Eines der zentrale Themen der ‚Positiven Begegnungen 2009‘ war die Frage von Stigmatisierung und Selbst-Stigmatisierung HIV-Positiver. Ein ganztägiger Workshop widmete sich der Frage, was Stigma bedeutet und welche individuellen und kollektiven Wege aus der Stigmatisierung führen können.
Mit ‚Stigma‚ (griech.) wurde ursprünglich ein Mal, ein körperliches Zeichen bezeichnet, ein Zeichen das erkennbar macht. Im Mittelalter beispielsweise wurden Verbrecher mit Brandzeichen gekennzeichnet (Brandmarken). Doch der Begriff Stigma ist ambivalent: neben der negativen Ausprägung als Makel kann er auch die Facette der Auszeichnung haben, wie z.B.Menschen die die Wundmale Christi aufwiesen in religiösen Kontexten als etwas ganz Besonderes betrachtet wurden.
Stigmatisierung ist von Diskriminierung zu unterscheiden: Stigmatisierung ist die Bewertung (Zuschreibung von Werten) eines Makels durch die Gesellschaft oder einen selbst. Diese Bewertung kann aber muss nicht zu Diskriminierung, zu diskriminierendem Verhalten führen.
„HIV und Aids gehören zu den Krankheitsbildern, die in besonderem Maß Anlass für Stigmatisierungsprozesse gegeben haben. Diese Prozesse dauern leider immer noch an. Die Fülle der sog. ‚Normabweichungen‘ (Homosexualität, Drogengebrauch, Promiskuität usw.) gepaart mit Sexualität sind hierfür ein reichhaltiger Fundus … In aller Regel versuchen Menschen, die von Stigmatisierung betroffen sind, sich ‚unsichtbar zu machen‘. … Um den Folgen von Stigma und Selbststigma und der damit verbundenen Diskriminierung … entgegen zu wirken, ist es unabdingbar, dem eigenen Selbststigma auf die Schliche zu kommen, es immer wieder auszuloten und zu überwinden.“ (aus der Workshop-Ausschreibung)
Stigmatisierung betrifft bei HIV sowohl durch die eigene HIV-Infektion als auch z.B. durch das erneute Sichtbarwerden von HIV, z.B. durch Fettansammlungen an Hals oder Nacken oder die ‚eingefallenen Gesichter‘ in Folge von Lipoatrophie.
Stigma und Realität
Das Problem bei Stigma: das -zu bekämpfende- Stigma ist zugleich auch real existierende Realität. Die HIV-Infektion ist nun einmal vorhanden. Die Löcher im Gesicht, das fehlende Fett am Arsch, die Fettansammlung im Nacken, sie lassen sich nicht einfach weg-leugnen.
Das Stigma hat reale Ebenen, die man nicht einfach loswerden kann – einschließlich der damit verbundenen Zuschreibungen und Wertungen.
Die Konsequenz: die Strategie des ‚positive thinking‘, die Strategie ‚es sich schön zu reden‘ (z.B. das morgendliche ‚eigentlich seh‘ ich doch schön aus‘ vor dem Badezimmer-Spiegel), die Strategie die Realität zu leugnen, diese Strategie funktioniert bei diesem Stigma nicht – man ist ‚zwangsvergesellschaftet‘ mit dem Makel, und dies kann auch durch die ‚richtige‘ Einstellung nicht verändert werden.
Wege aus der Selbststigmatisierung
Der Weg des ‚Ungeschehen-Machens‘ ist also versperrt – HIV bleibt nach derzeitigem Stand der Medizin ein dauerhafter Begleiter, und vermutlich auch die Löcher im Gesicht, das Fett an verkehrten Körperstellen. Der Makel ist da – und er wird bleiben, er ist real.
Erster Schritt einer Lösung, eines Entkommens aus der Tretmühle von Stigmatisierung und Selbststigmatisierung könnte also sein, die Un-Hintergehbarkeit der Realität, dieses Makels zu akzeptieren.
Allerdings: das Mal mag real sein, nicht abänderbar. Aber auch die Bewertung? Die ist (persönlich oder gesellschaftlich) zugeschrieben. Ist das Mal tatsächlich ein Makel? Und ist dieser Makel wirklich mit all den negativen Zuschreibungen verbunden? Auch für die eigene Person selbst?
