Über können Sollen und wollen Dürfen – Gedanken zur Zukunft der Interessenvertretung HIV-Positiver

Über können Sollen und wollen Dürfen – Gedanken zur Zukunft der Interessenvertretung HIV-Positiver

Meine Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

Ich freue mich, hier an diesem besonderen Ort zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Ich möchte Ihnen erläutern,
– warum ich die Gefahr sehe, dass Selbsthilfe demnächst am Ende ist,
– und was wir dagegen unternehmen können.
– Und warum unser Problem zentral mit dem Verhältnis von Selbsthilfe und Aidshilfe zu tun hat.

Erinnern wir uns kurz. Erste Berichte aus den USA 1981, bereits im Juli 1982 der erste Aids-Patient in Deutschland, hier in Frankfurt. „Tödliche Seuche Aids“ beschrieb der ‚Spiegel‘ 1983 das damalige Gefühl. Eine kaum greifbare Bedrohung zunächst unbekannter Ursache.

Ausgrenzung und Diskriminierung waren damals in viel größerem Umfang als heute konkret erlebbar.

Schwule Männer nahmen „die Sache“ selbst in die Hand: ab September 1983 wurden in Deutschland Aidshilfen gegründet, auch – vor 25 Jahren – hier in Frankfurt.

Das Erleben des massenhaften Erkrankens, Sterbens von Freunden, Weggefährten hat auch mich Ende der 80er Jahre vom Schwulenbewegten zum Aids-Aktivisten gemacht.

Aidshilfe entwickelte sich in Dialog und Auseinandersetzung mit Selbsthilfe. Die Bundesweiten Positiventreffen entstanden 1986, gerade weil Positive sich nicht in Aidshilfe wiederfanden.

Festzuhalten bleibt:
– Selbsthilfe war eine Notwendigkeit.
– Sie begann als Gegenwehr – weil sich sonst niemand kümmerte.
– Selbsthilfe und die Auseinandersetzung mit ihr waren konstitutiv für Aidshilfe

Von Beginn an hatte Aidshilfe allerdings mehr Aufgaben als die Unterstützung von Selbsthilfe, wurde bezahlt vor allem für Primärprävention.
Selbsthilfe hingegen hat einen engeren Fokus: Menschen mit HIV und ihre Interessen. Sie umfasste von Beginn an gegenseitige Unterstützung und aktive Interessen-Selbstvertretung – und fand bald zu überregionaler Zusammenarbeit und politischer Selbstorganisation.

Im September 1990 trafen sich hier in Frankfurt 250 HIV-Positive unter dem Motto „Keine Rechenschaft für Leidenschaft“ zur ersten „Bundes-Positiven-Versammlung“. Ihr Grundgedanke:

„So unterschiedlich wir auch leben mögen, wir lassen uns nicht auseinanderdividieren, gerade nicht in dem zentralen Punkt: Unser Leben – und sei es auch zeitlich noch so begrenzt – wollen wir selbst bestimmen und in allem, was unser Leben von außen beeinflusst, wollen wir selbstbewusst und selbstverständlich mitentscheiden …“

Hier werden die Kern-Anliegen damaliger Positiven-Selbsthilfe sichtbar:
– wir wollen selbst bestimmen,
– wir wollen mit entscheiden,
– und wir sind solidarisch.

Einen deutlichen Ausdruck fanden dieses Anliegen in den ACT UP Gruppen. Sie entstanden Ende der 1980er Jahre auch in Deutschland, auch hier in Frankfurt. Angst sowie Wut über Ignoranz waren Motoren dieser aktivistischen Selbsthilfe HIV-Positiver.

Lasse ich diese Erinnerungen an eine Vergangenheit, die gerade einmal zwanzig Jahre her ist, heute Revue passieren, staune ich – war die Zeit damals so anders?
Ja, sie war es.

Die Angst von damals ist nicht mehr – „der Druck ist raus“.
Von Zorn, von Wut weit und breit keine Spur.
Im Gegenteil, die Lage scheint „entspannt“ – Gegenwehr nicht mehr erforderlich.

