Europäische Arzneimittel-Behörde: Zerit® nur als letzte Alternative nutzen

Der NRTI d4T (auch: Stavudin, Handelsname Zerit®) soll aufgrund seiner Toxität nur in antiretroviralen Therapien eingesetzt werden, wenn keine anderen Alternativen bestehen. Dies teilte die europäische Arzneimittelbehörde EMA mit.

Vom 14. bis 17. Februar 2011 traf sich in London das Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP), das Gremium der EMA, das für den Einsatz am Menschen bestimmter Arzneimittel zuständig ist. Das Komitee beschäftigte sich mit einer Vielzahl von Substanzen – unter anderem auch mit dem Aids-Medikament Stavudin (d4T, Handelsname Zerit®).

Das Komitee äußerte angesichts der Nebenwirkungen von Stavudin die Empfehlung, die therapeutische Indikation für die Substanz einzuschränken. Sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern solle der Einsatz von Stavudin so kurz wie möglich andauern und nur dann, wenn keine anderen therapeutischen Alternativen bestehen.

In einer Pressemitteilung der EMA heißt es zu Stavudin:

„Restrictions on use of Zerit
The Committee recommended that in view of the side effects seen with Zerit (stavudine), from Bristol-Myers Squibb Pharma EEIG, the therapeutic indications should be restricted. The Committee recommended that, for both adults and children, the medicine should be used for as short a time as possible and only when there are no appropriate alternatives.
Zerit is used in combination with other antiviral medicines to treat adults and children who are infected with human immunodeficiency virus (HIV).“

Stavudin ist seit vielen Jahren als Medikament gegen HIV zugelassen. Die Substanz kann zahlreiche potentiell gravierende Nebenwirkungen haben, u.a. Laktatazidose, periphere Neuropathien und Lipoatrophie.

Stavudin wird schon seit einigen Jahren in Europa und den USA nur noch selten eingesetzt. Die EMA empfahl einem Bericht von aidsmap zufolge, alle Patienten, die derzeit noch Stavudin nehmen, zu untersuchen und zum nächstmöglichen Zeitpunkt auf eine andere Therapie umzustellen.

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weitere Informationen:
European medicines Agency 18.02.2011: Meeting highlights from the Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP) 14-17 February 2011
aidsmap 21.02.2011: European Medicines Agency: d4T to be used only in last resort
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Fettverlust im Gesicht: Behandlung sicher und machbar – aber Probleme möglich

Rekonstruktive Maßnahmen zur Behandlung des Fettverlusts im Gesicht (Lipoatrophie) sind laut einem Bericht von Forschern machbar und sicher. Dennoch werden zu einem Präparat gehäuft Probleme berichtet.

Fettverlust im Gesicht, eingefallene Wangen, Aussehen wie ein “Totenkopf-Äffchen” – die möglichen Folgen des Lipodystrophie-Syndroms sind im Gesicht besonders auffällig, und von vielen Positiven gefürchtet. Und werden sobald sie auftreten oftmals als stark stigmatisierend erlebt.  Entsprechend ist das Interesse an möglichen Behandlungsmethoden, ihrem Nutzen und ihren Riosiken bei Betroffenen groß.

In der Fachzeitschrift „Aids“ berichten Forscher nun, rekonstruktive Maßnahmen seien generell eine „gut verträgliche und sichere Methode“, um HIV-bezogenen Fettverlust im Gesicht zu behandeln.

Die Forscher erstellten eine Literaturauswertung. Sie konnten insgesamt 27 Publikationen über Studien auswerten, und analysierten unter anderem Behandlungsmethoden (Eigenfett-Behandlung, bio-abbaubare sowie nicht bio-abbaubare Füllstoffe), Nutzen sowie Nebenwirkungen.

Bei allen Methoden können, so der Bericht, sowohl kurzzeitige als auch chronische unerwünschte Wirkungen und Komplikationen auftreten. Es sei überraschend, wie wenig Studien Sicherheit, Wirksamkeit und Dauerhaftigkeit der Methoden untersucht hätten.

Die Forscher kommen zu dem Schluss, die Behandlungen sollten nur von Experten vorgenommen werden; insbesondere solle Fett-Transfer nur durch Experten in plastischer Chirurgie erfolgen. Biologisch abbaubare Produkte böten ein besseres Sicherheits-Profil; bei ihnen träten weniger Nebenwirkungen auf. Allerdings sei deren Wirk-Zeit oftmals auch nur kurz.

Die Autoren betonen, dass kontrollierte Studien zu Sicherheit und Langzeit-Nutzen der verschiedenen Verfahren erforderlich seien.

Unterdessen berichten die ‚Catie news‘ aus einer niederländischen Studie, dass bei dem als Füllstoff verwendeten Produkt ‚Bio-Alcamid®‘ in den letzten Jahren Nebenwirkungen häufiger als erwartet aufgetreten seien. Bei 3.196 untersuchten (und mit dem Produkt behandelten) Patienten habe es in 5% der Fälle Nebenwirkungen gegeben. Diese Rate an Nebenwirkungen empfänden sie als „zu hoch“. Die niederländische Gesellschaft für kosmetische Medizin empfehle ihren itgliedern nun, Bio-Alcamid® nicht mehr zu verwenden.

Auch Ärzte in Schottland hätten, so der Catie-Bericht weiter, nach anfänglich vorteilhaften Eindrücken einen  hohe Rate an Komplikationen bei Bio-Alcamid® festgestellt. So seien „signifikante Langzeit-Probleme möglich“. Auch Ärzte aus Israel berichteten über Probleme bei Verwendung von Bio-Alcamid®, bei Einsatz bei HIV-negativen Patienten. Und Ärzte aus Kanada berichteten, so Catie, über Probleme, Entzündungen zu behandeln, die bei Bio-Alcamid® aufgetreten seien.

Bereits im März 2009 waren Berichte über mögliche problematische Langzeitfolgen einer Behandlung mit Bio-Alcamid® bekannt geworden.

weitere Informationen:
Guaraldi G et al. Surgical correction of HIV-associated facial lipoatrophy. AIDS, online edition: DOI: 10.1097/QAD.0b013e32833f1463, 2010
aidsmap 02.11.2010: Reconstructive surgery for facial fat loss is feasible and safe for patients with HIV
catie news 05.11.2010: Complications reported in some recipients of Bio Alcamid (online)
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Kurz notiert … Oktober 2010

28. Oktober 2010: Hepatitis C : Die DAH weist hin auf Verhaltensänderungen bei Hepatitis-C-Behandlung: neue Medikamenteninformationen

24. Oktober 2010: Trotz seiner langwährenden Freundschaft mit Ernie sei er nicht schwul, lässt Sesamstraßen-Figur Bert erklären.

22. Oktober 2010: Die derzeit angewendeten US-Behandlungsrichtlinien für die Behandlung von Syphilis bei HIV-Positiven haben eine sehr geringe Evidenz-Basis, betont eine Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift.

