Zehn Gründe, die gegen die Kriminalisierung von HIV-Exposition oder -Übertragung sprechen

In Europa und den USA steigt in den vergangenen Jahren die Zahl der Menschen, die wegen HIV-Exposition oder -Übertragung juristisch verfolgt wurden. In einigen Staaten Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und der Karibik wurden neue HIV-spezifische Strafrechtsparagraphen eingeführt.

Vor diesem Hintergrund als Dokumentation eine Veröffentlichung des Open Society Institutes (ins deutsche übertragen von der Deutschen Aids-Hilfe): „Zehn Gründe, die gegen die Kriminalisierung von HIV-Exposition oder -Übertragung sprechen

Anmerkung: Dokumentiert sind hier nur die zehn Gründe als Leitsätze. Jeder Grund ist im Original-Papier (siehe Links unten) ausführlich erläutert und kommentiert.

Zehn Gründe, die gegen die Kriminalisierung von HIV-Exposition oder -Übertragung sprechen

1. Die Kriminalisierung von HIV-Übertragungen ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Übertragung in der bösartigen Absicht anderen Schaden zuzufügen erfolgt. In diesen seltenen Fällen kann und sollte, anstatt neue HIV-spezifische Gesetze zu erlassen, die Anwendung des bereits existierenden Strafrechts erfolgen.

2. Die Anwendung des Strafrechts auf HIV-Exposition oder -Übertragung reduziert nicht die Ausbreitung von HIV.

3. Die Anwendung des Strafrechts auf HIV-Exposition oder -Übertragung untergräbt Bemühungen der HIV-Prävention.

4. Die Anwendung des Strafrechts auf HIV-Exposition oder -Übertragung verbreitet Angst und führt zu Stigmatisierung.

5. Anstatt Frauen Gerechtigkeit zu verschaffen, gefährdet sie die Anwendung des Strafrechts auf HIV-Exposition und -Übertragung und trägt zu einer weiteren Unterdrückung bei.

6. Die Gesetze, die HIV-Exposition und -Übertragung kriminalisieren, sind zu weit gefasst und bestrafen oftmals Verhalten, das nicht schuldhaft ist.

7. Die Gesetze, die HIV-Exposition und -Übertragung kriminalisieren, werden oft ungerecht, selektiv und unwirksam angewendet.

8. Die Gesetze, die HIV-Exposition und -Übertragung kriminalisieren, verdecken die wahre Herausforderung der HIV-Prävention.

9. Anstatt Gesetze einzuführen, die HIV-Exposition und -Übertragung unter Strafe stellen, sollten die Gesetzgeber die Gesetze reformieren, die der HIV-Prävention und -Behandlung im Weg stehen.

10. Bestrebungen die auf Menschenrechten gründen sind am effektivsten.

Zehn Gründe, die gegen die Kriminalisierung der HIV-Infektion sprechen
© Open Society Institute
deutsche Übersetzung: Deutsche Aids-Hilfe (pdf)
englisches Original:
Ten Reasons to Oppose the Criminalizatioon of HIV-Exposure or Transmission (open society institute / soros foundation)

Kriminalisierung der HIV-Infektion – neue Fälle international (akt.)

International steigt die Zahl der Ermittlungsverfahren und Urteile gegen HIV-Positive. In jüngster Zeit hat es international zahlreiche Urteile und Prozesseröffnungen gegen HIV-Positive gegeben. Eine Übersicht über einige der Urteile und Ermittlungsverfahren der letzten Monate:

Justitia
Justitia

Besondere mediale Aufmerksamkeit erfuhr seit seinem Bekanntwerden im Mai 2007 ein recht spezieller Fall in den Niederlanden. In Groningen wurde im Oktober 2008 das Verfahren gegen drei 39, 48 und 49 Jahre alte Männer eröffnet. Ihnen wird vorgeworfen, zwischen 2005 und 2007 mindestens 14 junge schwule Männer bei über Dating-Portalen organisierten Parties mit GHB betäubt und ohne Kondom vergewaltigt zu haben. Anschließend sollen sie ihnen ihr Blut injiziert haben. 12 der 14 Männer sind inzwischen HIV-positiv. Der Staatsanwalt forderte Haftstrafen zwischen acht und fünfzehn Jahren. Die Verteidiger einiger der Betroffenen kündigten für den Fall einer Verurteilung bereits Zivilklagen auf Schadenersatz an.

In Finnland wurde ein 25jähriger Mann zu 10 Jahren Haft sowie 330.000€ finanzieller Entschädigung verurteilt. Ihm wurde zur Last gelegt, 5 Frauen vorsätzlich mit HIV infiziert und mit mindestens 14 weiteren Frauen Sex ohne Kondom gehabt zu haben. Die Verurteilung erfolgte bereits im April 2008, die Bekanntgabe des Strafmasses erst im Spätsommer.

In Australien wurde im Juli 2008 ein 49jähriger Australier mit der Begründung verurteilt, wissentlich andere Männer mit HIV infiziert zu haben. Er wurde in 15 Fällen für schuldig befunden, darunter auch mindestens ein Fall von Vergewaltigung.
Ein 42jähriger Mann wurde in Canberra zu 10 Wochen Haft verurteilt, weil er als Callboy tätig war, obwohl er mit HIV und Hepatitis C infiziert ist. Es gab keine Beweise für ungeschützten Sex. In der australischen Hauptstadt (bzw. im ACT Australian Capital Territory) ist schon die Arbeit als Callboy verboten, wenn eine sexuell übertragbare Infektion vorliegt.

In Kanada steht ein 52jähriger Mann vor Gericht, dem Mord vorgeworfen wird. Zwei Frauen, die durch ihn mit HIV infiziert worden sein sollen, sind inzwischen verstorben.  Es ist der erste Prozess in Kanada mit Mord-Vorwurf aufgrund HIV-Infektion. Gegen den Angeklagten wird bereits seit fünf Jahren ermittelt, diese Zeit hat der Angeklagte bereits in Untersuchungshaft verbracht.
Bereits im Februar 2007 war ein kanadischer Mann verurteilt worden, dem vorgeworfen wurde, wissentlich zwei Frauen einem HIV-Infektionsrisiko ausgesetzt zu haben.

In den USA wurde ein schwuler DJ unter Hausarrest gestellt. Er habe seinen HIV-positiven Status nicht offen gelegt und mit drei Personen ungeschützten Sex gehabt. Anfang Oktober wurde ihm von Gesundheitsamts-Bediensteten in Raleigh, North Carolina vorgeworfen, trotz einer ‚Bewährungsauflage‘ (nicht mehr unsafen Sex zu haben) erneut Sex ohne Kondom gehabt zu haben. Er hatte sich mit einer anderen sexuell übertragbaren Krankheit infiziert. Statt zu einer vierzigtägigen Haftstrafe wurde er zu sechs Monaten elektronisch überwachtem Hausarrest verurteilt. Zudem muss er sich einer psychologischen Bewertung unterziehen. Für den Fall eines erneuten Verstoßes gegen die Auflagen drohen ihm 25 Tage Haft sowie eine zweijährige ‚Quarantäne‘ in der Krankenabteilung einer Justizvollzugsanstalt. Die Gesetzgebung von North Carolina lässt rigide Maßnahmen zur Kontrolle von Infektionskrankheiten zu.

Und auch in Frankreich werden Menschen wegen HIV-Infektion verurteilt – so Anfang Juni 2008 ein heterosexueller Mann in Marseille zu drei Jahren Haft (angeblich mit dem staatsanwaltlichen Kommentar „sie sind ein Saukerl“).
Die strafrechtliche Verfolgung von HIV-Transmissionen war inzwischen in Frankreich sogar Thema in Homo-Magazinen:

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Derweil gehen auch die politischen Auseinandersetzungen weiter. Wer muss wem Daten liefern, bei Ermittlungen unterstützen? Und reicht Fahrlässigkeit alleine schon für eine Verurteilung aus?

In Schweden z.B. geriet die Frage in die Diskussion, in wie weit ein epidemiologisches Institut sich zum Handlanger der Strafverfolgungsbehörden machen muss – und ob Kriminalisierung eine wirksame HIV-Prävention beeinträchtigt.
Das Schwedische Institut für Infektions-Krankheiten geriet in die öffentliche Kritik, als es sich zeitweise weigerte, die Polizei des Landes bei Ermittlungen wegen wissentlicher HIV-Infektion zu unterstützen. In einer medizinischen Zeitschrift (Dagens Medicin) hatten Vertreter des Instituts zuvor mitgeteilt, sie würden die Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden einstellen, da sie die gegenwärtige Gesetzgebung für falsch hielten, die die HIV-Übertragung kriminalisiere. Die Strafandrohung beeinträchtige eine wirksame Prävention. Menschen, die vermuteten HIV-infiziert zu sein, würden aus Angst vor Strafverfolgung keinen HIV-Test machen.
HIV gehört auch in Schweden zu den meldepflichtigen Infektionen (anonyme Meldepflicht durch Ärzte). Der behandelnde Arzt ist zur nichtnamentlichen Meldung (per sog. klinischer Meldung) verpflichtet, unabhängig vom Erregernachweis im Labor (schwedisches Infektionsschutzgesetz von 1989/1997). Zudem muss der Arzt Fehlverhalten des Patienten melden, wenn dies zur Verbreitung der Infektion beiträgt (1). Wissentliche HIV-Übertragung kann in Schweden mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden.

