Vorstand und Geschäftsführung der Deutschen Aids-Hilfe haben zum Statement der Eidgenössichen Aids-Kommission ein ‚Positionspapier Juni 2008‘ als Diskussionsgrundlage versandt.
Um allen Teilen der Communities eine Beteiligung an der Meinungsbildung der DAH zu ermöglichen, ist dieses hier im Folgenden dokumentiert:
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Alles wird anders und alles bleibt gleich!
Die Bedeutung der HIV-Viruslast für die Prävention
Therapie und Prävention
Die antiretrovirale Therapie hat die Lebenserwartung und die Lebensqualität von Menschen mit HIV in den letzten Jahren deutlich verbessert. Sie hat darüber hinaus eine Wirkung, die bislang fast ausschließlich als erwünschter Nebeneffekt wahrgenommen wurde: Eine stabile und funktionierende antiretrovirale Therapie senkt die Infektiosität von Menschen mit HIV erheblich. Seit einigen Jahren wird angesichts steigender HIV-Neuinfektionen daher auf internationalen Aids-Konferenzen von Wissenschaftlern gefordert, diese Erkenntnis auch für die Gestaltung neuer Präventionsbotschaften aktiv zu nutzen.
Diese Forderung gewann 2007 an Bedeutung: Die Forschung zu einem Impfstoff gegen HIV und zum Diaphragma sowie die Entwicklung von Mikrobiziden hatten schwere Rückschläge erlitten, sodass diese Mittel als Optionen der HIV-Prävention in weite Ferne gerückt sind. Demgegenüber weiß man seit Jahren, dass mit der antiretroviralen Therapie schon heute eine bedeutende Senkung der Infektiosität und damit der HIV-Neuinfektionszahlen erreicht werden kann.
Die Eidgenössische Kommission für Aidsfragen (EKAF) in Bern (Schweiz) hat am 30. Januar 2008 Aussagen zur Infektiosität HIV-infizierter Menschen veröffentlicht und damit erstmalig die antiretrovirale Therapie in die Prävention integriert. Nach Einschätzung der EKAF können diskordante (1) Paare unter folgenden Voraussetzungen auf Kondome verzichten: wenn die Viruslast des HIV-positiven Partners/der HIV-positiven Partnerin dauerhaft unter der Nachweisgrenze liegt, die Therapie konsequent eingehalten und kontrolliert wird (stabile und wirksame antiretrovirale Therapie, kurz: sART) und bei beiden Partnern keine anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen (STD, (2)) vorliegen. Die letzte Bedingung macht ungeschützten Sex mit Gelegenheitspartnern schwierig – die Option ist daher auf feste Partnerschaften beschränkt.
Die Deutsche AIDS-Hilfe e.V. begrüßt, dass es durch den Anstoß der Schweizer Kollegen nun auch zu einer Debatte über die Auswirkungen der antiretroviralen Therapie auf die HIV-Prävention kommt.
Die Veröffentlichung der EKAF hat in der Fachwelt kontroverse Reaktionen hervorgerufen. Weitestgehend Konsens besteht darüber, dass die präventive Wirkung der stabilen und wirksamen antiretroviralen Therapie sowie die Abwesenheit von STD (sART ohne STD) durch wissenschaftliche Daten für Oral- und Vaginalverkehr gestützt wird. Für die Abschätzung der Infektiosität bei Analverkehr bei nicht nachweisbarer Viruslast hingegen fehlen bislang weitestgehend sowohl wissenschaftliche Daten zur Grundlagenforschung als auch epidemiologische Daten (3).
In der Prävention orientiert sich die Arbeit der Deutschen AIDS-Hilfe e.V. seit je an den Lebenswelten ihrer Zielgruppen und an der Epidemiologie. Zu einer glaubwürdigen HIV-Prävention gehört unabdingbar, auch entlastende wissenschaftliche Erkenntnisse zu kommunizieren und diejenigen Bereiche zu benennen, in denen noch nicht genug Erkenntnisse vorliegen.
Zwar herrscht unter Experten weitestgehend Konsens, dass unter den genannten Bedingungen auch die Infektiosität beim Analverkehr deutlich sinkt. Dissens gibt es allerdings darüber, ob noch ein relevantes Infektionsrisiko vorliegt oder ob es vernachlässigbar gering ist. Die Deutsche AIDS-Hilfe e.V. wird sich dafür einsetzen, dass diese Forschungslücke geschlossen wird.