Mit Ritonavir (Handelsname Norvir®) geboostetes Saquinavir (Invirase®) kann zu Herzrhythmusstörungen führen, berichten Medien. Die US-Packungsbeilage wurde geändert.

Der Pharmakonzern Johnson & Johnson macht Infektionskrankheiten (darunter HIV)  zu einer Priorität seiner Geschäftsaktivitäten.

21. Oktober 2010: Den seltenen Fall einer HIV-Übertragung durch eine Messer-Attacke haben Forscher in Taiwan dokumentiert.

19. Oktober 2010: Auch München braucht einen Gedenkort für schwule NS-Opfer, fordert die Rosa Liste in einem Antrag.

15. Oktober 2010: Zwei HIV-positive Strafgefangene haben vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erfolgreich gegen Russland bzw. gegen die Ukraine geklagt. Sie erhielten Schmerzensgeld in Höhe von 27.000 bzw. 8.000 Euro zugesprochen, ihre medizinische Versorgung sei menschenunwürdig.

Die ARGE muss die Fahrtkosten zur Substitutionsbehandlung übernehmen, urteilte das Sozialgericht Wiesbaden.

Aids könne eine „Art von immanenter Gerechtigkeit“ für den Missbrauch der Liebe sein, meint der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz von Belgien.

14. Oktober 2010: Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat ihre Richtlinie zur Behandlung der HIV-Infektion bei Frauen und Kindern aktualisiert.

13. Oktober 2010: Über 80.000 Menschen im Iran seien an Aids erkrankt, meldet der unabhängige Sender ‚Radio Zamadeh‘ aus Amsterdam. Offizielle Zahlen liegen bei 22.000.

Der Pharmakonzern Abbott hat mit dem niederländischen Biotech-Unternehmen Qiagen eine Vereinbarung geschlossen über die gemeinsame Vermarktung von Tests auf HIV, Hepatitis C und Humane Papilloma-Viren.

„The Gay Liberation Front’s social revolution“ – Peter Tatchell erinnert in einem Kommentar an die Gründung der Schwulengruppe ‚Gay Liberation Front‚ in London am 13. Oktober 1970.

11. Oktober 2010: Der Vertreib von HIV-Heimtests ist gesetzlich geregelt, (nicht nur) die DAH warnt immer wieder. Nun warnen auch Ärzte vor HIV-Heim-Tests.

Medizinische Leitlinien haben weitreichende Folgen. Entstehen sie immer unabhängig? Über Interessenverflechtungen berichtet „Augen auf beim Leitlinien-Kauf“

9. Oktober 2010: In Paris findet die  erste Internationale Konferenz homosexueller Muslime (CALEM Conférence des associations LGBT européennes et musulmanes) statt – unter Beteiligung der beiden einzigen offen homosexuellen Imame.

7. Oktober 2010: Uridin hilft nicht gegen Fettschwund bei HIV-Positiven (Lipoatrophie), zeigte eine US-Studie.

6. Oktober 2010: Erstmals soll ein ‚therapeutischer Impfstoff‚ eine „funktionale Heilung“ erreicht haben – bei SIV, einer ‚Affen-Variante‘ von HIV. In einer Gruppe mit der Substanz des Unternehmens VIRxSYS Corporation geimpfter Affen soll die HIV-Vermehrung unter Kontrolle und das Voranschreiten der Erkrankung aufgehalten worden sein.

5. Oktober 2010: Wegen Unwirksamkeit beendet der Pharmakonzern GlaxoSmithKline (GSK) alle seine Studien zum Herpes-Impfstoff „Simplirix“.

4. Oktober 2010: Klassischer Fall von Homophobie gepaart mit Serophobie in Indonesien: der Informationsminister macht Schwule für Aids verantwortlich.

„Schwulenhass bleibt ein Thema“, betont Dirk Brüllau vom schwul-lesbischen Netzwerk „Queer Football Fanclubs“ zum Thema Homophobie und Fussball im Magazin „11FREUNDE“.

3. Oktober: Der Brite Robert Edwards erhält den diesjährigen Medizin-Nobelpreis für die Entwicklung der künstlichen Befruchtung. Erst jüngst hatte der G-BA einen Anspruch auf künstliche Befruchtung als GKV-Leistung auch für von HIV betroffene Paare beschlossen.

2. Oktober: US-Präsident Obama entschuldigt sich nach über 60 Jahren für Syphilis-Versuche in den 1940er Jahren. Ohne ihr Wissen wurden 1.500 Menschen in Guatemala mit Syphilis infiziert, um die Wirkungsweise von Penicillin zu untersuchen. Die Teilnehmer hatten keinerlei Möglichkeit einer informierten Einwilligung (informed consent). Die Untersuchungen fanden im Zusammenhang mit dem berüchtigten „Tuskegee Syphilis Experiment“ statt.

1. Oktober 2010: Homosexuelle mit einzubeziehen sei entscheidend für Malawis Kampf gegen Aids, betonte die Vizepräsidentin des afrikanischen Staates, Joyce Banda, bei einem Spitzentreffen religiöser Führer. Schwule und Lesben seien eine Realität in Malawis Gesellschaft, dies dürfe nicht ignoriert werden.

Welche Anforderungen und Bedürfnisse haben Transgender-Männer an HIV-Prävention?, fragt ‚Youths2getherNetwork: „What are transgender men’s HIV prevention needs?“

Sexualaufklärer Oswald Kolle ist bereits am 24. September im Alter von 81 Jahren in den Niederlanden verstorben, wie erst am 1. Oktober bekannt wurde.

Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit hat am 1. Oktober den Verdienstorden des Landes Berlin an 14 Bürgerinnen und Bürger verliehen, darunter auch an Kai-Uwe Merkenich, von 2000 bis 2009 Geschäftsführer des Berliner Aids-Hilfe e.V..

Der von der französischen Staatssekretärin für Sport Rama Yade angekündigte ‚Aktionsplan gegen Homophobie im Sport‚ nimmt Gestalt an, die Arbeitsgruppe, die den Plan entwickeln soll, kam zu einem ersten treffen im Ministerium zusammen.

USA: Behandlung des Fettverlusts im Gesicht wird von Krankenversicherung gezahlt

In den USA übernimmt eine der bedeutendsten Krankenversicherungen, MediCare, zukünftig die Kosten für die Behandlung des Fettverlusts im Gesicht bei HIV-Patienten.

Im Januar hatte sich bereits angekündigt, dass die US-Krankenversicherung für ältere und/oder behinderte Mitbürger MediCare bald die Behandlungskosten bei Lipoatrophie übernehmen würde. Die zuständigen U.S. Centers for Medicare and Medicaid Services CMS betonten nun, die als Gesichts-Füllstoffe verwendeten Produkte hätten sich als hilfreich erwiesen bei HIV-Positiven, die auch an Depressionen leiden. Für diese werden die Behandlungskosten nun übernommen.