In der Schweiz wurde im Juni in einem bemerkenswerte Urteil ein Mann wegen fahrlässiger HIV-Infektion verurteilt, obwohl er selbst nicht von seiner HIV-Infektion wusste (Urteil 6B_235/2007 vom 13. Juni 2008).
Es war der erste Fall, bei dem zuvor das Bundesgericht zur Frage der HIV-Infektion durch Fahrlässigkeit Stellung genommen und dann den Fall an das Obergericht zurückverweisen hat. Das Bundesgericht hat dabei festgestellt: „Wer die Möglichkeit der eigenen HIV-Infektion ignoriert und den Partner ansteckt, kann wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung verurteilt werden.“
Die Diskussion, in wie weit das Statement der EKAF (‚keine Infektiosität bei erfolgreicher Therapier ohne weitere STDs‘) auch im juristischen Raum zu einer neuen Lage für die Rechtsprechung führen müsste, verläuft unterdessen eher verhalten.

(1) Gerlinde Klöckner „Infektionskrankheiten – Aspekte der Meldepflicht“, Inauguraldissertation an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 2005 (pdf)

Nachtrag
13.11.2008: Urteile im Fall in den Niederlanden: ‚Prozess: Niederländer für vorsätzliche HIV-Infektion verurteilt‘, schreibt die Zeit und 365gay.com erwähnt in seinem Bericht, in dem Urteil sei berücksichtigt worden, dass die HIV-Infektion als chronische Krankheit betrachtet wurde, nicht als tödlich (dank an TheGayDissenter für den Hinweis).

HIV-Positiver freigesprochen – ’nicht ansteckend‘

In Nürtingen wurde Mitte März ein HIV-positiver Angeklagter vom Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung freigesprochen. Einer der Gründe: er sei aufgrund erfolgreicher Therapie ’nicht ansteckend‘.

Der Angeklagte, ein Staatsbürger Kameruns, hat 2002 in Deutschland Asyl beantragt. Bei einer medizinischen Untersuchung in der Asylunterkunft wurde 2003 eine HIV-Infektion festgestellt.

Dem Angeklagten wurde ungeschützter Geschlechtsverkehr mit seiner früheren Lebensgefährtin in 192 Fällen vorgeworfen, wobei er billigend ihre HIV-Infektion in Kauf genommen habe.

Im April 2007 wurde ein gemeinsamer Sohn geboren. Die Hebamme informierte die Lebensgefährtin des Angeklagten über dessen HIV-Infektion (von der sie, so das Urteil, zulässigerweise durch die Betreuerin des Asylverfahrens wusste), fälschlicherweise mit dem nicht zutreffenden Hinweis, ihr Partner habe Aids.
Die Partnerin des Angeklagten wie auch das gemeinsame Kind sind medizinischen Untersuchungen zufolge nicht mit HIV infiziert.

Die HIV-Infektion des Angeklagten wird regelmäßig medikamentös behandelt. Aufgrund der erfolgreichen Therapie war bei dem Angeklagten seit mindestens 2005 die Viruslast unter die Nachweisgrenze gesunken.

Der Angeklagte wurde vom Vorwurfs des Versuchs gefährlicher Körperverletzung freigesprochen.
Der Freispruch erfolgte, obwohl er ungeschützten Sex hatte und dabei vom Bestehen eines möglichen Infektionsrisikos -aber auch des Erfolgs seiner Therapie-wusste, zudem seine Partnerin nicht oder nicht in vollem Umfang von seiner Erkrankung informierte.

Der Vorwurf des Versuchs einer gefährlichen Körperverletzung sei nicht bestätigt worden, so das Gericht.

Zur Begründung führt das Urteil aus: Der Angeklagte habe eine Viruslast ‚Null‘ (so das Urteil, gemeint wohl ‚unter der Nachweisgrenze‘) und zudem eine hohe Compliance (nehme seine Medikamente regelmäßig und korrekt ein). Der Angeklagte sei aus medizinischer Sicht „nicht ansteckend“, führte ein eingeschalteter Gutachter aus. „Dies bedeute, dass von einer solchen Person keine Gefahr der Ansteckung für Dritte ausgehe“, so der Gutachter laut Urteil.

Das Urteil resümiert: „Soweit eine Person, die HIV positiv ist, eine Viruslast von Null hat, ist sie nach medizinischen Gesichtspunkten und menschlichem Ermessen nicht ansteckend. Diese Person kann sonach tatsächlich den HI-Virus nicht übertragen. Ein von dieser Person ausgeübter ungeschützter Geschlechtsverkehr ist daher grundsätzlich -in objektiver Hinsicht -nur als untauglicher Versuch zu werten.“

Der ‚Täter‘ erfülle nicht alle ‚Tatbestandsmerkmale‘. Insbesondere der Vorsatz entfalle: „Unzulässig ist aber, ohne weiteres aus dem Wissen eines Täters um seine HIV-Infektion und darum, dass ungeschützter Sexualverkehr generell zu einer HIV-Übertragung geeignet sein kann, auf die billigende Hinnahme einer Infizierung des Partners zu schließen (BGH NStZ 1989, 114, 116). Wenn -wie hier -die Gefahr sich objektiv nicht verwirklichen kann, da beispielsweise eine Viruslast nicht besteht, kann aus der Tatsache, dass der Täter ungeschützt Geschlechtsverkehr ausübt und um seine HIV-Infektion weiß, nicht von bedingtem Vorsatz hinsichtlich einer Ansteckung ausgegangen werden. Vielmehr kann in solchen Fällen ein Täter -wie der Angeklagte in vorliegender Sache- sogar begründet davon ausgehen bzw. hoffen, es werde nicht ’schon nichts‘, sondern ’sicher nichts‘ passieren. Dies lässt einen Vorsatz entfallen.“

Amtsgericht Nürtingen, Geschäftszeichen 13 Ls 26 (HG)-Js 97756/07

Das Urteil des AG Nürtingen ist bemerkenswert. Vor allem, weil hier in erstaunlich deutlichem Umfang das in Rechtsprechung umgesetzt wurde, was noch jüngst zu lauten Diskussionen und Aufschreien führte, als es die EKAF in ihrem Statement „keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs“ verkündete.
Das Urteil sollte allerdings nicht als Aufforderung zu ungeschütztem Sex fehlverstanden werden.

Vom richterlichen Urteil unbenommen bleibt sicher eine Bewertung des Verhaltens des Angeklagten. Ob man eine vertrauensvolle Basis für eine Beziehung legen kann, indem man im Wissen des eigenen positiven HIV-Status ohne (ausreichende) Information ungeschützten Sex mit seinem Partner, seiner Partnerin hat, bleibt zumindest fragwürdig.

weitere Informationen:
Zu dem Urteil wurde inzwischen u.a. berichtet in der Zeitschrift GesR (Gesundheits-Recht) Ausgabe 05/2009 S. 276/277 (Inhaltsverzeichnis pdf, Artikel nicht online)

GB: Strafrechts- Richtlinie für Ermittlungen bei HIV-Infektion

Der britische ‚crown prosecution service‘ (CPS; etwa die Staatsanwaltschaft) hat nach Entwürfen bereits im September 2006 (siehe ‚mit Justitia gegen Positive?‚) und nach 18monatigen Konsultationen nun seine neuen Richtlinien für die Strafverfolgung von HIV-Transmissionen bekannt gegeben.

Guidelines: Intentional or reckless sexual transmission of infection
und
Policy for prosecuting cases involving the intentional or reckless transmission of infection

[via pinknews]

Nachtrag20.03.2008: eine detaillierte Besprechung der neuen CPS-Guidelines bei TheGayDissenter: „Sex, Sexual Transmitted Infections und englische Staatsanwälte“

ein schweizer Meilenstein

Der „erste Salon Wilhelmstrasse“ stand unter dem Titel “Positiv und negativ : Wie leben HIV-diskordante Paare heute?”. Ein thematisch breit besetztes Podium diskutierte unter Moderation von Holger Wicht über Chancen und Risiken des Statements der Eidgenössischen Aids-Kommission “keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs“. Ein Bericht.