Eine Frage kommt mir in den Sinn: Wollen HIV-Positive heute überhaupt – wie 1990 hier in Frankfurt formuliert – auch heute noch ihr Leben als Positive selbst bestimmen, über die Gestaltung sie betreffender politischer Rahmenbedingungen mit entscheiden? Und solidarisch?

Das Kern-Anliegen positiver Selbsthilfe – selbst bestimmen, mit entscheiden, Solidarität – trägt es auch heute noch?

Etwas hat sich, meine Damen und Herren, entscheidend verändert.
Etwas, dem wir längst den problematischen Namen ‚Normalisierung‘ gegeben haben.

‚Normalisierung‘ – dieser Begriff umschreibt, wie viele Positive ihre heutige Lebensrealität erleben, in der grundlegende Bedürfnisse meist befriedigend gedeckt sind. Für manche Positive am Rand der Gesellschaft gilt allerdings selbst dies nicht, z.B. Illegalisierte, Menschen in Haft oder psychisch Kranke.

HIV und Aids haben viele Jahre eine überproportional hohe Aufmerksamkeit erhalten, hohen Einsatz von Ressourcen, großes mediales Interesse. Je „normaler“ HIV wird, desto deutlicher wird dieses außerordentliche Interesse zurück gehen – mit weitreichenden Folgen, auch für Selbsthilfe. Die Zeit des „Aids-Exzeptionalismus“ geht ihrem Ende entgegen. Die HIV-Infektion verliert zunehmend ihren Sonderstatus.

‚Normalisierung‘ bringt Banalisierung mit sich.

Bei aller vermeintlichen ‚Normalisierung‘, eines wird sich nicht ändern.
Noch immer scheut sich die Mehrzahl der Positiven, offen mit ihrem Serostatus umzugehen. Wie reagiert der Typ, der mir gefällt, wenn ich ihm sage, ich bin positiv? Was würde mein Arbeitgeber machen? Und behandelt mich mein Zahnarzt dann noch?
Tabuisierung, Diskriminierung haben sich grundlegend nicht verändert.

Die Stigmatisierung bleibt bestehen.

‚Normalisierung‘ und Banalisierung bei einer weiterhin bestehenden Stigmatisierung können eine zusätzliche Konsequenz für HIV-Positive haben:
Wenn HIV nichts ‚Besonderes‘ mehr ist, sind es vielleicht bald auch Positive nicht mehr. Wenn allerdings das Stigma Aids weiter besteht, und mit ihm Stigmatisierung und Diskriminierung – dann liegt der Gedanke nahe, dass aus dem Sonderstatus schnell die Rand-Position, die des Weggedrängten werden kann.

‚Normalisierung‘ kann zur Marginalisierung führen.

Banalisierung – Stigmatisierung – Marginalisierung, eine Lage, die nach Selbsthilfe förmlich zu schreien scheint. In welchem Zustand also sind Selbsthilfe und Selbstorganisation von Menschen mit HIV heute?

Vor einigen Wochen entdeckte ich beim Bummeln durch meinen Berliner Kiez diese Postkarte: ein staunend dreinblickendes Kind denkt:

Wenn ich nur darf, wenn ich soll,
aber nie kann, wenn ich will,
dann mag ich auch nicht, wenn ich muss.
Wenn ich aber auch darf, wenn ich will,
dann mag ich auch, wenn ich soll,
und dann kann ich auch, wenn ich muss.
Denn schließlich: Die können sollen,
müssen auch wollen dürfen.

Diese Worte erinnerten mich an die Situation von Selbsthilfe.
Ich hatte zu Beginn meiner Rede die Befürchtung geäußert, dass Selbsthilfe demnächst am Ende ist. Darauf möchte ich nun zurück kommen und aufzeigen, warum ich diese Gefahr sehe.

Sicher, aus Aidshilfe-Kreisen sind gelegentlich Sätze zu hören wie „Selbsthilfe ist unsere tragende Säule“. Aber wie viel Wunsch-Denken und political correctness sind hier im Spiel? Die gelebte Realität scheint mir anders auszusehen.