MediCare ist als Krankenversicherung für etwa 45 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner zuständig.

Fettverlust im Gesicht (”facial wasting”) ist eine der von vielen HIV-Positiven gefürchteten möglichen Nebenwirkungen von HIV und medikamentöser Behandlung. Er führt dazu, dass Positive wieder als HIV-Infizierte erkannt werden können – er macht HIV wieder sichtbar, mit all den potentiell stigmatisierenden und diskriminierenden Folgen.

Dieser Fettverlust im Gesicht kann medizinisch erfolgreich behandelt werden, durch Füllstoffe. In Europa sehr häufig angewandt werden die Produkte Sculptra® (früher: New Fill) und Radiesse®.  Das Problem: die Kosten für die Behandlung werden von gesetzlicher wie auch privater Krankenversicherung in der Regel nicht übernommen (im Gegensatz zu einigen europäischen Nachbarstaaten). Nur im Einzelfall konnten HIV-Positive bisher eine Übernahme der Behandlungskosten für New Fill vor Gericht durchsetzen.

weitere Informationen:
aegis 23.03.2010: Medicare to pay for „fillers“ in HIV patients
CMS 23.03.2010: Decision Memo for Dermal injections for the treatment of facial lipodystrophy syndrome
POZ 24.03.2010: Medicare to Cover HIV-Related Facial Wasting Treatment
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Rheinland-Pfalz: kündigt Spezial-Klinik HIV-Positivem Behandlungs-Verweigerung an?

Eine Spezial-Klinik in Rheinland-Pfalz kündigt einem HIV-positiven Patienten nach dessen Aussagen an, ihn im Fall eines erforderlich werdenden Eingriffs nicht behandeln zu wollen – aus „arbeitsrechtlichen Gründen“.

Behandlung verweigert aufgrund der HIV-Infektion – nicht möglich, nicht 2010, nicht in Deutschland? Die Realität scheint gelegentlich anders auszusehen. Ein aktueller Fall aus Rheinland-Pfalz wirft viele Fragen auf. Ein vorläufiger Bericht über den Fall aus Sicht des Betroffenen:

Ein HIV-positiver Mann besucht eine Venen-Klinik, um eine Vorsorge-Untersuchung durchführen zu lassen. Seine Venen sind infolge des Lipodystrophie-Syndroms stark hervorgetreten, zudem besteht eine Beschwerde, die abgeklärt werden soll.

Wie im Formular erfragt, gibt er im Aufnahmebogen die eingenommenen Medikamente an (die seiner antiretroviralen Kombi-Therapie). Es erfolgt keine weitere Nachfrage. Bei der Eingangsuntersuchung gibt er zudem an, die Venen seien stark hervorgetreten, vermutlich aufgrund von Lipodystrophie durch HIV-Medikamente. Erst hier wird der untersuchende Arzt hellhörig, fragt nach und bittet, die HIV-Infektion auf der Patientenkarte vermerken zu dürfen. Die Vorsorge-Untersuchung wird durchgeführt.

Bei der Besprechung des Untersuchungsergebnisses allerdings kommt der Klinikleiter hinzu. Ein Termin für die nächste Vorsorge-Untersuchung wird vereinbart – allerdings verbunden mit der Ankündigung, eine etwaig erforderlich werdende Behandlung könne man in der Klinik nicht vornehmen.

Der Patient erfährt vom Ärztlichen Direktor (!) der Klinik

„Wenn bei Ihnen ein Eingriff nötig werden sollte, kann der in unserem Haus aus arbeitsrechtlichen Gründen nicht durchgeführt werden. Sollte sich jemand vom Personal beim Eingriff verletzen, hätten wir die Notfallmedikamente nicht im Haus.“

Die von einem privaten Träger geführte Klinik hat in Vergleichen extrem wenige Behandlungsfehler aufzuweisen, die Komplikationsquote liegt stark unter dem Bundes-Durchschnitt. Die Klinik wirbt explizit mit dieser niedrigen Komplikationsquote.

Der Patient spricht seine Krankenkasse auf den Vorfall an. Diese reagiert sofort. Die Krankenkasse bekommt die Angaben des Patienten vom Assistenzarzt der Klinik mündlich bestätigt und fordert eine kurzfristige schriftliche Äußerung an.
Dem Betroffenen kündigt die Kasse an, das Verhalten der Klinik nicht tolerieren zu wollen. Der Betroffene beabsichtigt, sich zudem an Landes-Ärztekammer und Deutsche Krankenhaus-Gesellschaft (DKG) zu wenden

Gelegentlich wird die Frage gestellt, ob heute, in Zeiten wirksamer Aids-Medikamente, Menschen mit HIV überhaupt noch große Probleme hätten, sich Diskriminierungen ausgesetzt sähen. Kurze Antwort: Ja – wie dieser Fall wieder einmal beispielhaft zeigt.

Gehen die Uhren an der Mosel anders?, mag man sich zunächst fragen, ist dort 1980, nicht 2010? Aber – ein derartiges Vorgehen schiene nicht nur heute, sondern jederzeit bizarr …

Eine beinahe unfassbare Situation. Arbeitsrechtliche Gründe anzugeben erscheint schon bizarr genug. Die Begründung, man habe die ‚Notfallmedikamente‘ nicht im Haus, ist nicht minder absurd. Schließlich dürften auch in Rheinland, Eifel und anderen Provinzen wirksame Medikamente verfügbar sein – zudem, sollten sie tatsächlich benötigt werden und kein anderer Weg möglich sein, der Patient dürfte sie ja haben.

So erwecken beide Begründungen den Eindruck einer Ausrede, um nicht offen Diskriminierung von HIV-Positiven zugeben zu müssen.

Und eine weitere Frage steht im Raum:
Gerade HIV-Positive werden aufgrund ihres geschwächten Immunsystems hohen Wert auf eine gute und komplikationsfreie Behandlung legen – und auch ihre Kliniken nach entsprechenden Kriterien wählen. Erst jüngst hatte das RKI „Anforderungen an die Hygiene bei der medizinischen Versorgung von immunsupprimierten Patienten“ formuliert (auch wenn diese auf die Spezifika HIV-Infizierter nicht gesondert eingehen).
Wird hier gerade denjenigen Patienten, die am meisten auf eine hochqualitative Behandlung angewiesen sind, genau diese vorenthalten? Und das womöglich gar aus dem Grund, sich nicht mit eher „komplikations-trächtigen Fällen“ die (doch so werbeträchtige) Statistik zu versauen?

Immerhin – in seiner Krankenklasse hat der betroffene Patient derzeit einen kompetenten und engagierten Ansprechpartner gefunden, der sich für ihn einsetzt.

Fortsetzung folgt … hier: Wir operieren Sie selbstverständlich gerne … HIV-Positiver doch als Patient willkommen

USA: Fettverlust im Gesicht bald über MediCare behandelbar?