Roger Staub, BAG SchweizRoger Staub, Leiter der Sektion Aids im Schweizer Bundesamt für Gesundheit und Mitgründer der Aidshilfe Schweiz, skizzierte nochmals die wesentlichen Punkte des (im übrigen in der Kommission einstimmig zustande gekommenen) EKAF-Statements und betonte dabei, unter den dort genannten Bedingungen sei die Wahrscheinlichkeit einer HIV-Übertragung „viel kleiner als 1 : 100.000“.
Staub betonte, der Fortschritt des Statements der EKAF liege vor allem auch darin, dieses Konzept jetzt auch zitier- und öffentlich verwendbar gemacht zu haben. Eine Zitierbarkeit, die wie später nochmals deutlich wurde, weit über den medizinischen Bereich hinaus ragt – gerade Gerichte und Verteidiger von HIV-Positiven benötigen zitierfähige Belege dafür, dass die Beurteilung der Infektiosität sich unter bestimmten Umständen verändert hat.
Der oft geäußerten Kritik, ob man das denn überhaupt und jetzt sagen dürfe, ob das Statement notwendig gewesen sei, entgegnete Staub „wenn es heute zu früh ist, wann ist es denn dann an der Zeit?“ Das Wissen um die Situation sei seit langer Zeit bekannt, werde von Ärzten verwendet, nun müsse man ehrlich an die Öffentlichkeit gehen. Es habe genügend Gelegenheit gegeben, dem Statement entgegen stehende Fälle zu publizieren.

Dr. Gute, FrankfurtDr. Gute ist ein HIV-Behandler aus Frankfurt. Er behandelt u.a. den Positiven, der gerade dabei ist als ‚Frankfurt patient‘ in die HIV-Diskussion einzugehen. Dieser lebt seit Jahren in einer sexuell monogamen Beziehung mit seinem HIV-infizierten und erfolgreich therapierten Partner. Dennoch hat eine HIV-Übertragung stattgefunden, wie mit phylogenetischen Untersuchungen gezeigt wurde zwischen den beiden Beteiligten (nicht mit einem etwaigen Dritten). Der Fall soll in den nächsten Wochen in einer virologischen Fachzeitschrift publiziert werden.
Dr. Gute betonte, auch er schätze das Risiko einer HIV-Übertragung durch einen erfolgreich therapierten HIV-Positiven (bei Abwesenheit von STDs) als „sehr sehr niedrig“ ein, aber es sei eben nicht ’null‘, wie gerade dieser Fall zeige.
Staub betonte in einer Replik, der Frankfurter Fall zeige nichts. Das EKAF-Statement gehe ja davon aus, dass genau solche Fälle nicht ausgeschlossen seien (wohl aber ihr Risiko drastisch reduziert sei). An der Gültigkeit des Statements der EKAF ändere dieser Fall nichts.

Prof. Martin DanneckerWarum sind die Reaktionen auf das Statement der EKAF und die potenziellen Folgen für die Situation der Positiven so heftig? Endlich sei in Fachkreisen schon länger bekanntes ‚Herrschaftswissen‘ veröffentlicht worden, betonte Prof. Martin Dannecker. Er wies darauf hin, dass die Menschen bisher gewohnt seien, HIV-Positive als Opfer wahrzunehmen. Und „aus dieser Rolle entlässt man eben niemanden gerne“.
In den vergangenen Jahren sei zudem nie thematisiert worden sei, dass es eben um „safer“ Sex (mit dem „r“) gehe – die auch bei Kondomen bestehende Unsicherheit sei ein tabuisiertes Thema, das nun jedoch wieder ans Tageslicht komme.

Für wen und in welchen Situationen könnte das EKAF-Statement anwendbar sein? Diese Frage beschäftigt derzeit viele. Dannecker kritisierte hierzu die „Engführung der Diskussion auf Paare“. Die Folgen des EKAF-Statements seien verhandelbar zwischen halbwegs vernunftbegabten Menschen – und nicht nur in sexuell monogamen Partnerschaften.
Dannecker monierte eine aus dem Statement der EKAF sprechende Einmischung der Medizin. Dass ein Kondomverzicht erst nach intensiver Beratung Beider durch den Arzt erwogen werden könne, bringe ein Mißtrauen des Arztes dem Patienten gegenüber zum Ausdruck, zudem sei dies ein unzulässiger Eingriff in das Binnenverhältnis des Paares.
Zukünftig, so Dannecker, könne es zu einem „paradoxen Sexualisieren“ kommen – im Vergleich zu einem vermeintlich HIV-Negativen mit all den Risiken negativen Serosortings könnte der HIV-Positive, der erfolgreich therapiert ist, zu einem attraktiven Sex-Partner werden.

Die Deutsche Aids-Hilfe hat bisher in den Diskussionen um das Statement der EKAF noch nicht Position bezogen, bemüht sich um eine noch in Erarbeitung befindliche gemeinsame Stellungnahme mit Robert-Koch-Institut (RKI) und Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).
Bernd Aretz Er sei erstaunt und erzürnt über den Umgang der Aidshilfe mit der aktuellen Situation, stieg Bernd Aretz in die Beleuchtung der Reaktion der Aidshilfen ein. Es scheine „verloren gegangen [zu sein], dass wir nicht die Regierung sind“. Die Aidshilfe sei ein politischer Verband, doch wo vertrete er derzeit die Interessen der HIV-Positiven?
Auch Martin Dannecker kritisierte, dass die Deutsche Aids-Hilfe immer noch nicht Position bezogen habe. Stehe dahinter die Angst um die staatlichen Mittel, an deren Tropf man zu hängen glaube?

Die Podiumsdiskussion sowie die anschließenden Fragen und Beiträge aus dem Publikum machte deutlich, das das EKAF-Statement sich als ein Meilenstein in der Geschichte von Aids erweisen könnte – ein Meilenstein, der Hoffnungen, aber auch Ängste auslöst.

Die Diskussion zeigte die Bruchlinien, um die herum sich die Diskussionen derzeit bewegen. Bruchlinien, die auch in Symposien und Veranstaltungen der folgenden Tage diskutiert wurden und die Diskussionen der kommenden Wochen bestimmen werden. Bruchlinien, die Etiketten tragen wie ‚Null Risiko oder Risiko-Minimierung?‘, ‚Frankfurt patient‘ oder ’neue Wege in der Prävention‘.

Im Verlauf der Diskussionen konnte man den Eindruck gewinnen, die DAH sei ein wenig gefangen – und verliere hierüber vielleicht ihre Fähigkeit, eine eigenständige Position zu finden und auch nach außen zu vertreten. Gefangen nicht nur in ihrem Gefühl, es ihren Auftrag- und Geldgebern ‚recht machen‘ zu wollen, sondern auch in ihrem Bemühen, mit allen Beteiligten (RKI, BZgA) zu einem Konsens-Paper zu kommen. Vielleicht hätte man mehr Mut zu eigener Position gefunden, wäre bereits bekannt gewesen, dass die BZgA diesen Konsens zu dem Zeitpunkt schon aufgekündigt, eine eigene BZgA-Presseerklärung vorbereitet hatte, die am nächsten Tag herausgegeben wurde.

Netzwerk plus: ‚lebensnahes Risikomanagement‘

Dokumentation einer Erklärung des Netzwerk plus zur Erklärung der Eidgenössichen Aids-Kommission (EKAF) in Sachen Infektiosität unter HIV-Therapie:

Netzwerk plus zum Thema Infektiosität von HIV-Positiven bei Viruslast unter der Nachweisgrenze

Beim Treffen von Netzwerk plus vom 29.02.-02.03.2008 im Waldschlößchen haben wir uns mit dem Thema „Strategien der Risikominderung“ und den aktuellen Veröffentlichungen der Eidgenössischen Kommission für Aidsfragen beschäftigt.

Die schweizerische Kommission unter Vorsitz ihres Präsidenten Prof. Dr. Pietro Vernazza hat u.a. festgestellt:

„Bei Menschen, die konsequent antiretrovirale Medikamente einnehmen, kann man im Blut kein aktives Virus mehr nachweisen.“ „Eine HIV-infizierte Person (…) ist sexuell nicht infektiös, d.h. sie gibt das HI-Virus über Sexualkontakte nicht weiter, solange folgende Bedingungen erfüllt sind:
– die antiretrovirale Therapie (ART) wird durch den HIV-infizierten Menschen eingehalten und durch den behandelnden Arzt kontrolliert;
– die Viruslast liegt seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze (d.h. die Viraemie ist supprimiert);
– es bestehen keine Infektionen mit anderen sexuell übertragbaren Erregern (STD).“

Die Veröffentlichungen aus der Schweiz haben auch in Deutschland eine kontroverse Diskussion über das Thema Infektiosität von HIV-Positiven bei Viruslast unter der Nachweisgrenze ausgelöst.
Selbst wenn dennoch ein Restrisiko bleibt, wie auch ein dokumentierter Fall aus Frankfurt zeigt, so ist gesichert, dass unter den o.g. Bedingungen die Wahrscheinlichkeit einer HIV-Übertragung äusserst gering ist und sich im Rahmen allgemeiner Lebensrisiken bewegt.
Wir begrüßen die Veröffentlichung aus der Schweiz. Für Menschen mit HIV und Aids ist diese Information eine Erleichterung und eine konkrete Verbesserung ihrer Lebenssituation und -perspektiven. Sie entlastet sero-diskordante Partnerschaften gleich welcher sexuellen Orientierung von Ängsten und Schuldgefühlen. Sie erleichtert in allen Zusammenhängen den Umgang mit HIV.
Erfreulich ist, dass längst bekannte, bislang aber nur hinter vorgehaltener Hand weitergegebene Tatsachen, nun auch von offizieller Seite benannt werden und damit ein Tabu durchbrochen wird.
Für die Zukunft wünschen wir uns, dass weitere Diskussionen in Deutschland zu diesem Thema ebenfalls evidenzbasiert, von sachlichen Argumenten getragen und auf der Grundlage eines humanistischen Menschenbildes geführt werden. Wir halten es nicht für legitim, dass diese Debatte unterdrückt wird, mit dem Argument angeblicher intellektueller Defizite von Teilen der Zielgruppen der Prävention.
Wir fordern daher, dass die Erkenntnisse ohne Vorbehalte breit kommuniziert werden,
– um irrationale Ängste vor HIV-positiven Menschen abzubauen;
– das leichtere Sprechen über HIV zu ermöglichen und die Isolation vieler HIV-Positiver aufzubrechen;
– weil die Wahrheit nicht unterdrückt werden kann;
– weil informierte Menschen eher rational handeln können.
Es muss dringend dafür gesorgt werden, dass – unter Beteiligung der Betroffenen – Standards für die Beratung durch Ärzte und psychosoziale Beratungsstellen formuliert werden, damit Ratsuchende individualisierte sachgerechte Informationen über das Thema Sexualität bei Viruslast unter der Nachweisgrenze erhalten.