Alles hängt davon ab, wie das Mal interpretiert wird – als Makel? oder als Auszeichnung?
Diese Möglichkeit der Interpretation des Mals – sie kann vielleicht auch neue Wege aus der Selbststigmatisierung eröffnen.
Neben einer Interpretation werden auch diverse andere Versuche von Lösungsstrategien gelebt. Dazu gehören z.B. die ‚Flucht zu den gleichen‘ oder damit verwandt das Konzept, sich anderen Gruppen als der früheren eigenen sozialen Gruppe zuwenden (z.B. der ‚Fetisch-Szene‘), wenn man empfindet dass dort der Makel weniger Gewicht hat, weniger negativ bewerten wird, weniger wichtig ist.
Die Positiven-Cafés, die Positiven-Frühstücke, auch (in einer Nuance) die Positiven-Treffen – hier haben sie einen wesentlichen Kern ihrer Attraktivität. Sie sind Rückzugs-Räume, letzte Räume ohne oder doch mit deutlich weniger Stigmatisierung. Und für viele der letzte Ausweg, bevor sie sich völlig aus der Gesellschaft zurück ziehen.
Doch in einer (dauerhaften, ständigen) Separierung liegt kein Ausweg aus der Stigmatisierung. Wohl aber vielleicht in der Frage der Schwerpunkt-Setzung. Ist vielleicht anderes im Leben wichtiger geworden? Sind die Bereiche, in denen Stigmatisierung empfunden wird, wirklich immer im Kern des Seins, des Lebens?
Wird wirklich in jeder Situation gleichermaßen eine Folgen dieses ‚Makels‘ erlebt? Wo waren Unterschiede? Wo wurden vielleicht auch positive Erfahrungen gemacht? Diese positiven Beispiele und Erfahrungen zu erkennen, zu schätzen kann ein Schritt auf dem Weg aus der Selbststigmatisierung sein.
Welche inneren Normen befördern die eigene (Selbst-) Stigmatisierung?
In wie weit werden in der Selbststigmatisierung (unhinterfragt?) Bilder und Normen selbst übernommen, die mir von außen aufgesetzt wurden?
Wie gehen wir selbst mit unserer Andersartigkeit um? Das ist eine der zentralen Fragen, aus der Selbststigmatisierung erwächst.
Die Schuldfrage
Warum treten diese Probleme von Stigmatisierung, Diskriminierung bei HIV und Aids in besonderem Maß auf? Warum bei Krebs oder Diabetes wesentlich geringer, in anderer, niedrigerer Ausprägung?
Krebs, Aids, Diabetes – alle drei sind potenziell lebensbedrohliche Erkrankungen. Wo ist der Unterschied?
Anders ist zunächst die Angst – die Angst vor der Ansteckung.
Und: bei HIV, bei Aids geht es um Sex, um schwulen Sex, und das Bild der Gesellschaft „schwuler Sex ist schlecht“.
Der eigentliche Wesens-Unterschied jedoch liegt in einem anderen Merkmal. Krebs, Diabetes – sie sind etwas „Schicksalhaftes“. Bei HIV, bei Aids jedoch wird nicht diese Schicksalhaftigkeit unterstellt, sondern eine Verursachung. ‚Aids kriegt man nicht, Aids holt man sich‘. Eine Verursachung, die mit Verantwortungs-Bildern arbeitet und schnell landet bei der Frage nach – Schuld.
In dieser Schuld liegt das eigentliche stigmatisierende Element. In Bilder von Schuld, die nicht nur von außen an die Person heran getragen werden, sondern Bilder, die auch selbst von ihr, innerlich reproduziert werden. In Bildern von Schuld, auf die reagiert wird mit Versuchen, die eigene Unschuld zu beweisen.
Die Frage nach einem Weg aus der Selbststigmatisierung muss sich also mit dem Thema Verantwortlichkeit beschäftigen. Dabei liegt der Weg aus der aus Verantwortungs-Bildern resultierenden Stigmatisierung nicht darin, die eigene Unschuld zu beweisen. Sondern darin, die Zuschreibung zu verändern. Genau jene „Schuld“ anzunehmen (im Sinn einer Ursache, z.B.: ‚ja, aus dem und dem Verhalten könnte meine Infektion resultieren‘) – aber keine Scham zu empfinden, sich nicht schuldig zu fühlen.