Medicare ist das Krankenversicherungsprogramm der USA für ältere und als behindert anerkannte Menschen. Derzeit laufen Bemühungen, die Behandlung des Fettverlusts im Gesicht in den Leistungskatalog von MediCare mit aufzunehmen.

Eine der von vielen HIV-Positiven gefürchteten möglichen Nebenwirkungen von HIV und medikamentöser Behandlung ist der Fettverlust im Gesicht („facial wasting“). Er führt dazu, dass Positive wieder als HIV-Infizierte erkannt werden können – er macht HIV wieder sichtbar, mit all den potentiell stigmatisierenden und diskriminierenden Folgen.

Dieser Fettverlust im Gesicht kann medizinisch erfolgreich behandelt werden, durch Füllstoffe. In Europa sehr häufig angewandt werden die Produkte Sculptra® (früher: New Fill) und Radiesse®.  Das Problem: die Kosten für die Behandlung werden von gesetzlicher wie auch privater Krankenversicherung in der Regel nicht übernommen (im Gegensatz zu einigen europäischen Nachbarstaaten). Nur im Einzelfall konnten HIV-Positive bisher eine Übernahme der Behandlungskosten für New Fill vor Gericht durchsetzen.

In den USA laufen nun Bemühungen, dass die Kosten für die Behandlung des Fettverlusts im Gesicht unter bestimmten Bedingungen von Medicare übernommen werden – dann, wenn der Fettverlust zu Depressionen führt. Derzeit läuft (bis 22.1.2010) ein Anhörungs-Verfahren. Bereits 2009 hatten Anhörungen stattgefunden zu einer möglichen Kostenübernahme der Behandlung des Fettverlusts im Gesicht durch MediCare und MedicAid.

„Medicare ist die öffentliche Krankenversicherung der USA für ältere und/oder behinderte Mitbürger. Medicare wurde am 30. Juli 1965 durch Zusätze zur Social Security Gesetzgebung eingeführt. Jeder Bürger ab dem Alter von 65 Jahren bzw. jeder als „behindert“ anerkannte Bürger kann Medicare in Anspruch nehmen. Medicare ist zum Teil steuer- und zum Teil beitragsfinanziert.“ (Wikipedia)

In Deutschland werden die Kosten für die Behandlung des Fettverlusts im Gesicht in der Regel nicht von der Krankenversicherung übernommen. Damit wird die Vermeidung der stigmatisierenden Folgen zur Wohlstands-Frage: wer es sich leisten kann, hat ein Gesicht ohne Löcher – und wer kein oder wenig Geld hat, muss u.U, mit dem wieder sichtbaren HIV fertig werden.

weitere Informationen:
aidsmeds.com 14.01.2010: Proposed Medicare Coverage for Facial Wasting Treatment
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Fettverlust im Gesicht: Daten zu Langzeit-Sicherheit fehlen

Fettverlust im Gesicht – eine gefürchtete Nebenwirkung von HIV und HIV-Therapie. Diese Lipoatrophie genannte Nebenwirkung kann mit Füllstoffen behandelt werden – doch wie sicher sind die Verfahren? Eine australische Literatur-Recherche versucht zu vergleichen.

Der Fettverlust im Gesicht und an den Extremitäten ist eine von vielen Positiven gefürchtete Nebenwirkung. Dieser Lipoatrophie genannte Fettverlust, der neben dem Gesicht auch an Extremitäten (Arme, Beine) sowie am Gesäß auftreten kann, wird von vielen betroffenen HIV-Positiven als stark stigmatisierend erlebt. Zudem wird oftmals befürchtet, mit diesem Fettverlust wieder als Positiver erkenntlich zu sein.

Entsprechend ist die Bereitschaft, insbesondere den Fettverlust im Gesicht behandeln zu lassen, oftmals sehr groß. Es stehen verschiedene permanente (bleibende, nicht abbaubare), semipermanente und temporäre (abbaubare Füllstoffe) Verfahren zur Verfügung, die zudem unterschiedlich umfangreich in der Praxis erprobt sind. Ziel aller Verfahren ist es, die Fettverluste im Gesicht (bzw. die entstehenden „Löcher“) auszugleichen

Nun wurden die einzelnen Verfahren in einer vergleichenden Meta-Studie (Literatur-Durchsicht) analysiert. Insgesamt wurden 11 Studien unterschiedlicher Qualität mit unterschiedlichen Haut-Füllstoffen in den Vergleich einbezogen. Dabei wurde insbesondere auf Sicherheit und Wirksamkeit Wert gelegt.

Die australischen Autoren kommen zu dem Schluss, zwar schienen die betrachteten Verfahren kurzzeitig sicher zu sein. Allerdings würden in zahlreichen Fällen häufig Knoten oder Schwellungen berichtet:

„Although short-term safety appeared favorable, of the seven studies that reported lumps, three studies reported these events in more than 40% of patients. Long-term safety data were lacking.“

Insbesondere, so die Autoren, seien vermehrt Studien zur Langzeit-Sicherheit der Verfahren erforderlich.

Positive, die eines der Verfahren zum Auffüllen von „Löchern“ im Gesicht für sich erwägen, sollten sich vorab gut informieren. Je dauerhafter ein Verfahren ist, desto wichtiger ist es, auch Sicherheit sowie Langzeit-Risiken und -Folgen zu bedenken.

Die Kosten der Behandlung des Fettverlusts im Gesicht werden in Deutschland in der Regel nicht von den gesetzlichen Krankenversicherungen getragen. Anders ist dies in einigen anderen EU-Staaten wie Frankreich oder Großbritannien – dort steht die Behandlung dieser stark stigmatisierenden Nebenwirkung jedem HIV-Positiven, der sie benötigt, auf Kosten des Gesundheitssystems zur Verfügung.

In Deutschland hingegen müssen die Kosten (die selbst für das gleiche Verfahren von Behandler zu Behandler sehr stark variieren können) i.d.R. von HIV-Positiven selbst getragen werden – umso mehr ist ein Vergleich von Behandlungserfahrungen und Behandlungskosten sehr wichtig.

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weitere Informationen:
„A Systematic Review of Permanent and Semipermanent Dermal Fillers for HIV-Associated Facial Lipoatrophy“, in Aids Patient Care, online 12.08.2009 (Artikel kostenpflichtig)
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Nebenwirkungen und Langzeitfolgen der Medikamente großer Sorgen-Faktor

Nebenwirkungen und Langzeitfolgen der Therapien gegen Aids stellen eine bedeutenden Sorgen-Faktor bei der Entscheidung über eine Therapie dar – und werden zugleich von Positiven unter Therapie als gravierende Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität erlebt. Besonders herausstechend: die Lipodystrophie und ihre Folgen.