Die bisherigen Präventionsbotschaften für flüchtige sexuelle Begegnungen behalten ihre Gueltigkeit. Damit Prävention in Zukunft glaubwürdig ist, müssen die Botschaften im Sinne eines lebensnahen Risikomanagements ergänzt und differenziert werden. Wenn Prävention HIV-positive Menschen als Partner behalten will, dann darf sie sie nicht wider besseres Wissen funktionalisieren, um Ängste hochzuhalten und zu schüren.
In den Fokus der Prävention geraten nun frisch infizierte Menschen, die ihre Infektion unwissentlich weitergeben können. Mythen von der Gefährlichkeit der Großstadt, von der Sicherheit ländlicher Räume und des eigenen Bettes müssen durch eine offene Kommunikation entzaubert werden. Ein sorgsamer, respektvoller Umgang miteinander muss befördert werden.

Weiterhin wird es zukünftig um Therapietreue und die überzogenen Ängste vor den Nebenwirkungen der Therapien sowie um Fragen der sexuellen Gesundheit insgesamt gehen. Testermutigung erhält eine neue Bedeutung, weil eine erfolgreich therapierte HIV-Infektion neue Perspektiven ermöglicht.

Die TeilnehmerInnen des Netzwerktreffens.

Göttingen, 02.03.2008

Kurznachrichten 06.02.2008

Das Arbeitsgericht Hamburg urteilt „AGG muss richtlinienkonform ausgelegt werden“ – auch kirchliche Arbeitgeber können nicht unter Verweis auf ihr kirchliches Selbstbestimmungsrecht grenzenlos gegen das AGG (früher Anti-Diskriminirungs-Gesetz) verstoßen.

„Polizei jagt fiesen Aids-Mann“ – so titelte ein Kölner ‚Boulevard-Blatt‘ noch gestern, heute ist die Schlagzeile immerhin in „Er infizierte seine Chat-Liebe mit Aids“ geändert … reicht eine Schlagzeile der ersten Art schon für den Presserat? Man kann auch sachlicher informieren …

Um Informationen bemüht sich auch ein kanadisches Präventions-Projekt, um Informationen über sexuell übertragbare Krankheiten wie Chlamydien, Lymphgranulom (LGV), Shigellose und Syphilis. Unter anderem mit einem sehenswerten Clip – ‚Syphilis – Der Film‘ sozusagen … (durchklicken grand public -> Syphilis -> Vidéo, Film mit englischem und französischem Ton).

Der US-Pharmakonzern Gilead könnte in den USA bedeutende Patente auf seine Substanz Tenofovir verlieren. Das ‚Patent Office‘ der USA hat Gilead vier bedeutende Patente auf die Substanz aberkannt. Tenofovir wird von Gilead unter dem Handelsnamen Viread vermarktet, die Substanz ist auch in den Kombi-Pillen Truvada und Atripla enthalten. Sollte die Berufung von Gilead gegen die Entscheidung scheitern und der Konzern diese Patente verlieren, könnten evtl. weitere Unternehmen die Substanz herstellen. Zudem, so betonte Ärzte ohne Grenzen, könnte die Entscheidung Einfluss auf die Patentierbarkeit der Substanz in Staaten wie Indien und Brasilien haben, in denen dringend weitere bezahlbare Aids-Medikamente benötigt werden.

Dokumentation: Bareback-Diskurs und Strafrechts-Debatte

Etwas verspätet im Folgenden als Dokument eine Rede Ortwin Passons (whk) anlässlich des Welt-Aids-Tags 2007 zum Themenbereich Barebacking und Strafrecht:

In der Tradition Wilhelm Leuschners – Die HIV-Hauptbetroffenen- gruppe homo- und bisexueller Männer zwischen Bareback-Diskurs und Feindstrafrechts-Debatte in Deutschland

Paulskirchen-Rede zum Welt-Aids-Tag 2007, von Ortwin Passon aus Frankfurt am Main, Mitglied beim wissenschaftlich-humanitären komitee [whk], Regionalgruppe Hessen

Teure Elite, liebe Barebacker,

bitte bewahren Sie Ruhe! – Keine Angst, eine Bombendrohung liegt nicht vor. „Bitte bewahren Sie Ruhe“ lautet der Titel eines von Thomas Uwer herausgegeben Werkes, in dem sich verschiedene Autoren mit dem Dasein im Feindrechtsstaat befassen. Aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Disziplinen wird darin den Folgen des „Krieges gegen Terror“, der deutschen Tradition des Feindbegriffes und seinen Wurzeln bei Carl Schmitt nachgegangen sowie den gesellschaftlichen Entwicklungen unter einem repressiven Liberalismus, Kants „Ewigem Frieden“ oder dem Feindbegriff in islamisch geprägten Rechtsordnungen. Ebenso werden die Mechanismen der sozialen und juristischen Konstruktion von – fremden – Feinden und die Rolle des Bürgers beleuchtet, der bereits morgen von seinen Mitbürgern als Feind betrachtet werden kann. Das Buch entstand aus Anlaß des 29. Strafverteidigertages, auf dem Professor Günther Jakobs 2005 seine Thesen zum „Feindstrafrecht“ zur Diskussion stellte.

Jakobs definiert den Begriff „Feindstrafrecht“ durch vier Merkmale: erstens durch die weite Vorverlagerung der Strafbarkeit und Verlagerung des Schwerpunkts von der begangenen auf eine noch zu begehende Tat; zweitens durch das Fehlen einer der Vorverlagerung entsprechenden Minderung des Strafmaßes; drittens durch den Übergang von der Straf- zur Bekämpfungsgesetzgebung; und viertens den Abbau prozessualer Garantien. Beispiele hierfür sind etwa Strafrechtsänderungen zur Bekämpfung von Drogenhandel, organisierter Kriminalität, Terrorismus und – Sexualdelikten.

Ich bin gern einer Anregung des emeritierten Professors Rüdiger Lautmann gefolgt, meine Reflexionen zu dem in Deutschland seit 1998 kontrovers geführten Bareback-Diskurs in den Kontext dieser parallel geführten Feindstrafrechts-Debatte zu stellen. Solcherart „Sattellos durch den Feindrechtsstaat“ reitend mußte ich 2006 resümieren: Der bevorstehende Welt-AIDS-Tag läßt befürchten, daß eine weitere Verschärfung und Verunsachlichung des Bareback-Diskurses herbeigeführt wird – mit weitreichenden Folgen nicht nur für Barebacker und HIV-Positive. Wenn die Profiteure des AIDS-Bizz in diesem Diskurs den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht endgültig verlassen wollen, indem sie sich zu Steigbügelhaltern der Verfechter eines „Feindstrafrechts“ gegen Barebacker machen, müssen sie das Grundgesetz und seine Freiheiten auch für jene Menschen einfordern und verteidigen, die sich aufgrund ihrer Lebensrealität für den bewußten, einvernehmlichen, risikoreichen Körperflüssigkeitsaustausch entschieden haben und deshalb keinesfalls weniger „wertvolle“ Teile dieses Gemeinwesens sind. Andernfalls laufen sie Gefahr, sich fragen lassen zu müssen, ob und inwieweit sie selbst denn überhaupt noch jene soziale Verantwortung beweisen, die sie Teilen ihrer Klientel einseitig aufzubürden trachten.

