institut für Sexualwissenschaft ist, was seine in ihm gebündelten und von ihm ausgehenden Aktivitäten anbelangt, eine singuläre Erscheinung. In ihm wurde archiviert, geforscht, beraten, behandelt und fortgebildet, es organisierte Aufklärungsveranstaltungen, und das alles in bemerkenswertem Umfang. Darüber hinaus trafen sich im Institut Menschen mit einer nicht der Norm entsprechenden Sexualität. Seine Türen standen jedoch auch Besuchern aus Wissenschaft, Politik und Kunst weit offen. Fragt man sich aus der Perspektive universitärer Einrichtungen, wie das alles zu bewältigen war, kann man nur antworten: das alles wäre innerhalb einer Universität, in der es weitaus weniger bewegt zugeht, nicht möglich gewesen. Das Besondere an dem Institut von Hirschfeld liegt für mich gerade darin, dass es zwar eine wissenschaftliche Einrichtung, aber keine akademische Institution mit den einer solchen eigenen Strukturen und Gesetzen war.

Hirschfelds wissenschaftliche Grundüberzeugung, auf deren Basis er das sexuelle Leben verändern und die Reform des Strafrechts durchsetzen wollte, bestand in einem ebenso groben wie naiven Biologismus. Er hat die als widernatürlich bezeichnete Homosexualität und andere, von der Heterosexualität abweichende Sexualitäten kurzerhand der Natur zugeschlagen, das heißt, sie als angeboren bestimmt. Ihm zufolge handelt es sich bei der konträren Sexualempfindung um einen tief innerlichen konstitutionellen Naturtrieb. Ein so verstandener Trieb sei dem freien Willen entzogen, woraus folgt, dass das positive Recht sich gegen die Natur stellt und damit Unrecht ist. Mit dieser Erweiterung der Natur des Geschlechtstriebes, so glaubte Hirschfeld, sei die hegemoniale Heterosexualität entthront, was dazu führen müsse, die anderen Sexualitäten als gleichberechtigt anzusehen und anzuerkennen. Aus dieser theoretischen Grundüberzeugung folgt gewissermaßen das sexualwissenschaftliche Programm Hirschfelds oder, anders gesagt, sein lebenslanges Interesse an den nicht heterosexuellen Sexualitäten. Diese fungieren gleichsam als Wirklichkeitsphänomene, die schon durch ihre bloße Existenz belegen, dass Sexualität nicht nur Heterosexualität, sondern sehr viel mehr ist und den damals gängigen Vorstellungen ein viel zu enger Begriff von Sexualität zugrunde liegt.

Was Hirschfeld versuchte, war, die biologische Norm mit dem mit ihr zusammengedachten spezifischen, sprich heterosexuellen, Sexualobjekt zu erweitern. Die Idee einer biologischen Norm wurde durch diese Erweiterung indes nicht außer Kraft gesetzt. Freud ging in der ersten der „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ in dieser Hinsicht sehr viel weiter. Bei ihm findet sich keine relevante Formulierung, die den Begriff einer biologischen Norm rechtfertigen würde. Freud zufolge hat der Sexualtrieb kein spezifisches Objekt und es fehlt ihm auch die ihm von Hirschfeld unterstellte Finalität. Im Gegensatz zu Hirschfeld, der alle möglichen Sexualobjekte der Natur zuschlug und sie als angeboren bezeichnete, ist für Freud der Geschlechtstrieb von Natur aus unabhängig von seinem Objekt. Diese grundstürzende Einsicht in die Unabhängigkeit des Triebes von seinem Objekt verlangt nicht weniger, als sich von der Idee einer angeborenen Heterosexualität zu verabschieden.

Zugeschlagen hat Hirschfeld der Natur in seiner interessanten Zwischenstufenlehre aber nicht nur das Sexualobjekt, sondern auch die von ihm beobachteten sexuellen und seelischen Geschlechtseigenschaften. Die körperlich männlichen homosexuellen Männer sind ihm zufolge von Natur aus mit deutlichen Zügen des Gegengeschlechts, also weiblichen Zügen ausgestattet. Damit versucht Hirschfeld eine Antwort auf die alte Frage, was für Männer homosexuelle Männer eigentlich sind und was die männerliebenden Männer an ihren Sexualobjekten begehren. Dadurch, dass Hirschfeld das Differente, das Feminine an den homosexuellen Männern immer betont hat, brachte er zum Vorschein, dass es andere als die damals gängigen Möglichkeiten gibt, männlich zu sein, worauf sowohl jene homosexuellen Männer, die die klischierte Männlichkeit adorierten, als auch die heterosexuellen Männerhelden mit heftiger Ablehnung, ja Wut reagierten. Und er brachte durch sein Beharren auf der biologischen Verankerung der sexuellen Zwischenstufen ins allgemeine Bewusstsein, dass Anerkennung immer die Anerkennung von Unterschieden erfordert. Das ist ein bis heute gültiges sexualpolitisches Programm, auch wenn wir uns die Unterschiede gegenwärtig als sozial konstruiert und nicht als biologisch determiniert denken.