Die britische HIV-Zeitschrift „hiv treatment update“ befragte ihre LeserInnen, u.a. zu Fragen von Therapie, Therapiebeginn und Therapie-Problemen.2.194 Personen beteiligten sich an der Befragung – und ihre Antworten zeigten unter anderem, dass Nebenwirkungen der Therapien weiterhin ein bedeutendes Problem darstellen.

Haben Sie Sorgen wegen möglicher Nebenwirkungen der Therapien? „Ja“ (‚major‘ und ‚important‘) sagten 78% der Befragten. Und, noch überraschender, es zeigten sich keine Unterschiede zwischen Befragten, die antiretrovirale Therapien neu beginnen oder denen, die eine Therapie wieder aufnehmen wollten. Die Sorgen um Nebenwirkungen waren in beiden Gruppen gleich deutlich ausgeprägt – eine Entscheidung für und Erfahrung mit den Therapien scheint keineswegs die Sorge um Nebenwirkungen zu mindern. Ebenso war die Sorgen um Nebenwirkungen (im Gegensatz zu anderen Sorgen wie Wechselwirkungen oder Stigmatisierung) nahezu gleich hoch ausgeprägt bei Teilnehmern aus Industriestaaten und aus weniger entwickelten Ländern (in denen 22%.der Teilnehmer lebten).

Bei denjenigen Befragten, die zum Zeitpunkt der Befragung eine antiretrovirale Therapie durchführten, war die Sorge um Nebenwirkungen deutlich geringer (38 bzw. 50%) – allerdings war in dieser Gruppe dafür die Sorge um Langzeit-Folgen der HIV-Therapien mit 60% deutlich höher ausgeprägt.

Die Teilnehmer, die bereits antiretrovirale Therapien nahmen (77% in Industriestaaten, 49% in weniger entwickelten Staaten), wurden auch befragt danach, welche Nebenwirkungen sie erfahren haben, und deren Schwere.

Die mit Abstand am häufigsten irgendwann während der Therapiezeiten erlebten Nebenwirkungen waren Übelkeit und Durchfälle (80-90%) sowie psychologische Wirkungen, Erschöpfung / Anämien und Hautprobleme.Über 60% gaben zudem an, an sexuellen Funktionsstörungen zu leiden; über 60% (Industriestaaten) bzw. nahezu 75% (weniger entwickelte Staaten) gaben zudem an, an Fettumverteilungs-Störungen (Lipodystrophie) zu leiden.

Zudem wurden die Positiven unter Therapie befragt, welche Nebenwirkungen die gravierendsten Auswirkungen auf ihre Lebensqualität hätten.Spitzenreiter hier mit 28% (sowohl in Industriestaaten als auch weniger entwickelten Staaten): Lipodystrophie (Fettansammlungen und Fettverlust).

Einer der Befragten brachte es folgendermaßen auf den Punkt:

„Trotz des Erfolges der hochwirksamen Therapien hat Lipodystrophie verheerende Auswirkungen.“

„the nam treatment survey“, hiv treatment update Nr. 183, Januar / Februar 2009

Diese Befragung dürfte sicherlich nicht repräsentativ sein, zumal sie ’nur‘ die LeserInnen eines britischen Magazins für HIV-Positive umfasst. Dennoch zeigt sie eindeutig, dass das Thema Nebenwirkungen der antiretroviralen Therapien für viele HIV-Positive ein großer Sorgen-Faktor bei der Frage einer Therapie-Entscheidung ist – und, wie die Befragung zeigt, kein unberechtigter.

Eine Nebenwirkung sticht durch ihre Bedeutung besonders hervor – die Lipodystrophie, die Fettansammlungen an Bauch und Nacken bzw. Fettverlust an Extremitäten und im Gesicht. Dass angesichts der Bedeutung dieses Themas sowie der stigmatisierenden Folgen die Kassen sich immer noch weigern, die Kosten der verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten zu übernehmen, ist nicht hinnehmbar. Nebenwirkungs-Management, höhere Lebensqualität darf nicht -wie in diesem Fall- zur Luxus-Medizin für wenige werden.

Dass der Anteil an HIV-Positiven, die an Lipodystrophie leiden, in den weniger entwickelten Staaten zudem nochmals deutlich höher ist als in Industriestaaten, zeigt auf bestürzende Weise, in welchem Umfang hier zwar Therapien zur Verfügung stehen, aber eben suboptimale (u.a. auf Basis von d4T)
Die Frage der Versorgung HIV-Infizierter in weniger entwickelten Staaten mit antiretroviralen Therapien ist eben nicht nur eine Frage des ‚ob‘ und des ‚wie viel‘, sondern auch der Qualität der verfügbaren Therapien.

Fettverlust im Gesicht: problematische Langzeitfolgen einer Behandlung?

Fettverlust im Gesicht, eingefallene Wangen, Aussehen wie ein „Totenkopf-Äffchen“ – die Folgen des Lipodystrophie-Syndroms sind im Gesicht besonders auffällig, und von vielen Positiven gefürchtet.

Aus diesem Grund versuchen auch viele Positive, den Auswirkungen des Fettverlusts insbesondere im Gesicht zu begegnen – selbst wenn Krankenkassen die Behandlungskosten fast nie übernehmen.

Nicht alle angewandten Verfahren scheinen allerdings problemlos zu sein. In den USA ist eine Substanz, die sich besonderer Beliebtheit erfreut(e), „Bio-Alcamid®“ (Polyalkylimide, Hersteller ist das italienische Unternehmen Polymekon).

Es handelt sich um ein permanentes Füllmaterial, das injiziert wird und nicht resorbierbar ist. Bio-Alcamid® ist in der Europäischen Union als Medizinprodukt (Klasse IIb) zugelassen.

Ein Bericht von „POZ“ nennt nun mögliche Probleme der Substanz, über die sich in den USA Berichte häufen sollen:

„Online forums and message boards have been collecting more and more Bio-Alcamid complaints in recent years, including migration of the filler from the cheeks to the jowls and serious infections requiring heavy-duty antibiotic therapy and surgical removal of the product.“

POZ beschriebt in dem ausführlichen Artikel u.a. ausführlich die Erfahrungen eines einstiges massiven Befürworters der Substanz (Dr. Luis Casavantes, Mexiko), der jüngst empfohlen hatte, die Substanz bei HIV-Positiven nicht mehr einzusetzen.

Casavantes spricht inzwischen POZ zufolge von einer Rate von 15% seiner Patienten, die in seiner Praxis Komplikationen hatten. Polymekon, der Hersteller, geht hingegen POZ zufolge von 1% Komplikationen aus.