Ich möge doch, baten mich die heutigen Veranstalter, den „längst überfälligen Schritt“ wagen, und mich hier „mit den dubiosen Zielvorgaben des Feindstrafrechts, konkret … des unmenschlichen Ausschlusses von Menschen und ganzen Bevölkerungsgruppen aus der Gesellschaft mit Mitteln des Rechts kritisch auseinander(zu)setzen und schleunigst eindeutig schützende Positionen auch zugunsten von Barebackern … beziehen.“ – Allerdings, so ihre E-Mail vom 24. September, sei ihnen eben „besonders an der angesprochenen kritischen Auseinandersetzung und der abgeleiteten schützenden Position zugunsten von Menschen mit HIV gelegen.“

Der letzten Bitte kann ich so nicht folgen. Opportunismus und Spaltung sollen nicht meine Signale aus Frankfurt sein. Denn es geht längst nicht mehr darum, privilegierende Vergünstigungen auf Kosten einer noch randständigeren Gruppe einzufordern, sondern um die Verteidigung wohl begründeter Ansprüche. Ansprüche auf Achtung der Eigenverantwortlichkeit, auf Respekt vor der individuellen Lebenssituation und jenseits aller Verschiedenheit auf gleichwertige Teilhabe und Handlungsfreiheit. Diese stehen jedem Bürger uneingeschränkt zu, egal ob es sich um Heterosexuelle oder Homosexuelle, um HIV-Infiziere oder Barebacker handelt. Folgerichtig kann es nicht nur um die Ableitung einer schützenden Position ausschließlich zugunsten von Menschen mit HIV und AIDS gehen. Sondern es muß um den Schutz der Grundrechte von Männern gehen, die Sex mit Männern haben – und zwar unabhängig von ihrem Serostatus und gerade auch bei Hinzutreten „strafverschärfender“ Merkmale wie Barebacking. Anders ausgedrückt: Es kann niemand verantworten, das Liebevolle am Würgegriff der politikbestimmenden Kaste gegenüber Homosexuellen erhalten zu wollen, wenn HIV-Positive zum Abschuß freigegeben werden. Umgekehrt kann ich es nicht verantworten, zugunsten HIV-Infizierter nunmehr Barebacker abschießen zu lassen.

Insoweit sehe ich mich als Hesse in der Tradition des ehemaligen Innenministers dieses Landes, Wilhelm Leuschner, der am 29. September 1944 in Berlin-Plötzensee erhängt wurde. Er würde Ihnen heute hier in der Wiege der deutschen Demokratie vermutlich zurufen: Die Freiheitsgarantien des Grundgesetzes, das nach der Befreiung vom Faschismus in seinen ersten 19 Artikeln die Staatsziele und die unerschütterlichen Grundlagen unseres Gemeinwesens festschreibt, sind für die in seinem Geltungsbereich lebenden Menschen nicht teilbar!

Wer die „Gay-Community“ in gute und böse Homosexuelle, beziehungsweise in bemitleidenswerte und verantwortungslose HIV-Infizierte spaltet, wie dies einmal mehr auf dem Berliner Kongreß „HIV im Dialog“ am 1. September geschah, befördert im kurzsichtigen Eigeninteresse die Verwahrlosung des Rechtsstaates und erleichtert den Schilys und Schäubles und ihrem später gewendeten Inspirator Jacobs den Grundrechtsabbau. Das Zetern wird erfahrungsgemäß nach Schalterschluß einsetzen. Der war übrigens für Barebacker am 23. März 2007.

Auch Sie kennen Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Wieder einmal soll in dieses Grundrecht nach dem nicht mehr so ganz „gesunden Volksempfinden“ einiger Zeitgenossen eingegriffen werden. Durch wen? Durch den Gesetzgeber! Die an der Wahl beteiligten Wahlberechtigen haben sich in den Bundestag derzeit 613 Repräsentanten gewählt – wie ich hoffe und gleichzeitig befürchte: mit Überzeugung.
Keine dieser eventuell HIV-positiven Personen ist – anders als nicht ganz unwesentliche Teile meines heutigen eventuell auch HIV-positiven Barebacker-Publikums – darauf angewiesen, mit dem monatlichen ALG-II-Regelsatz von 347 Euro plus begrenztem Mietzuschuß auszukommen. – Bei chronisch Kranken zuzüglich eines unbedeutenden Ernährungszuschlags von 25 Euro. Nach der jüngsten Diätenerhöhung muß jeder dieser Mandatsträger mit knapp 7700 Euro zuzüglich einer steuerfreien Kostenpauschale von ca. 3.700 Euro darben, insgesamt also mit etwa 11.400 Euro die Inflationsrate ausgleichen.

Im Alter wird man wunderlich. Auch ich habe es mir zur Regel gemacht, vor größeren Anschaffungen zur Abschreckung in D-Mark umzurechnen. Für alle, die ähnlich wunderlich sind wie ich: 11.400 Euro entsprächen 22.296 Mark – und 46 Pfennigen. Monatlich. „Eine fürstliche Entlohnung ist das nicht, wenn man die herausgehobene Verantwortung und den zeitlichen Aufwand bedenkt“, meinte dazu die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 7. November mitfühlend. Trotz dieser immensen Inanspruchnahme durch das Mandat müssen immer mehr Abgeordnete irgendwie die Zeit finden, ähnlich wie unzählige sozialschwache HIV-Positive, noch etwas Geld hinzuzuverdienen.

Um 142 von ihnen müssen wir uns nur noch mindere Sorgen machen. Sie hatten Glück und konnten heuer allein bis Ende September neben ihren Diäten Honorare im Gesamtwert von mindestens 5,8 Millionen Euro einnehmen, wie aus einer Untersuchung der Beratungsfirma „deducto“ hervorgeht. Da ab einer gewissen Anzahl von Nullen mein Interesse schlagartig abnimmt, was es mir auch zusehends schwerer macht, mich an Wahltagen zu motivieren, sehe ich an dieser Stelle von einer Umrechnung ab. Soviel zum Sein, das bekanntlich das Bewußtsein bestimmt. Und nun wieder zurück zum klassischen Feindstrafrecht.

Bekanntermaßen muß derjenige, der einen Kampf aufnimmt, sich davor hüten, seinem Feind und seinen Methoden ähnlich, allzu ähnlich zu werden. Diese spezielle Form der Verhütung scheint nicht ohne Anstrengung zu funktionieren. Wie sonst wäre erklärlich, daß der Bundestag neuerdings verschleiert daherkommt, auf Säcke einschlägt und die gemeinten Esel nicht heulen? Die Rede ist von der Entschließung des Bundestags vom schon erwähnten 23. März 2007. Darin wird in den Ziffern 6 und 7 der Gesetzgeber aufgefordert, „gemeinsam mit den Ländern und Verbänden“ – welche mögen das wohl sein? – „bundesweit im Rahmen einer Selbstverpflichtung der Anbieter von Orten der sexuellen Begegnung auf Präventionsmaßnahmen hinzuwirken, die u.a. (…) den vollständigen Verzicht auf Werbung und Unterstützung für ungeschützten Geschlechtsverkehr beinhaltensollte.“

Was aber, wenn die Betreiber entsprechender Internetportale und Veranstaltungsorte ihrer Aufgabe als Bereichs-„Sicherheitsdienst“ nicht nachkommen und insofern die etwas abgedunkelten Zerstreuungsbereiche homosexueller Erlebnisgastronomie sich als resistent gegen fremdbestimmten Kondomgebrauch erweisen, wovon lebensnah auszugehen ist? Dann wird die Bundesregierung im März 2009 nicht nur „über den Stand der Umsetzung“ zu berichten, sondern „gegebenenfalls Vorschläge für eine rechtliche Regelung“ zu unterbreiten haben. Die deutsche Regierung wird bis zu diesem Termin parallel zu prüfen gehabt haben, „ob die Erfahrungen in Österreich und der Schweiz mit der Verschärfung des Strafrechtes bezüglich der fahrlässigen Gefährdung der Verbreitung einer sexuell übertragbaren Krankheit eine handhabbare Regelung zur Eindämmung der kommerziellen Angebote von ungeschütztem Sex darstellen.“

Nichts anderes als die Ankündigung einer gegen Barebacker gerichteten Sondergesetzgebung verbirgt sich dahinter. Noch einmal zur Erinnerung: Das sogenannte Feindstrafrecht als rechtstheoretische Grundlage für solcherlei Strafverschärfungen geht von der Grundannahme aus, daß es „Feinde“ in der Gesellschaft gibt, denen mit dem bisherigen Strafrecht nicht angemessen und ausreichend begegnet werden kann, weshalb gegen diese „Feinde“ ein präventives Bekämpfungsstrafrecht benötigt wird. Ein solcher „Feind“ ist nach Jakobs „ein Individuum, das sich in einem nicht nur beiläufigen Maß in seiner Haltung … oder seinem Erwerbsleben … oder durch seine Einbindung in eine Organisation … also jedenfalls vermutlich dauerhaft vom Recht abgewandt hat … und dieses Defizit durch sein Verhalten demonstriert.“ Vor diesem Hintergrund liest sich die Bundestagsentschließung beängstigend deutlich: Auch wenn inzwischen vereinzelt die Homos die Möglichkeit nutzen, sich von den Heten in der sogenannten Homo-Ehe freiwillig sexuell fremdbestimmen zu lassen, und so die ersehnte Integration der Verbands- und Berufshomos in die vermeintliche Spitze der Gesellschaft mit ermöglichen: In ihrer letzten unkontrollierten Nische, in ihrer Subkultur – die ja von dem abweichen soll und will, was zwischen Kittelschürze und Arschgeweih sonst so als richtig und moralisch empfunden wird – entziehen sie sich, wenn auch vereinzelt, dem verlogenen Schweigegelübde über das, was alle wissen und viele tun.