Ja, auch heute gibt es funktionierende Selbsthilfe. Aber …

Selbsthilfe regt sich, oftmals fernab von Aidshilfe, zum Beispiel in Internet-Foren, in virtuellen Netzwerken, aber auch in privaten Gruppen. Diese ‚private‘ Selbsthilfe widmet sich meist gegenseitiger Unterstützung. Selten findet sie zur Artikulation eigener Interessen, noch seltener zu politischer Interessen-Vertretung.

Und es gibt überregionale Selbsthilfegruppen, teils sogar institutionell in Strukturen wie Aidshilfe eingebunden. Wie sieht es hier aus?

– Da gibt es Gruppierungen mit hochtrabenden Namen, die kaum ein einziges HIV-positives Mitglied zu haben scheinen – wohl aber Sozialarbeiter und andere nur von, aber nicht mit HIV Lebende.
– Es gibt Gruppen mit bundesweitem Anspruch, die kaum genügend aktive Mitglieder aufweisen, um ihre Treffen zu füllen.
– Oder Gruppen, die nur noch ihrem Namen nach existieren.
– Und es gibt Organisationen, die gute Arbeit leisten – jedoch nur in ihrer Region, zu ihrem Themengebiet, zu Lasten vieler anderer Themen, die liegen bleiben.

Zu sagen, es gebe heute keine funktionierende Selbsthilfe mehr (wie gelegentlich zu hören ist), geht an der Realität vorbei. Es gibt stellenweise eine aktive regionale oder themenspezifische Basis.

Auf überregionaler Ebene jedoch sieht es düsterer aus:

– Wir haben Selbsthilfe-Gruppen, die wir nicht brauchen.
– Wir haben Gruppen, die scheinbar keine Selbsthilfe sind – oder nur noch dem Namen nach.
– Und wir haben Gruppen, die auf ihrem begrenzten Gebiet einen halbwegs guten Job machen.

Aber wir haben nicht, was wir brauchen:
eine engagierte, mutige, bundesweite Positiven-Selbstorganisation und -Interessenvertretung.

An diesem Zustand sind wir Positive selbst mit schuld: wir verschwenden unsere Energien. Wir tun, was wir nicht brauchen – und wir tun nicht, was wir brauchen.

Bemerkenswert ist: trotz dieses beklagenswerten Zustands – das Märchen einer vitalen Positiven-Selbsthilfe wird weiter aufrecht erhalten. Eine Situation, die an die ‚potemkinschen Dörfer‘ erinnert. Die Behauptung, es gäbe vitale Selbsthilfe, steht im Raum – aber real ist da viel heiße Luft, nur vor sich her getragener Anspruch!

Diese Situation ist, wie ich zu Beginn bereits angedeutet habe, meiner Ansicht nach im Verhältnis von Selbsthilfe und Aidshilfe begründet.

Selbsthilfe verleiht Legitimation. Legitimation der ‚Basis‘, der ‚Betroffenen‘. Selbsthilfe hilft, den eigenen Mythos aufrecht zu erhalten. Zum Beispiel den Mythos einer von unten, von den Lebenssituationen und Bedürfnissen der Betroffenen getragenen Organisation.
Das Aufrechterhalten der Illusion einer lebendigen Selbsthilfe dient wohl auch einer Organisation, die selbst einen großen Teil ihrer Legitimation daraus bezieht: der Aidshilfe. Für Aidshilfen ist es attraktiv, das Bild aufrecht zu erhalten, sie seien Organisationen mit umfangreicher Beteiligung HIV-Positiver, mit florierender Selbsthilfe.

Das Problem dabei: dieses ‚potemkinsche Dorf‘ vergeudet Ressourcen, zum Aufrechterhalten überholter Strukturen. Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen, besser eingesetzt werden sollten, um realen Freiraum für Selbst-Interessenvertretung zu ermöglichen.

So dämmert Selbsthilfe vor sich hin, in manchmal liebevoller, manchmal berechnend-kühler Umarmung der Aidshilfen – die so das Siechtum der Selbsthilfe fördern und bestärken.

Hält Aidshilfe den Mythos Selbsthilfe aufrecht – um dessen positiven Effekte für sich zu nutzen?
Wir befinden uns mitten in der Partizipationsfalle!
Genau hier liegt ein Kern des Problems von Selbst-Interessenvertretung!