POZ 17.03.2009: Bio-Alcamid Blues: Possible Problems With a Facial Wasting Treatment
Bericht über Bio-Alcamid in „surginews“ 2. Quartal 2006: „Bio-Alcamid – Behandlung der HIV-assoziierten Lipodystrophie“ (pdf; dort ab S. 10)
Nebenwirkungen auch bei nicht-HIV-Infizierten: Bio-Alcamid bei kosmetischer Chirurgie: „Bio“-Filler mit unschönen Folgen, 2008
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Gericht: Kasse muss Lipodystrophie- Behandlung zahlen

Erst auf dem Weg einer Eil-Entscheidung konnte ein 44jähriger HIV-infizierter Mann erreichen, dass die Krankenkasse eine Behandlung massive Fettverteilungsstörungen aufgrund antiretroviraler Therapie (Lipodystrophie) übernimmt. Nun wurde die Kasse auch im Hauptverfahren vom Hessischen Landessozialgericht zur Kostenübernahme verpflichtet.

Nach mehreren Medikamentenresistenzen konnte der 44jährige Mann bereits vor einigen Jahren eine Kombitherapie beginnen, die seinen Zustand deutlich verbesserte. Er erlitt jedoch massive Fettverteilungsstörungen (Lipodystrophie) verbunden mit einer Gewichtszunahme von 13kg. Erhebliche organische Gesundheitsstörungen (starke Rückenschmerzen, Kurzatmigkeit, Einschränkung der Bewegungsfähigkeit) waren die Folge.

Die Fettverteilungsstörungen sollten mit dem Medikament Serostim® behandelt werden. Serostim® ist seit 1996 in den USA zugelassen zur Behandlung von Aids-Wasting, während die Europäische Medikamentenbehörde EMEA im April 2003 die Zulassung von Serostim® ablehnte.

Wasting ist ein starker Gewichtsverlust, üblicherweise u.a. im Rahmen von Aids. Studien mit Serostim® haben in den vergangenen Jahren jedoch auch Anhaltspunkte dafür gegeben, dass die Substanz dazu geeignet sein könnte, übermäßige Fettansammlungen im Bauchbereich (Lipodystrophie) zu behandeln.

Die Krankenkasse des 44jährigen Mannes (AOK Hessen) lehnte die Behandlung mit dem Medikament jedoch ab. Die Beweislage für eine Wirksamkeit sei nicht ausreichend, zudem sie das Medikament in Deutschland und Europa nicht zugelassen.

Der Patient klagte jedoch und gewann im März 2003 vor dem Sozialgericht Kassel. Im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutz-Verfahrens wurde die Kasse zur Kostenübernahme verurteilt.  Der Mann wurde 2003 bis 2005 behandelt – erfolgreich, die Fettansammlungen bildeten sich fast völlig wieder zurück.

Das Hauptsache-Verfahren allerdings lief weiter. Am 15. Januar 2009 verurteilte das Hessische Landessozialgericht (AZ L 1 KR 51/05) die Kasse zur Kostenübernahme. Das Urteil wurde am 12. März 2009 veröffentlicht.

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Das Hessische Landessozialgericht dazu:

„Leidet ein gesetzlich Krankenversicherter an einer lebensbedrohlichen Erkrankung, für die eine anerkannte medizinische Behandlung nicht zur Verfügung steht, kann er die Versorgung mit einem nicht zugelassenen Medikament beanspruchen. Voraussetzung ist allerdings, dass sich der Versicherte in einer notstandsähnlichen Situation befindet und dass eine Abwägung von Nutzen und Risiken für die Versorgung spricht.“

Das Landessozialgericht führte weiter aus:

„Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstoße die Verweigerung einer neuen medizinischen Behandlungsmethode gegen das Grundgesetz, wenn eine lebensbedrohliche Erkrankung vorliege, für welche eine anerkannte Behandlung nicht zur Verfügung stehe. Bei einer notstandsähnlichen Situation sei dies auf Arzneimittel übertragbar.“

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, Revision wurde zugelassen.

weitere Informationen:
Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15.01.2009
Hessisches Landessozialgericht 12.03.2009: Anspruch eines HIV-Erkrankten auf Versorgung mit Serostim
FAZ.net 12.03.2009: Kasse muss im Notfall nicht zugelassene Arznei bezahlen
HIV-i-base Oktober 2003: US approves and Europe rejects Serostim (recombinant growth hormone) for treatment of HIV-related wasting

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mehr Mut – Wege aus Stigmatisierung und selbst-Stigmatisierung

Eines der zentrale Themen der ‚Positiven Begegnungen 2009‘ war die Frage von Stigmatisierung und Selbst-Stigmatisierung HIV-Positiver. Ein ganztägiger Workshop widmete sich der Frage, was Stigma bedeutet und welche individuellen und kollektiven Wege aus der Stigmatisierung führen können.

Mit ‚Stigma‚ (griech.) wurde ursprünglich ein Mal, ein körperliches Zeichen bezeichnet, ein Zeichen das erkennbar macht. Im Mittelalter beispielsweise wurden Verbrecher mit Brandzeichen gekennzeichnet (Brandmarken). Doch der Begriff Stigma ist ambivalent: neben der negativen Ausprägung als Makel kann er auch die Facette der Auszeichnung haben, wie z.B.Menschen die die Wundmale Christi aufwiesen in religiösen Kontexten als etwas ganz Besonderes betrachtet wurden.

Stigmatisierung ist von Diskriminierung zu unterscheiden: Stigmatisierung ist die Bewertung (Zuschreibung von Werten) eines Makels durch die Gesellschaft oder einen selbst. Diese Bewertung kann aber muss nicht zu Diskriminierung, zu diskriminierendem Verhalten führen.

„HIV und Aids gehören zu den Krankheitsbildern, die in besonderem Maß Anlass für Stigmatisierungsprozesse gegeben haben. Diese Prozesse dauern leider immer noch an. Die Fülle der sog. ‚Normabweichungen‘ (Homosexualität, Drogengebrauch, Promiskuität usw.) gepaart mit Sexualität sind hierfür ein reichhaltiger Fundus … In aller Regel versuchen Menschen, die von Stigmatisierung betroffen sind, sich ‚unsichtbar zu machen‘. … Um den Folgen von Stigma und Selbststigma und der damit verbundenen Diskriminierung … entgegen zu wirken, ist es unabdingbar, dem eigenen Selbststigma auf die Schliche zu kommen, es immer wieder auszuloten und zu überwinden.“ (aus der Workshop-Ausschreibung)

Stigmatisierung betrifft bei HIV sowohl durch die eigene HIV-Infektion als auch z.B. durch das erneute Sichtbarwerden von HIV, z.B. durch Fettansammlungen an Hals oder Nacken oder die ‚eingefallenen Gesichter‘ in Folge von Lipoatrophie.

Stigma und Realität

Das Problem bei Stigma: das -zu bekämpfende- Stigma ist zugleich auch real existierende Realität. Die HIV-Infektion ist nun einmal vorhanden. Die Löcher im Gesicht, das fehlende Fett am Arsch, die Fettansammlung im Nacken, sie lassen sich nicht einfach weg-leugnen.
Das Stigma hat reale Ebenen, die man nicht einfach loswerden kann – einschließlich der damit verbundenen Zuschreibungen und Wertungen.