Barebacking meint meines Erachtens im Gegensatz zu lediglich ungeschützt stattfindendem Sex die wechselseitig bewußte und gewollte, vom tatsächlichen Serostatus der jeweiligen Partner unabhängige und einvernehmliche Ausübung risikoreicher Sexualpraktiken unter überwiegend homo- oder bisexuellen Männern. Das Bewußte und Einvernehmliche scheint mir dabei eine individuelle Strafbarkeit der Praktiken auszuschließen. Wenn aber eine Strafbarkeit von Barebacking unter diesen Begegnungsbedingungen nicht gegeben ist, was bleibt dann außer der Überzeugung, daß andere moralisch falsch handeln, als Motiv für die Bundestagsentschließung?

Sollte die „freiwillige“ Unterwerfung unter diese moralische Anschauung nicht gelingen, so sollen künftig die Staatsanwaltschaften und ihre Hilfsorgane – wozu schließlich gibt es bei den Länderpolizeien Ansprechpartner für Homosexuelle? – im Dienst an der sittlichen Volksgesundheit in Marsch gesetzt werden. Eine ganz große Koalition aus CDU und Die Linke, aus FDP und SPD hat somit der Kriminalisierung von Barebacking aktiv Vorschub geleistet oder durch Stimmenthaltung ihren gesetzgeberischen Willen zum politischen Abschuß von Barebackern erklärt. Bürgerliche von Links bis Rechts haben es vorsätzlich unterlassen, zwischen ihrem sittlichem Empfinden und ihren Moralvorstellungen und zwischen allgemeingültigem Grundrecht zu trennen. Der präventive Ansatz, die Ausübung selbstbestimmter und selbstverantworteter Sexualität gerade durch Aufklärung über die Risiken und Folgen bestimmter Handlungsweisen weiter zu ermöglichen, wird in sein repressives Gegenteil verkehrt. „Selbstbestimmung“ und „Eigenverantwortlichkeit“ sollen nur dann nicht kriminell sein, wenn sie in eine bestimmte vorgegebene Richtung ausgeübt werden. Nach der „Homo-Ehe“ und dem ALG-II-Regelsatz kommt nun also die Missionarsstellung eigener Art.

In Anlehnung an eine Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1. Oktober zu Christian Geulens Geschichte des Rassismus würde ich sagen: Homosexuellenfeindlichkeit ist gefürchtet als Erscheinung, wird aber gern als Erklärung von verschiedener Seite in Anspruch genommen. Sie ist geächtet und gesucht zugleich: Durch die Verstaatlichung der Trümmer der zweiten deutschen Schwulenbewegung überwunden geglaubt, erhebt sie wieder ihr gegeltes Haupt. Wir erleben – um mit Daniela Klimke und Rüdiger Lautmann zu sprechen – durch mediale Praxen und die Vereinnahmung aktueller kultureller Themen den Aufstieg der Sexualdevianz zu einer gesellschaftlichen Hauptfrage. Sexuelle Normabweichung erfährt eine – von manchen unerwartete – Konjunktur, womit Klimke und Lautmann einmal mehr die Umkehrung des liberalen Trends der 1970er Jahre bei der Entkriminalisierung sexueller Handlungen diagnostizieren: Im Bereich der HIV-Prävention wird als Teil einer repressiven Gesundheits- und Rechtspolitik dem „Feindstrafrecht“ gegen Barebacker mehr oder weniger klar das Wort geredet. – Müssen also bald emanzipierte Barebacker in einer dann noch aufnahmebereiten Homobar Zuflucht vor dem aufgebrachten Mob suchen, wird sogleich der Kampf um die Frage beginnen, ob Diskriminierung oder gar Übergriffe gegenüber potentiellen oder tatsächlichen HIV-Infizierten zu Recht als homosexuellenfeindlich zu bezeichnen seien. Die lokalen amtlichen Vertreter werden Sexualneid und Homofeindlichkeit bei sich und denen, die sie in ihre Ämter wählen, weit von sich weisen. Derweil werden, mit einer kleinen Spitze des Literaturwissenschaftlers Dirck Linck, Lauter Sehr Verantwortungsbewußte Demokraten – vulgo: LSVD – eilig und nicht ganz uneigennützig diese Motive als Wurzel allen Übels ausmachen. Denn waren solche Taten homosexuellenfeindlich motiviert, sind sie natürlich erschütternd und verabscheuungswürdig, aber wenigstens erklärbar, fast vertraut. Schließlich sind es doch immer nur die Ewiggestrigen, die von Zeit zu Zeit in undemokratische grundgesetzwidrige Reflexe zurückfallen. Da kann man dann auch nichts machen, wie Mutti sagen würde. Und darum sperren sie die Barbacker am besten gleich von den Christopher-Street-Day-Paraden aus, wie dieses Jahr in Köln und in Berlin.

Das Problem bei der Bundestagsdrucksache 16/3615 und eines auf dieser Basis ab 2009 daherkommenden Sondergesetzes gegen Barebacker ist, daß ihnen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken anhaften werden. Wenn Sie also im Anschluß an diese Veranstaltung oder nach dem Trauermarsch zum Gedenken an die an den Folgen von AIDS Verstorbenen im Darkroom von „Scheune“ oder „Stall“ risikobewußt, einvernehmlich und ungeschützt „nageln“ oder „nageln lassen“ sollten: Sie verteidigen ganz nebenbei – nur eben anders als Ihr Verfassungsschutzminister – das Grundgesetz. Auch wenn Sie morgen wieder vom Klassenfeind gefickt werden.

Copyright und Autor des Textes: Ortwin Passon

HIV & Strafrecht – rollback zur ‚alten Schule‘?

Zunehmend stehen in Europa HIV-Positive vor Gericht, die wegen HIV-Infektion angeklagt werden.

In der Schweiz erfolgte jüngst ein Freispruch in HIV-Prozess, mit einem bemerkenswerten Urteil – der Beklagte wurde freigesprochen, da er die safer-sex-Regeln eingehalten hatte.

Leider ist das erfreuliche Urteil aus der Schweiz derzeit im europäischen Kontext die Ausnahme. Schon seit längerem häufen sich Fälle, in denen juristisch gegen Positive vorgegangen wird. Auch in jüngster Zeit wieder:

In Kleve wurde ein 37jähriger HIV-Infizierter Mitte Dezember 2007 vom Landgericht wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt, weil er einem 24jährigen Lover seine HIV-Infektion verschwieg. Dieser ist inzwischen auch HIV-infiziert, wobei nicht geklärt werden konnte, bei wem er sich infiziert hat. Ursprünglich lautete die Anklage auf versuchten Totschlag.

Ein pädophiler Sex-Tourist steht in Kiel vor Gericht. Neben dem Missbrauch Minderjähriger (in Kambodscha) wird ihm auch versuchte gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Er habe eine HIV-Infektion der Kinder billigend in Kauf genommen.

In Frankreich wird einem 25jährigen HIV-infizierten Schwulen vor Gericht vorgeworfen, bewusst die mögliche Infektion mehrerer Sex-Partner in Kauf genommen zu haben. Erstmals in Frankreich kommen phylogenetische Untersuchungen zur Anwendung – um den ‚Verursacher‘ ausfindig zu machen.

In London haben Richter Anfang Dezember 2007 geurteilt, wenn ein HIV-Positiver seinen HIV-Status vor dem Sex nicht erkläre, könne dies bei der Strafbemessung relevant sein. Britische Strafrechts-Experten sehen in dem Urteil eine Fortsetzung des Trends von Richtern (in Großbritannien), die nicht-Offenlegung des eigenen HIV-Status als ‚völlig unentschuldbare Handlung‘ zu betrachten.

Trotz des erfreulichen und erfreulich überlegt begründeten Schweizer Urteils, in Europa scheinen die ‚juristischen‘ Zeichen der Zeit eher auf höherer Strafverfolgung und zunehmendem juristischen Druck gegen Positive zu stehen.

Steht hinter dieser Tendenz zu mehr ‚law and order‘ nicht letztlich auch der Gedanke, wieder zu einer Aids-Bekämpfung ‚alter Schule‘ zurück zu kehren?
‚Alte Schule‘, das hieß ‚controll and containment‘, Infektionsquellen identifizieren und stillegen. ‚Neue Schule‘ hingegen ist seit den 1980er Jahren vielmehr eine Politik von ‚inclusion and cooperation‘ – eine Politik, die Betroffene ohne Diskriminierung einbindet und die bisher deutliche Erfolge produziert hat. Eine Politik, die nicht unüberlegt aufgegeben werden sollte.
So bleibt zu hoffen, dass das Schweizer Urteil ‚Schule macht‘.

weitere Informationen:
Mit Justitia gegen Positive?
Strafrecht gegen unsafen Sex – ein Blick über die Grenzen
UNAIDS über HIV und Strafrecht
Infektionsrisiko unter HAART – widersprüchliche Signale
HIV/Aids: repressive Maßnahmen behindern Prävention

zu phylogenetischen Tests:
HIV vor Gericht 1 – alles eine Frage der Abstammung
HIV vor Gericht 2 – Ist Abstammung wirklich alles?
HIV-Abstammung allein nicht genug vor Gericht

Freispruch in HIV-Prozess

Über ein bemerkenswertes Urteil in der Schweiz berichtet the gay dissenter:

Im Sommer 2005 infizierte sich der Kläger beim Oralsex mit den Angeklagten mit HIV. Ein wissenschaftliches Gutachten (vermutl. phylogenetische Analyse, d.Verf.) habe, so die schweizer Presse, die sehr große Ähnlichkeit der Viren beider belegt.