Dabei zeigt ein kurzer Blick über den deutschen Gartenzaun, dass Selbstorganisation heute attraktiv und wirksam sein kann – und das im Dialog mit Aidshilfe, kritisch und konstruktiv:
– Gruppen wie „The Warning“ in Frankreich vertreten positive Interessen wahrnehmbar, auch in Dissens zu Gruppen wie Aides.
– Die holländische Gruppe „poz & proud“ trägt HIV-positives Selbstbewusstsein nicht nur im Namen, sondern lässt es auch durch Aktionen, Publikationen und Veranstaltungen erlebbar werden.
– Die Schweizer Gruppe „LHIVE“ (deren Präsidentin Michèle Meyer hier letztes Jahr gesprochen hat) ist sehr erfolgreich auch politisch aktiv, war z.B. am Entstehen des EKAF-Statements beteiligt.

Und Deutschland?
Wir verlassen uns darauf, dass Aidshilfe stellvertretend die Interessen von Menschen mit HIV vertritt.

Dabei sollten wir aus eigener Erfahrung wissen, wie riskant dieses Verlassen auf Stellvertreter ist. Es spekuliert auf unveränderte Rahmenbedingungen. Es unterstellt, dass Stellvertreter willens und kompetent sind, unsere Interessen zu vertreten. Es wird spätestens bei konträren Interessenlagen problematisch .
Eine sichere Bank ist dieses Verlassen auf Stellvertreter nicht.

Aidshilfe ist immer maximal der zweitbeste Vertreter der Interessen von HIV-Positiven. Der beste sind – wir selbst!

Wir haben an diesem Punkt zwei Möglichkeiten:

Wir machen weiter wie bisher. Meine Prognose: in zwei bis drei Jahren gibt es dann überregionale Positiven-Interessenvertretung überhaupt nicht mehr, mangels Masse. Positive Interessen werden ausschließlich stellvertretend durch Aidshilfe wahrgenommen. Selbsthilfe ist dann am Ende.

Kann das unser Weg sein? Ich denke nein.
Ein „weiter so“ kann nicht in unserem Interesse sein.

Können wir Positive es uns überhaupt erlauben, weiterhin ohne starke Selbst-Interessenvertretung dazustehen?

Wollen wir, dass Debatten um Normalisierung, Banalisierung und Marginalisierung geführt werden – über uns, vielleicht gegen uns, in jedem Fall aber ohne uns?

Wollen wir uns weiter auf das gemachte Nest aus Schwerbehindertenausweisen, bezahlten Positiventreffen etc. verlassen? Und falls es – ob durch Normalisierung oder Spar-Debatten – in Gefahr gerät, können wir es uns leisten, dann ohne eigene Interessenvertretung dazustehen?

Wollen wir, wir Menschen mit HIV und Aids, uns bei der Formulierung, bei der politischen Vertretung unserer ureigensten Interessen weiterhin stellvertretend auf Aidshilfe verlassen? Reicht das?

Wollen wir weiter Bilder von ‚verantwortungslosen Positiven‘, von ‚Biowaffen‘ und ‚Todesengeln‘ unwidersprochen hinnehmen? Wollen wir die Herstellung der Bilder, die sich die Gesellschaft vom Leben HIV-Positiver, von uns macht, wirklich ausschließlich anderen überlassen – während Positive weiter brav den Mund halten?

Wollen wir anstehende Debatten um Mittelkürzungen, um Medikalisierung der Prävention, Debatten mit einem hohen Potential zusätzlicher Diskriminierung, ausschließlich anderen, Politikern, der Pharmaindustrie überlassen – über unsere Köpfe hinweg, ohne eine eigene starke Stimme?

Können wir das wirklich wollen? In unserem ureigensten persönlichen Interesse?

Ich denke nein.

Die Schlussfolgerung ist für mich klar:

Wir haben heute eine leistungsfähige Aidshilfe – und das ist gut!