Heute wird in Erinnerung an Magnus Hirschfeld ein Uferstück nach ihm benannt. Was fehlt, ist die Wiedererrichtung eines sexualwissenschaftlichen Instituts, das Hirschfelds tragfähige Intentionen aufgreift. Ohne ein solches Institut bliebe die Erinnerung an ihn nur fragmentarisch. Die Initiative „Queer Nations“ hat dieses, durch die Zerstörung seines Instituts zu einer bloßen Idee gewordene, Erbe Hirschfelds aufgegriffen, um es im Gedenken an ihn wieder zu materialisieren. Ich hoffe, dass ihr das bald gelingt.

Prof. Dr. Martin Dannecker

© Prof. Dr. Martin Dannecker, Berlin
vielen Dank an Martin Dannecker für das Einverständnis

Neue Wege sehen – neue Wege gehen!

Als Dokumentation die Haltung der Deutschen Aids-Hilfe (DAH) in Sachen des EKAF-Statements („keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs„):

Der Delegiertenrat der DAH hat in seiner Sitzung vom 7. bis 9. März 2008 in Abstimmung mit dem Vorstand folgenden Beschluss gefasst:

Neue Wege sehen – neue Wege gehen!

Die HIV-Prävention wird einfacher, also komplexer

Die Reaktionen auf die Botschaft der EKAF in der Schweiz haben eine grundlegende Debatte über realistischere Risikoeinschätzung und die Infektiösität von Menschen mit HIV und AIDS forciert.

Die nunmehr öffentlichen Informationen können für Menschen mit HIV und AIDS eine konkrete Erleichterung und Verbesserung ihrer Lebenssituation und -Perspektiven bedeuten, weil sie den Abbau irrationaler Ängste ermöglichen. Sie entlasten serodiskordante Paare unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung und erleichtern in allen Zusammenhängen den Umgang mit HIV und AIDS.

Somit können Stigmatisierung und Diskriminierung – auch in juristischer Hinsicht – vermindert und Solidarität gefördert werden.

Zudem werden unsere bisherigen Präventionsbotschaften sinnvoll und wirksam ergänzt.

Auf der Grundlage des im Leitbild formulierten Menschenbildes ist es Ziel der DAH, Menschen dazu zu befähigen und ihnen zu ermöglichen informiert, selbst bestimmt und verantwortungsvoll mit den Risiken von HIV und AIDS umgehen zu können.

„Deshalb setzen wir in unserer Arbeit auf das verantwortliche Handeln vernunftbegabter, einsichts- und lernfähiger Menschen wissen aber zugleich um die Grenzen der Prävention.“

Wir werden daher weiterhin und verstärkt niedrigschwellige und umfassende Informationen zur Verfügung stellen, um kompetentes und differenziertes Risikomanagement zu ermöglichen.

Die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung gewinnen auch für die Prävention an Bedeutung. Die DAH sieht daher dringenden Bedarf, die bisherige Datenlage durch intensivere Forschung zu verbessern.

Gerade hier spielt die AIDS-Hilfe eine entscheidende Rolle, da sie in der Lage ist, solche Ergebnisse und deren Auswirkungen auf die Lebenssituation ihrer Zielgruppen zu interpretieren und in lebenspraktisches Risikomanagement umzusetzen.

Die DAH muss diese Informationen in ihrer Arbeit aufgreifen und umsetzen – beispielsweise im Internet, den Printmedien, der Aufklärungs- und Beratungsarbeit vor Ort und in ihren Präventions-Kampagnen (aktuell die Kampagne „Ich weiß, was ich tu“).

Diese Haltung gilt es konsequent gegenüber der Öffentlichkeit und unseren Kooperationspartnern einzunehmen und zu vertreten

Berlin, 08.03.2008

Nachtrag 16.11.2008:
Über Ergänzungen zur Haltung im Rahmen der Diskussionen und Bedenken zur EKAF-Veröffentlichung seitens der AG Prävention berichtet koww.

Netzwerk plus: ‚lebensnahes Risikomanagement‘

Dokumentation einer Erklärung des Netzwerk plus zur Erklärung der Eidgenössichen Aids-Kommission (EKAF) in Sachen Infektiosität unter HIV-Therapie:

Netzwerk plus zum Thema Infektiosität von HIV-Positiven bei Viruslast unter der Nachweisgrenze

Beim Treffen von Netzwerk plus vom 29.02.-02.03.2008 im Waldschlößchen haben wir uns mit dem Thema „Strategien der Risikominderung“ und den aktuellen Veröffentlichungen der Eidgenössischen Kommission für Aidsfragen beschäftigt.