Der Angeklagte wurde freigesprochen. Er habe sich an die safer-sex-Regeln gehalten und keine Sorgfaltspflichten vernachlässigt. „Solange die Safer-Sex-Regeln eingehalten werden,ist die Grenze des erlaubten Risikos nicht überschritten“, so der Gerichtspräsident des Kreisgerichts Konolfingen.

Einen ausführlichen Bericht hat thegaydissenter.

weitere Informationen:
Strafrecht gegen unsafen Sex – ein Blick über die Grenzen
UNAIDS über HIV und Strafrecht
Infektionsrisiko unter HAART – widersprüchliche Signale
HIV/Aids: repressive Maßnahmen behindern Prävention

UNAIDS über HIV und Strafrecht

Nicht nur in Deutschland stehen immer wieder Menschen mit HIV vor Gericht, weil ihnen fahrlässige oder gar vorsätzliche Infektion vorgeworfen wird. ‚HIV und Strafrecht‘ ist zu einem kontroversen Diskussionsthema geworden, und zum Gegenstand erhitzter Debatten.

Die Aids-Organisation der Vereinten Nationen UNAIDS hat dieses Thema aufgegriffen. Im Rahmen einer dreitägigen Konferenz vom 31. Oktober bis 2. November wurde die Tendenz zur Kriminalisierung von HIV-Positiven im Kontext nationaler Aids-Bekämpfungs-Strategien diskutiert.

Die Teilnehmer, unter ihnen Parlamentarier, Richter, Strafrechtsexperten und Menschen mit HIV, betonten anschließend ihre Sorge über den offensichtlichen Anstieg von Fällen, in denen Menschen mit HIV kriminalisiert wurden. Sie befürchten zudem eine erneute Diskriminierung und Stigmatisierung HIV-Positiver.

„Eine klare Botschaft hat dieses Treffen,“ betonte Seema Paul, UNAIDS Chief of Policy Coordination, „das Strafrecht ist eine sehr stumpfe Waffe im Umgang mit HIV.“

Weitere Informationen:
UNAIDS: Is HIV transmission a crime?

Vergewaltigt in Dubai (akt.4)

Ein 15jähriger Schüler droht in einem bizarren Streit zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Frankreich vom Vergewaltigungs-Opfer zum Angeklagten wegen homosexueller Handlungen zu werden.

Alex, ein 15jähriger Franzose, verbrachte im Juli 2007 zusammen mit seinen Eltern eine Urlaub in Dubai. Nach Aussagen des Schülers wurde er am 14. Juli (dem französischen Nationalfeiertag) auf dem abendlichen Rückweg zu seinen Eltern von drei Männern vergewaltigt. Zwischen in Bau befindlichen Villen hätten die drei Männer ihn mit einem Messer bedroht, seine Hosen gewaltsam herunter gezogen und ihn vergewaltigt.

Ein Arzt bestätigte anschließend, dass am und im Körper des Jungen fremdes Spermas gefunden wurde – das der drei Beklagten, wie später mittels DNA-Analysen festgestellt wurde. Allerdings behauptet der Arzt, ein Ägypter, keine Spuren einer gewaltsamen Penetration gefunden zu haben. Es habe ‚wohl vielfältige vorherige Benutzung‘ der Analregion gegeben [… bei einem 15jährigen …].

Doch erstaunlicherweise wurde in den Vereinigten Arabischen Emiraten lange Zeit nicht gegen die drei Männer ermittelt, die die Vergewaltigung begangen haben sollen. Dem Jungen, seinen Eltern sowie französischen Diplomaten wurde stattdessen nahegelegt, nicht auf Strafverfolgung zu bestehen. Vielmehr werden nun dem 15-jährigen Jungen ‚homosexuelle Praktiken‘ vorgeworfen.

Doch nicht nur das. Die Behörden vor Ort hielten es mehrere Wochen lang auch nicht für erforderlich, dem Jungen oder seinen Eltern mitzuteilen, dass bei einem der drei Männer bereits vor 4 Jahren während eines Gefängnis-Aufenthalts eine HIV-Infektion diagnostiziert wurde. Zunächst war der Mutter des Jungen von VAE-Behörden mitgeteilt worden, die drei Beklagten seien ‚krankheitsfrei‘. Erst Anfang September wurde ihr gegenüber deutlich gemacht, dass einer der Beklagten HIV-infiziert sei.
Bisher wurde bei dem Jungen kein HIV diagnostiziert. Aufgrund der langen möglichen Inkubationszeit wird er jedoch erst in einigen Wochen endgültige Klarheit in Sachen HIV haben.

Der Junge ist inzwischen in die Schweiz geflüchtet. Er habe befürchten müssen, in den Vereinigten Arabischen Emiraten auch noch unter dem Vorwurf homosexueller Handlungen festgenommen zu werden, gab er zur Begründung an.
Er und seine Eltern wandten sich anschließend an die Presse in der Hoffnung, aufgrund öffentlichen Drucks doch noch eine Strafverfolgung der Männer erreichen zu können.

90% der Einwohner Dubais sind nicht Bürger der Vereinigten Arabischen Emirate.
Vergewaltigung von Männern ist in den Vereinigten Arabischen Emiraten kein Straftatbestand, wohl aber ‚erzwungene Homosexualität‘. Ausländer, denen homosexuelle Aktivitäten vorgeworfen werden, werden des Landes verwiesen. Ausländer, bei denen HIV festgestellt wird, müssen das Land innerhalb von 24 Stunden verlassen.

Der Fall des 15jährigen Jungen hat zu diplomatischen Spannungen zwischen Frankreich und den arabischen Emiraten geführt.
Die Behörden in Dubai haben die Ermittlungen gegen die drei Beklagten inzwischen neu aufgenommen. Zwei erwachsene inzwischen festgenommene Beklagte sollen am 7. November vor Gericht stehen, der dritte noch minderjährgige Beklagte am 6. November vor einem Jugendgericht.

Die Mutter des Jungen, eine Journalistin mit guten Kontakten zur französischen Regierung, fordert auf www.boycottdubai.com inzwischen zum Boykott des vermeintlichen Paradieses am persischen Golf auf.

Weitere Informationen:
Liberation: Vergewaltigung eines 15jährigen in Dubai
Tetu: Prozess am 7. November und diplomatische Verwicklungen
Die Jüdische: Vergewaltigter 15jähriger Franzose wird zum Täter gemacht
New York Times: In Rape Case, a French Youth Takes On Dubai
International Herald Tribune NYT: Mutter aus dem Gerichtssaal geworfen …
Nachtrag 12.12.: zwei der Männer in Dubai zu je 15 Jahren Haft verurteilt (der dritte, noch nicht volljährige Täter muss sich vor dem Jugendgericht verantworten)
Nachtrag 21.01.2008: der französisch-schweizerische Jugendliche hat sich bei dem Vorfall nicht mit HIV infiziert, berichtet die Basler Zeitung
Nachtrag 18.02.2008: Am 3. Februar wurde die Verurteilung der beiden Männer zu 15 Jahren Haft in der Berufung bestätigt. Der dritte Angeklagte wartet auf die Verhandlung seines falls vor dem Jugendgericht.

HIV-Abstammung allein nicht genug vor Gericht

Bei Verurteilungen wegen fahrlässiger HIV-Verbreitung stellt sich die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen den HI-Viren der beiden beteiligten Personen besteht. Zunehmend kommen neue Untersuchungsverfahren zum Einsatz. Doch wie sicher sind ihre Ergebnisse?

Auch in Prozessen in Deutschland, in denen es um eine etwaige Verurteilung wegen fahrlässiger HIV-Infektion geht, kommen so genannte phylogenetische Tests teilweise zur Anwendung. Mit ihnen soll vermeintlich gezeigt werden, wie eng die HI-Viren von Angeklagtem und Kläger mit einander verwandt sind, und ob die Infektion des Klägers durch den Angeklagten verursacht worden sein kann.

Ein Editorial in der medizinischen Fachzeitschrift British Medical Journal (BMJ) Anfang September 2007 (Bericht NAM hier) betont, Verurteilungen wegen fahrlässiger HIV-Infektion, die auf phylogenetischen Tests beruhen, seien „inhärent unsicher“.
Die drei Autoren betonen, bei der Beurteilung der Ergebnisse dieser Untersuchungen sei Vorsicht angebracht, wenn diese eine Verbindung zwischen dem HIV des Angeklagten und dem des Klägers zu zeigen scheinen. Jeglicher Hinweis, der auf dieser Untersuchung beruhe, sei niemals so genau, wie dies von DNA-Untersuchungen bekannt sei. Sie warnen vor voreiligen oder verkehrten Schlussfolgerungen.