Die Konsequenz: die Strategie des ‚positive thinking‘, die Strategie ‚es sich schön zu reden‘ (z.B. das morgendliche ‚eigentlich seh‘ ich doch schön aus‘ vor dem Badezimmer-Spiegel), die Strategie die Realität zu leugnen, diese Strategie funktioniert bei diesem Stigma nicht – man ist ‚zwangsvergesellschaftet‘ mit dem Makel, und dies kann auch durch die ‚richtige‘ Einstellung nicht verändert werden.

Wege aus der Selbststigmatisierung

Der Weg des ‚Ungeschehen-Machens‘ ist also versperrt – HIV bleibt nach derzeitigem Stand der Medizin ein dauerhafter Begleiter, und vermutlich auch die Löcher im Gesicht, das Fett an verkehrten Körperstellen. Der Makel ist da – und er wird bleiben, er ist real.

Erster Schritt einer Lösung, eines Entkommens aus der Tretmühle von Stigmatisierung und Selbststigmatisierung könnte also sein, die Un-Hintergehbarkeit der Realität, dieses Makels zu akzeptieren.

Allerdings: das Mal mag real sein, nicht abänderbar. Aber auch die Bewertung? Die ist (persönlich oder gesellschaftlich) zugeschrieben. Ist das Mal tatsächlich ein Makel? Und ist dieser Makel wirklich mit all den negativen Zuschreibungen verbunden? Auch für die eigene Person selbst?

Alles hängt davon ab, wie das Mal interpretiert wird – als Makel? oder als Auszeichnung?

Diese Möglichkeit der Interpretation des Mals – sie kann vielleicht auch neue Wege aus der Selbststigmatisierung eröffnen.

Neben einer Interpretation werden auch diverse andere Versuche von Lösungsstrategien gelebt. Dazu gehören z.B. die ‚Flucht zu den gleichen‘ oder damit verwandt das Konzept, sich anderen Gruppen als der früheren eigenen sozialen Gruppe zuwenden (z.B. der ‚Fetisch-Szene‘), wenn man empfindet dass dort der Makel weniger Gewicht hat, weniger negativ bewerten wird, weniger wichtig ist.

Die Positiven-Cafés, die Positiven-Frühstücke, auch (in einer Nuance) die Positiven-Treffen – hier haben sie einen wesentlichen Kern ihrer Attraktivität. Sie sind Rückzugs-Räume, letzte Räume ohne oder doch mit deutlich weniger Stigmatisierung. Und für viele der letzte Ausweg, bevor sie sich völlig aus der Gesellschaft zurück ziehen.

Doch in einer (dauerhaften, ständigen) Separierung liegt kein Ausweg aus der Stigmatisierung. Wohl aber vielleicht in der Frage der Schwerpunkt-Setzung. Ist vielleicht anderes im Leben wichtiger geworden? Sind die Bereiche, in denen Stigmatisierung empfunden wird, wirklich immer im Kern des Seins, des Lebens?

Wird wirklich in jeder Situation gleichermaßen eine Folgen dieses ‚Makels‘ erlebt? Wo waren Unterschiede? Wo wurden vielleicht auch positive Erfahrungen gemacht? Diese positiven Beispiele und Erfahrungen zu erkennen, zu schätzen kann ein Schritt auf dem Weg aus der Selbststigmatisierung sein.

Welche inneren Normen befördern die eigene (Selbst-) Stigmatisierung?
In wie weit werden in der Selbststigmatisierung (unhinterfragt?) Bilder und Normen selbst übernommen, die mir von außen aufgesetzt wurden?

Wie gehen wir selbst mit unserer Andersartigkeit um? Das ist eine der zentralen Fragen, aus der Selbststigmatisierung erwächst.

Die Schuldfrage

Warum treten diese Probleme von Stigmatisierung, Diskriminierung bei HIV und Aids in besonderem Maß auf? Warum bei Krebs oder Diabetes wesentlich geringer, in anderer, niedrigerer Ausprägung?

Krebs, Aids, Diabetes – alle drei sind potenziell lebensbedrohliche Erkrankungen. Wo ist der Unterschied?
Anders ist zunächst die Angst – die Angst vor der Ansteckung.
Und: bei HIV, bei Aids geht es um Sex, um schwulen Sex, und das Bild der Gesellschaft „schwuler Sex ist schlecht“.

Der eigentliche Wesens-Unterschied jedoch liegt in einem anderen Merkmal. Krebs, Diabetes – sie sind etwas „Schicksalhaftes“. Bei HIV, bei Aids jedoch wird nicht diese Schicksalhaftigkeit unterstellt, sondern eine Verursachung. ‚Aids kriegt man nicht, Aids holt man sich‘. Eine Verursachung, die mit Verantwortungs-Bildern arbeitet und schnell landet bei der Frage nach – Schuld.

In dieser Schuld liegt das eigentliche stigmatisierende Element. In Bilder von Schuld, die nicht nur von außen an die Person heran getragen werden, sondern Bilder, die auch selbst von ihr, innerlich reproduziert werden. In Bildern von Schuld, auf die reagiert wird mit Versuchen, die eigene Unschuld zu beweisen.

Die Frage nach einem Weg aus der Selbststigmatisierung muss sich also mit dem Thema Verantwortlichkeit beschäftigen. Dabei liegt der Weg aus der aus Verantwortungs-Bildern resultierenden Stigmatisierung nicht darin, die eigene Unschuld zu beweisen. Sondern darin, die Zuschreibung zu verändern. Genau jene „Schuld“ anzunehmen (im Sinn einer Ursache, z.B.: ‚ja, aus dem und dem Verhalten könnte meine Infektion resultieren‘) – aber keine Scham zu empfinden, sich nicht schuldig zu fühlen.
‚Ja, ich habe Schuld – aber ich fühle mich nicht schuldig.‘

der Weg von den individuellen zu kollektiven Lösungen

Der WeG aus der Stigmatisierung und Selbst-Stigmatisierung ist jedoch nicht nur ein Weg des Einzelnen. Sondern von Individuen, die in Gesellschaften leben.

Der Weg geht von innen nach außen – und zurück. Wenn ich meine eigene Selbststigmatisierung erkenne und verändere, abbaue, kann ich auch die Gesellschaft mit meinem Stigma konfrontieren – und mit etwas Glück auch eine Reaktion bekommen, die mein eigenes Inneres wieder stärkt, meine eigene Selbst-Stigmatisierung abbauen hilft.