‚Ja, ich habe Schuld – aber ich fühle mich nicht schuldig.‘
der Weg von den individuellen zu kollektiven Lösungen
Der WeG aus der Stigmatisierung und Selbst-Stigmatisierung ist jedoch nicht nur ein Weg des Einzelnen. Sondern von Individuen, die in Gesellschaften leben.
Der Weg geht von innen nach außen – und zurück. Wenn ich meine eigene Selbststigmatisierung erkenne und verändere, abbaue, kann ich auch die Gesellschaft mit meinem Stigma konfrontieren – und mit etwas Glück auch eine Reaktion bekommen, die mein eigenes Inneres wieder stärkt, meine eigene Selbst-Stigmatisierung abbauen hilft.
Daher gilt es, nicht nur einzeln individuelle Wege aus dem Stigma zu entwickeln, sondern auch kollektiv.
Vereinfacht formuliert: „Wenn wir selbst nicht offen über HIV reden, auch über ‚unser‘ HIV, wie wollen wir dann erreichen, dass in der Gesellschaft offen und ohne Stigmatisierung, Diskriminierung über HIV geredet wird?“
Hier stellt sich auch die Frage, wie viel Stigma im modernen Dogma „nur wer gesund lebt ist glücklich“ liegt.
Zu wie viel zusätzlicher Stigmatisierung führt die zunehmende Verabsolutierung des Ziels ‚Gesundheit‘ in der aktuellen Gesundheitspolitik? Insbesondere, wenn sie zunehmend mit der ‚Schuldfrage‘ verknüpft wird, wie z.B. bei Rauchern oder zu ‚ungesundem‘ Essen?
Auf kollektiver Ebene stellt sich auch die Frage, welche indirekten Folgen die Präventions-Kampagnen der DAH haben. So sinnvoll es präventionspolitisch sein mag, HIV-Prävention mit Abbildern junger, knackiger, gesund aussehender attraktiver Männer zu betreiben – wie viel Potenzial für Stigmatisierung liegt hierdrin auch? Werden hier nicht auch gerade diejenigen Bilder geprägt, an denen der Positive sich dann messen lassen muss, sich selbst misst – und in Stigmatisierung und Selbststigmatisierung landet?
Sind -neben den knackigen jungen Männern auf safer-sex-Plakaten- auch Plakate erforderlich, die die Realität darstellen, in all ihren angenehmen und weniger angenehmen Facetten?
Braucht es wieder Fotografen wie den z.B. den 1993 verstorbene Jürgen Baldiga, Plakate wie die mit Ikarus und seinen Kaposis (‚Ich will mich nicht verstecken‘)? Bilder die das Leben mit HIV so zeigen wie es ist? Unverzerrt, ungeschönt, aber auch nicht reduziert auf nur die hässlichen Seiten?
Und – wenn oft der zurückgehende Zusammenhalt in den Communities beklagt wird, der zunehmende Rückzug ins Private – brauchen wir wieder mehr „Miteinander“?
Auswege aus der Stigmatisierung
– die Schuldfrage knacken
– gesellschaftliche Werte, Normen und Zuschreibungen hinterfragen (wie berechtigt sind sie? Für mich selbst?)
– einseitig negative Zuschreibungen vermeiden (Vielfarbigkeit einfordern, Leben mit HIV ist ein ‚Panoptikum‘ – ist nicht nur Nebenwirkungen und Leid, ist auch Lebensfreude, Sex, Liebe)
– mehr Mut :-).
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Bericht über den Workshop und anschließenden Themen-Treff „Schlechtes Karma? – Coping und Stigmamanagement“ am 31.01.2009 bei den Positiven Begegnungen 2009 in Stuttgart, Leitung Dr. Hella von Unger (Berlin) und Dr. Dr. Stefan Nagel (Dresden)
weitere Informationen:
Lesetipp thewarning 04.02.2009: ‚Pute‘ et ‚barebacker‘: analyse comparative de 2 stigmates
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