In Großbritannien sind phylogenetische Untersuchungen inzwischen gängig bei Ermittlungen gegen Positive wegen fahrlässiger HIV-Verbreitung. Auch in Deutschland kommen sie zunehmend zum Einsatz.
Ob eine ausreichende Sensibilität besteht, die Ergebnisse dieser Untersuchungen kritisch zu betrachten, ist unklar.

Pillay D et al. HIV phylogenetics: criminal convictions relying solely on this to establish transmission are unsafe. BMJ 335: 460 – 461, 2007

mit HIV vor Gericht

In Braunschweig wurde Anfang September 2007 ein 26jähriger Mann vom Braunschweiger Landgericht zu drei Jahren Haft verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, seine 22jährige Freundin wissentlich mit HIV infiziert zu haben.

Der 26jährige soll Presseberichten zufolge seiner Partnerin nicht nur seinen HIV-Status verschwiegen haben, vielmehr soll er bei seinem Begehren nach Sex ohne Kondom einen gefälschten ‚Aids-Test‘ vorgelegt haben. Als „besonders hinterhältig“ soll der vorsitzende Richter dieses Verhalten bewertet haben.

Da das Gericht nicht klären konnte, ob die 22jährige Freundin durch ihn infiziert wurde oder sich schon vorher mit HIV infiziert hatte, wurde der 26jährige Mann wegen versuchter, nicht wegen vollendeter schwerer Körperverletzung verurteilt.

Weitere Infos:
Verurteilung in Köln
Prozess in Brandenburg
Mit Justitia gegen Positive (u.a. Memmingen)
Alles eine Frage der Abstammung?
Ist Abstammung wirklich alles?
Über Kondome und Ignoranz (u.a. Würzburg, Berlin)

Realität statt potemkinscher Dörfer

Das Strafrecht kennt auch in Deutschland längst Regelungen für den Fall einer Körperverletzung durch eine HIV-Infektion – wie erst gestern wieder ein Fall in Köln zeigte.

Am 22. Juni wurde in Köln ein heterosexueller HIV- infizierter Mann verurteilt, dem vorgeworfen wurde, mehrere Frauen bewusst mit HIV infiziert zu haben.

Der 38jährige Kfz-Mechaniker Stefan S. gab sich als Architekt aus, lernte Frauen kennen und drängte sie bald zu ungeschütztem Geschlechtsverkehr. Laut Urteil soll er mit mindestens 11 Frauen unsafen Sex gehabt haben, 4 von ihnen sind heute HIV-positiv. In einem Fällen soll sogar eine höhnische SMS gefolgt sein (‚viel Spaß mit HIV‘).

Das Landgericht Köln verurteilte den Angeklagten nach seinem Teil-Geständnis am 22.6.2007 zu 8 Jahren Haft wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Das Gericht blieb damit unter dem geforderten Strafmaß, die zuständige Staatsanwaltschaft hatte 12 Jahre gefordert. Allerdings muss nach Verbüßung der Haft auf Anweisung des Richters auf Sicherungsverwahrung geprüft werden (oder Freilassung).

Wieder einmal hat Justitia gezeigt, dass das Strafrecht bereits heute Regelungen enthält, die wirksam eingesetzt werden können bei nicht-einvernehmlichem ungeschütztem Verkehr und potentieller HIV- Übertragung.

Weiterer repressiver Maßnahmen oder einer Strafverschärfung, wie immer wieder gefordert wird, bedarf es nicht, wie auch jüngst das 120. Positiven- Treffen in einer Resolution betonte.

Statt potemkinscher Dörfer der Strafverschärfung sollte wirksam über Risiko-Einschätzung und -minimierung informiert werden. Bei erfolgreich behandelten HIV- Infizierten ist z.B. das Infektionsrisiko drastisch gesenkt – eine Botschaft, weit mehr zu einer Reduzierung von Neu-Infektionen beitragen könnte als ständige Aufgeregtheiten.


HIV/Aids: Repressive Maßnahmen behindern die Prävention

Resolution des 120. bundesweiten Positiventreffens im Waldschlösschen bei Göttingen
HIV/Aids: Repressive Maßnahmen behindern die Prävention

Die laufende Debatte über die Bewertung der HIV- Neudiagnosen und bessere Strategien, die Zahl der Neuinfektionen möglichst gering zu halten, ist mit geprägt von Missverständnissen, Aufgeregtheiten und strafrechtlichen Bedrohungsszenarien.
Menschen mit HIV und Aids fordern, zu einer an Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen orientierten, seriösen Debatte zurück zu kehren!

Das Robert-Koch-Institut stellt fest, dass die Zahl der neu diagnostizierten HIV-Infektionen in der BRD im internationalen Vergleich weiterhin äußerst niedrig ist. Das deutliche Nein zu einer repressiven Seuchenstrategie ist also in Deutschland erfolgreich.

Durch Forschung und Erfolge der Medizin wissen wir heute, dass HIV sich schon unbehandelt schwer überträgt und bei erfolgreicher Behandlung die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung wohl auszuschließen ist. Das Schweizer Bundesamt für Gesundheit ordnet deshalb den ungeschützten Geschlechtsverkehr eines erfolgreich Therapierten in die selbe Risikokategorie ein wie Zungenküsse – weltweit ist kein einziger Fall einer Übertragung bekannt.

Repressive Maßnahmen behindern die Prävention
Die internationale Forschung und die WHO gehen davon aus, dass Strafrecht im Bereich einvernehmlicher Sexualität schädlich für die Prävention ist.
Aus der Forschung ist gesichert, dass ein nennenswerter Teil der Infizierten (es werden etwa 50% geschätzt) um ihre Infektion nicht weiß. Das Wissen um eine HIV- Infektion kann in Deutschland strafrechtliche Folgen haben, und zwar unabhängig davon ob Sexualpartner infiziert wurden oder werden konnten.
Der möglicherweise hochinfektiöse HIV-Infizierte, der nicht von seiner Infektion weiß und sich für „negativ“ hält, ist beim Sex rechtlich auf der sicheren Seite.
Der wissende, gut behandelte und damit wahrscheinlich nicht mehr infektiöse Positive läuft dagegen Gefahr, wegen „versuchter gefährlicher Körperverletzung“ vor dem Richter zu landen.
Diese absurden rechtlichen Konsequenzen können die Entscheidung zum Test beeinflussen, und dadurch HIV-infizierte Menschen von einer wirksamen Therapie fernhalten.

Es besteht außerdem ein deutliches Missverhältnis zwischen dem Aufwand, der einerseits betrieben wird, theoretische Restrisiken (z.B. angebliche Gefährlichkeit des sog. Lusttropfens) öffentlich hochzuhalten, und andererseits der unzureichenden tatsächlichen Bereitschaft, real etwas gegen leicht vermeidbare HIV Infektionen zu tun.
Spritzentausch in den Vollzugsanstalten zu verweigern und gleichzeitig die Strafbarkeit der Übertragung von Erkrankungen zu fordern ist ethisch nicht nachvollziehbar.

Es ist unethisch, durch die Diskussion den falschen Eindruck zu verstärken, die wissenden HIV-Infizierten seien der Motor der Epidemie, statt durch das öffentliche Ansprechen auch entlastender Faktoren (wie der Bedeutung der Viruslast) die Kommunikation über HIV im sexuellen Umgang zu erleichtern.

Die Ärzteschaft, das Robert Koch Institut, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Aids-Hilfen sind gefordert, sich – orientiert am Beispiel der Schweiz – öffentlich zu Risikoeinschätzungen und Risikominimierungsstrategien zu äußern. Die Medien, auch die schwulen, sind gefordert, nicht den dumpfen Bestrafungswünschen und -fantasien nachzugeben.

Grundlage von Aufklärung und seriösem Journalismus – wie auch von qualifizierten Gerichtsentscheidungen – sollten wissenschaftliche Erkenntnisse und Einschätzung der maßgeblichen Institutionen sein, z.B. des bundeseigenen Robert-Koch-Instituts.

Es ist nicht hinnehmbar, dass in dem unterstützenswerten Bestreben, Kondome an den Mann zu bringen, die von ihrer Infektion wissenden Positiven gegen alle epidemiologischen Erkenntnisse als Bedrohungspotential funktionalisiert werden.
Nicht hinnehmbar ist auch, dass immer wieder die Aufkündigung des Solidarsystems in den Raum gestellt wird.

Wir fordern Politikerinnen und Politiker in Bund und Ländern, Akteurinnen und Akteure in Wissenschaft, Justiz, Medien und der queer communities auf, den Dialog mit uns zu führen, anstatt über uns zu reden.

Wir werden die Debatte nicht stumm verfolgen. Wir wollen uns als HIV-positive und an Aids erkrankte Menschen einbringen und unsere Interessen selbstbewusst artikulieren.

Statt Repression und Hysterie fordern wir die Rückkehr zur Sachlichkeit.

(Verabschiedet am 20.Juni 2007 von den Teilnehmer/innen des 120. bundesweiten Positiventreffens im Waldschlösschen bei Göttingen)