Daher gilt es, nicht nur einzeln individuelle Wege aus dem Stigma zu entwickeln, sondern auch kollektiv.
Vereinfacht formuliert: „Wenn wir selbst nicht offen über HIV reden, auch über ‚unser‘ HIV, wie wollen wir dann erreichen, dass in der Gesellschaft offen und ohne Stigmatisierung, Diskriminierung über HIV geredet wird?“

Hier stellt sich auch die Frage, wie viel Stigma im modernen Dogma „nur wer gesund lebt ist glücklich“ liegt.
Zu wie viel zusätzlicher Stigmatisierung führt die zunehmende Verabsolutierung des Ziels ‚Gesundheit‘ in der aktuellen Gesundheitspolitik? Insbesondere, wenn sie zunehmend mit der ‚Schuldfrage‘ verknüpft wird, wie z.B. bei Rauchern oder zu ‚ungesundem‘ Essen?

Auf kollektiver Ebene stellt sich auch die Frage, welche indirekten Folgen die Präventions-Kampagnen der DAH haben. So sinnvoll es präventionspolitisch sein mag, HIV-Prävention mit Abbildern junger, knackiger, gesund aussehender attraktiver Männer zu betreiben – wie viel Potenzial für Stigmatisierung liegt hierdrin auch? Werden hier nicht auch gerade diejenigen Bilder geprägt, an denen der Positive sich dann messen lassen muss, sich selbst misst – und in Stigmatisierung und Selbststigmatisierung landet?
Sind -neben den knackigen jungen Männern auf safer-sex-Plakaten- auch Plakate erforderlich, die die Realität darstellen, in all ihren angenehmen und weniger angenehmen Facetten?

Braucht  es wieder Fotografen wie den z.B. den 1993 verstorbene Jürgen Baldiga, Plakate wie die mit Ikarus und seinen Kaposis (‚Ich will mich nicht verstecken‘)? Bilder die das Leben mit HIV so zeigen wie es ist? Unverzerrt, ungeschönt, aber auch nicht reduziert auf nur die hässlichen Seiten?
Und – wenn oft der zurückgehende Zusammenhalt in den Communities beklagt wird, der zunehmende Rückzug ins Private – brauchen wir wieder mehr „Miteinander“?

Auswege aus der Stigmatisierung

– die Schuldfrage knacken
gesellschaftliche Werte, Normen und Zuschreibungen hinterfragen (wie berechtigt sind sie? Für mich selbst?)
einseitig negative Zuschreibungen vermeiden (Vielfarbigkeit einfordern, Leben mit HIV ist ein ‚Panoptikum‘ – ist nicht nur Nebenwirkungen und Leid, ist auch Lebensfreude, Sex, Liebe)
mehr Mut :-).

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Bericht über den Workshop und anschließenden Themen-Treff „Schlechtes Karma? – Coping und Stigmamanagement“ am 31.01.2009 bei den Positiven Begegnungen 2009 in Stuttgart, Leitung Dr. Hella von Unger (Berlin) und Dr. Dr. Stefan Nagel (Dresden)

weitere Informationen:
Lesetipp thewarning 04.02.2009: ‚Pute‘ et ‚barebacker‘: analyse comparative de 2 stigmates
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Fettverlust im Gesicht: Kostenübernahme in den USA?

Lipoatrophie, Fettverlust im Gesicht – eine von vielen HIV-Positiven gefürchtete stigmatisierende Nebenwirkung von HIV und HIV-Therapie. Bisher werden die Kosten von Krankenversicherern i.d.R. nicht übernommen – doch jetzt wird in den USA ein neuer Anlauf zur Kostenübernahme unternommen.

Viele Positive leiden unter einem Fettverlust im Gesicht, der teils zu als gravierend und stigmatisierend empfundenen Beeinträchtigungen führt.  Selbst Ärzte sprechen von „physical and emotional devastation caused by lipodystrophy“.
Dieser Fettverlust (‚facial wasting‚) ist Teil der Lipoatrophie und mit verschiedenen, in unterschiedlich starkem Umfang erprobten und bewährten Verfahren behandelbar.

Doch ein Problem bleibt: in Deutschland übernehmen sowohl die gesetzlichen wie auch privaten Krankenversicherer die Kosten für eine etwaige Behandlung (bis auf wenige dokumentierte Einzelfälle) nicht. Eine medizinische Notwendigkeit bestehe nicht, wird oftmals argumentiert, von ‚Schönheitsoperation‘ oder ‚kosmetischer Behandlung‘ gesprochen. Selbst Klagen vor Gericht, die von Positiven vereinzelt angestrengt wurden, blieben i.d.R. erfolglos.
Die Behandlung von Fettverlust im Gesicht (unter Positiven auch gelegentlich ‚Totenkopf-Äffchen-Gesicht‘ genannt) bleibt so eine Medizin für Wohlhabende – nur wer die teils (je nach Verfahren) nicht unerheblichen Kosten selbst zahlt, kann es sich leisten, dieser stigmatisierenden Folgen zu entkommen.

Doch nun könnte eventuell neue Bewegung in die Sache kommen. Denn in den USA überlegen zwei medizinische Versorgungssysteme, die Behandlung des ‚facial wasting‘ in ihren Leistungskatalog aufzunehmen.

Die ‚Centers for Medicare and Medicaid Services‘ (Medicare und Medicaid sind die beiden angesprochenen medizinischen Versorgungssysteme) fordern die (us-amerikanische) Öffentlichkeit auf, bis 16. Februar 2009 Stellungnahmen abzugeben zu dieser Frage. Danach und auch auf Basis der eingereichten Berichte solle entscheiden werden, ob für die Behandlung des Fettverlusts im Gesicht die Kosten einer Behandlung übernommen werden.

Eine Entscheidung soll in den USA bis Oktober 2009 fallen.

In Deutschland scheinen Positive und Aidshilfen zum Thema Kostenübernahme bei Behandlung des Fettverlusts im Gesicht kapituliert zu haben. Zumindest ist nichts bekannt über etwaige Initiativen, die die ablehnende Haltung der Krankenkassen bzw. des Gemeinsamen Bundesausschusses überwinden, eine Kostenübernahme doch noch erreichen wollen.

So bleibt die Behandlung des Fettverlusts im Gesicht in Deutschland eine Behandlung für ökonomisch gut gestellte Positive, Luxus-Medizin. Im Klartext – wer Geld hat, kann trotz Fettverlusts im Gesicht ’normal‘ aussehen. Wer von niedriger Rente oder gar HartzIV lebt (leben muss) – hat Pech gehabt, und muss mit eingefallenem Gesicht, mit Depressionen, mit Stigmatisierung und Diskriminierung leben – ob er/sie will oder nicht.

Bisher scheinen die hiervon betroffenen Positiven (und die, die sich davor fürchten) noch nicht wütend genug zu sein, um sich gegen diese Stigmatisierung durch das Gesundheitssystem zu wehren. Bisher. Vielleicht bringen die Bemühungen  in den USA auch in die Situation hierzulande Bewegung …

weitere Informationen:
POZ/AidsMeds.com: Change of Face: Should Govrnment Pay for lipoatrophy Treatment?
Centers for Medicare and Medicaid Services: Reconstructive Treatments for Facial Lipodystrophy Syndrome – Public Comment
bisher dort eingereichte Kommentare
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