Alles wird anders
Gerade für Menschen, deren Leben unmittelbar durch HIV geprägt ist – vor allem Infizierte, Lebenspartner/innen und Familienangehörige – hat die Frage der Infektiosität eine hohe emotionale und auch soziale Bedeutung. Das Wissen um das geringe HIV-Übertragungsrisiko bei erfolgreicher antiretroviraler Therapie kann entlasten, die Diskussion darüber auf gesellschaftlicher Ebene der Stigmatisierung HIV-Positiver entgegenwirken.
Für einen Teil der diskordanten Paare eröffnet sich mit „sART ohne STD“ eine neue Präventionsoption. Generell aber bewirkt die Nachricht, dass die antiretrovirale Therapie unter bestimmten Bedingungen die Infektionsgefahr so weit senkt, dass eine sexuelle Übertragung stark reduziert oder sogar unwahrscheinlich ist, eine Reduktion der Angst.
Der Einsatz gegen Diskriminierung und Stigmatisierung und die Förderung von Solidarität mit Betroffenen war immer ein unverzichtbarer Bestandteil einer erfolgreichen HIV-Prävention und ist eine der zentralen Aufgaben der Deutschen AIDS-Hilfe. Neue Möglichkeiten in der Prävention, z. B. im Jahr 2007 die Beschneidung oder 2008 die „sART ohne STD“ verunsichern jedoch und lassen die Befürchtung aufkommen, die bisher sehr erfolgreiche Prävention könnte Schaden nehmen. Die Deutsche AIDS-Hilfe e.V. nimmt diese Befürchtungen ernst, sieht aber keine Erosion der Prävention, sondern wird sich dafür einsetzen, die Prävention mit den aktuellen Erkenntnissen zu ergänzen und zu stärken. Die neue Option wird dazu beitragen, dass die Prävention zielgruppengenauer, glaubwürdiger und noch stärker lebensweltorientiert gestaltet werden.
Die Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Viruslast und Infektiosität wird und soll zudem auch Auswirkungen auf die Rechtssprechung haben. Die erfolgte oder (z. B. durch Kondomverzicht) in Kauf genommene HIV-Übertragung wird gegenwärtig strafrechtlich als Körperverletzung oder versuchte Körperverletzung verfolgt. Künftig wird das erheblich verminderte Übertragungsrisiko unter erfolgreicher antiretroviraler Therapie berücksichtigt werden müssen und sollte den Tatbestand der versuchten Körperverletzung nicht mehr erfüllen.
Alles bleibt gleich
Die alten Präventionsbotschaften bleiben unverändert erhalten und sind nach wie vor Kern der Präventionsarbeit. Für den Sex mit Gelegenheitspartnern oder neuen Partnern empfiehlt die Deutsche AIDS-Hilfe e.V. nach wie vor Safer Sex – nicht nur zum Schutz vor HIV, sondern auch zur Reduktion anderer sexuell übertragbarer Krankheiten.
Aufgaben der HIV- und STD-Prävention
Die Präventionsanstrengungen sollten der epidemiologischen Entwicklung folgen:
– Ein großer Teil der HIV-Neuinfektionen geht von Personen aus, die von ihrer HIV-Infektion noch nichts wissen oder noch keine Therapie einnehmen.
– Ein großer Teil der HIV-Neuinfektionen betrifft Bevölkerungsgruppen mit höherem Infektionsrisiko, die sog. Zielgruppen der Präventionsarbeit der DAH.
– Sexuell übertragbare Erkrankungen stellen einen wichtigen Faktor bei der HIV-Übertragung dar.
Die Deutsche AIDS-Hilfe e.V. sieht sich in ihrer bisherigen Strategie bestärkt: Sie führte schon vor Jahren HIV-Testkampagnen bei Männern durch, die Sex mit Männern haben, damit mehr Männer, die ein Risiko hatten, zum Test gehen und eine eventuelle HIV-Infektion in einem frühen Stadium erkannt und rechtzeitig behandelt werden kann. Dieser Weg muss weiter ausgebaut werden. Differenzierte Testkampagnen werden auch in Zukunft, z. B. im Rahmen der MSM-Kampagne und bei i.v. Drogengebraucher(inne)n, durchgeführt werden.
In den letzten Jahren hat die Deutsche AIDS-Hilfe e.V. in ihre HIV-Präventionsarbeit verstärkt auch andere STDs integriert, vor allem deshalb, weil diese die Übertragung von HIV begünstigen. Im Erhalt und Ausbau von niedrigschwelligen, kostenfreien und anonymen Angeboten der HIV- und STD-Beratung und -Testung für Menschen mit höherem Risiko sieht die Deutsche AIDS-Hilfe e.V. eine wichtige Aufgabe der Präventionsarbeit.