Die schweizerische Kommission unter Vorsitz ihres Präsidenten Prof. Dr. Pietro Vernazza hat u.a. festgestellt:

„Bei Menschen, die konsequent antiretrovirale Medikamente einnehmen, kann man im Blut kein aktives Virus mehr nachweisen.“ „Eine HIV-infizierte Person (…) ist sexuell nicht infektiös, d.h. sie gibt das HI-Virus über Sexualkontakte nicht weiter, solange folgende Bedingungen erfüllt sind:
– die antiretrovirale Therapie (ART) wird durch den HIV-infizierten Menschen eingehalten und durch den behandelnden Arzt kontrolliert;
– die Viruslast liegt seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze (d.h. die Viraemie ist supprimiert);
– es bestehen keine Infektionen mit anderen sexuell übertragbaren Erregern (STD).“

Die Veröffentlichungen aus der Schweiz haben auch in Deutschland eine kontroverse Diskussion über das Thema Infektiosität von HIV-Positiven bei Viruslast unter der Nachweisgrenze ausgelöst.
Selbst wenn dennoch ein Restrisiko bleibt, wie auch ein dokumentierter Fall aus Frankfurt zeigt, so ist gesichert, dass unter den o.g. Bedingungen die Wahrscheinlichkeit einer HIV-Übertragung äusserst gering ist und sich im Rahmen allgemeiner Lebensrisiken bewegt.
Wir begrüßen die Veröffentlichung aus der Schweiz. Für Menschen mit HIV und Aids ist diese Information eine Erleichterung und eine konkrete Verbesserung ihrer Lebenssituation und -perspektiven. Sie entlastet sero-diskordante Partnerschaften gleich welcher sexuellen Orientierung von Ängsten und Schuldgefühlen. Sie erleichtert in allen Zusammenhängen den Umgang mit HIV.
Erfreulich ist, dass längst bekannte, bislang aber nur hinter vorgehaltener Hand weitergegebene Tatsachen, nun auch von offizieller Seite benannt werden und damit ein Tabu durchbrochen wird.
Für die Zukunft wünschen wir uns, dass weitere Diskussionen in Deutschland zu diesem Thema ebenfalls evidenzbasiert, von sachlichen Argumenten getragen und auf der Grundlage eines humanistischen Menschenbildes geführt werden. Wir halten es nicht für legitim, dass diese Debatte unterdrückt wird, mit dem Argument angeblicher intellektueller Defizite von Teilen der Zielgruppen der Prävention.
Wir fordern daher, dass die Erkenntnisse ohne Vorbehalte breit kommuniziert werden,
– um irrationale Ängste vor HIV-positiven Menschen abzubauen;
– das leichtere Sprechen über HIV zu ermöglichen und die Isolation vieler HIV-Positiver aufzubrechen;
– weil die Wahrheit nicht unterdrückt werden kann;
– weil informierte Menschen eher rational handeln können.
Es muss dringend dafür gesorgt werden, dass – unter Beteiligung der Betroffenen – Standards für die Beratung durch Ärzte und psychosoziale Beratungsstellen formuliert werden, damit Ratsuchende individualisierte sachgerechte Informationen über das Thema Sexualität bei Viruslast unter der Nachweisgrenze erhalten.

Die bisherigen Präventionsbotschaften für flüchtige sexuelle Begegnungen behalten ihre Gueltigkeit. Damit Prävention in Zukunft glaubwürdig ist, müssen die Botschaften im Sinne eines lebensnahen Risikomanagements ergänzt und differenziert werden. Wenn Prävention HIV-positive Menschen als Partner behalten will, dann darf sie sie nicht wider besseres Wissen funktionalisieren, um Ängste hochzuhalten und zu schüren.
In den Fokus der Prävention geraten nun frisch infizierte Menschen, die ihre Infektion unwissentlich weitergeben können. Mythen von der Gefährlichkeit der Großstadt, von der Sicherheit ländlicher Räume und des eigenen Bettes müssen durch eine offene Kommunikation entzaubert werden. Ein sorgsamer, respektvoller Umgang miteinander muss befördert werden.

Weiterhin wird es zukünftig um Therapietreue und die überzogenen Ängste vor den Nebenwirkungen der Therapien sowie um Fragen der sexuellen Gesundheit insgesamt gehen. Testermutigung erhält eine neue Bedeutung, weil eine erfolgreich therapierte HIV-Infektion neue Perspektiven ermöglicht.

Die TeilnehmerInnen des Netzwerktreffens.

Göttingen, 02.03.2008