Die Prävention wird komplexer
Der Erfolg von Safer Sex liegt auch darin begründet, dass die Botschaft kurz und prägnant ist („beim Bumsen Kondome, beim Blasen raus bevor`s kommt“). An sie wird man sich selbst „im Eifer des sexuellen Gefechts“ noch erinnern können, an komplexe Botschaften aber wohl kaum.
Trotz der Klarheit und der hohen Wirksamkeit von Kondom-Botschaften steigen weltweit die HIV-Infektionszahlen. Denn Wissen um die Schutzwirkung von Kondomen wird nicht in jeder Situation (z. B. Alkoholkonsum, erektile Dysfunktion, Unsicherheit, Fehlannahmen, „rosarote Brille“) in Handlung umgesetzt wird und gesellschaftliche Verhältnisse wie z.B. Mangel an Bildung oder Armut wirken vielerorts der Prävention entgegen. Die Prävention braucht zusätzlich neue „Pfeile im Köcher“ zur Bekämpfung der Epidemie. Am Beispiel der Beschneidung wird deutlich, dass die HIV-Prävention auch auf solche Methoden nicht verzichten kann, die weniger prägnant und sogar weniger effektiv sind als Kondome: Die WHO hat im Frühjahr 2007 die Beschneidung des heterosexuellen Mannes (vor allem in Ländern mit hoher HIV-Prävalenz) mit in das Präventionspaket genommen – obwohl die Beschneidung „nur“ eine Schutzwirkung von 60 % für nur einen der beiden Sexualpartner bietet. Die Beschneidung wird vor allem in Ländern südlich der Sahara in die Prävention integriert und braucht intensive Aufklärung, um der Fehlannahme, man sei nach einer Beschneidung geschützt, entgegenzuwirken.
Die Option „sART ohne STD“ hingegen ist unter Idealbedingungen mindestens so effektiv wie die Verwendung von Kondomen bei nicht unterdrückter Viruslast. Die Herausforderung der Option „sART ohne STD“ liegt hier im Erreichen der optimierten Bedingungen, also in der Einhaltung der komplexen Voraussetzungen (keine STD, Therapiekontrolle, Therapietreue), der Definition der in Frage kommenden Personen und in der Vermeidung von Fehlannahmen. Fehlannahmen und Mythen (4) rund um HIV und Aids sind vielfältig, und die Thematisierung und „Bearbeitung“ solcher Mythen gehört zum festen Repertoire der Präventionsarbeit der Deutschen AIDS-Hilfe.
Neue Präventionsoptionen wie die Beschneidung und „sART ohne STD“ sind komplexer als die Kondom-Botschaften und erfordern eine gründliche Beratung und Information, um Fehlinformationen entgegenzuwirken. Das Wissen um neue Optionen darf kein „Geheimwissen“ bleiben. Im Gegenteil: es gibt eine moralische Verpflichtung zur Kommunikation. Präventionsagenturen wie die Deutsche AIDS-Hilfe e.V. können und dürfen sich zu neuen Präventionsoptionen nicht passiv verhalten, weil sich die Menschen ihrer Zielgruppen sonst bei weniger verlässlichen Quellen informieren.
STDs als ein wichtiger „Motor“ der HIV-Epidemie rücken durch die EKAF-Informationen zunehmend in den Fokus der HIV-Prävention. Die Deutsche AIDS-Hilfe wird sich dafür einsetzen, dass Screening-Verfahren für STD, Diagnostik und Therapie gerade für Menschen mit höherem Risiko für eine HIV-Infektion zugänglich sind bzw. geschaffen werden.
Die Prävention wird vielfältiger und komplexer. Aber mit qualifizierter Information und Beratung wird sie auch passgenauer und erfolgreicher.
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(1) diskordante Partnerschaft: ein/e Partner/in ist HIV-positiv, der/die andere Partner/in ist HIV-negativ
(2) STD = sexually transmitted diseases
(3) die EKAF hingegen unterscheidet nicht zwischen den verschiedenen Sexualpraktiken (Oral- Vaginal- und Analverkehr) und bewertet das Risiko insgesamt als vernachlässigbar gering.
(4) Einige Fehlannahmen und Mythen seien als Beispiele genannt: „Eine Infektion kann man dem Partner ansehen“, „Wenn er ohne Gummi will, wird er negativ sein“, „Wenn er ohne Gummi will, wird er positiv sein“, „Wenn ich nur eindringe, also der Aktive bin, kann mir nichts passieren“, „Die Infektion ist heilbar“.