Was wir jetzt brauchen, ist eine
organisierte Selbsthilfe und Selbst-Interessenvertretung
neben der Aidshilfe, kritisch und solidarisch –
aber unabhängig.

Ich danke Ihnen.

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Der Text entspricht bis auf geringe Änderungen der Rede, die ich unter dem Titel „Grenzen der Selbsthilfe – Begrenzte Selbsthilfe?“ am 1. Dezember 2010 anlässlich der Welt-Aids-Tags-Veranstaltung 2010 der Frankfurter Aids-Hilfe in der Paulskirche gehalten habe.

Die ‚Paulskirchen-Veranstaltung‘ der Frankfurter Aids-Hilfe ist seit vielen Jahren eine der eher wenigen Gelegenheiten, zu denen Aidshilfe Diskurs (auch kritischen Diskurs) sucht und bietet – danke, wir bräuchten mehr davon!

Ich wünsche mir eine angeregte, gern auch kontroverse Debatte zu dem Thema ‚Zukunft der Selbst-Interessenvertretung von Menschen mit HIV‘. Schließlich, es geht darum, wie wir unsere eigenen Interessen zukünftig vertreten wissen wollen.
Also – ran an die Kommentare 🙂

Für Anregungen und Hinweise danke ich Andreas, Manfred, Matthias Michèle, Stefan, Wolfgang – und besonders Frank für Geduld und Unterstützung !

Der Original-Text der Rede steht auch als pdf im Bereich „Downloads“ zur Verfügung.

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siehe auch:
diego62 02.12.2010: Nachlese zum Welt-Aids-Tag
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UNAIDS: weltweite HIV-Epidemie hat Zenit überschritten – aber viel zu wenige Positive haben Zugang zu Therapie

Weltweit leben über 33 Millionen Menschen mit HIV. Die Zahl der Neuinfektionen weltweit geht langsam zurück. Dies betont der neue Jahresbericht von UNAIDS.

Die weltweite HIV-Epidemie hat ihren Gipfel überschritten und ist im langsamen Rückgang. Es sei allerdings eine sehr wichtige Frage, wie stark und schnell dieser Rückgang gestaltet werden könne, betont UNAIDS im 2010-Jahresbericht zum weltweiten Stand der HIV-Epidemie.

30 Jahre nach Beginn der HIV-Epidemie leben weltweit nach Schätzungen von UNAIDS über 33 Millionen HIV-Infizierte. Seit 1999, dem Jahr, in dem die HIV-Epidemie weltweit ihren höchsten Stand erreichte, sank die Zahl der HIV-Neuinfektionen weltweit um 19 Prozent. Besonders in zahlreichen von HIV besonders stark betroffenen Staaten sinke die Zahl der NMeuinfektionen – dies zeige auch, dass gerade auch hier die HIV-Prävention möglich sei und funktioniere.

Von den geschätzt 15 Millionen HIV-Positiven in Staaten mit niedrigem oder mittlerem Volkseinkommen haben inzwischen 5,2 Millionen Zugang zu antiretroviraler Therapie. Allein 2009 konnten 1,2 Millionen HIV-Positive erstmals antiretrovirale Medikamente nehmen, ein Zuwachs um 30% gegenüber dem Vorjahr.

Über zehn Millionen Menschen allerdings, die nach den neuen WHO-Richtlinien Zugang zu antiretroviralen Therapien haben sollten, warten immer noch vergeblich auf wirksame Medikamente.

Die Aids-Organisation der Vereinten Nationen UNAIDS hat ihren jährlichen „Report on the global AIDS epidemic“ vorgestellt. Der Bericht basiert auf Angaben zu 182 Staaten weltweit und stellt damit die wohl umfassendste Analyse zum Stand der HIV-Epidemie weltweit sowie zur Antwort der Staaten und Gesellschaften darauf dar. Erstmals werden zu über 60 Staaten auch Trends zur Entwicklung der HIV-Inzidenz vorgestellt.

HIV-Prävalenz 2009 (Karte: UNAIDS)
HIV-Prävalenz 2009 (Karte: UNAIDS)

Die Daten zeigen, so UNAIDS, dass der Kampf gegen Aids weltweit erfolgreich geführt werden könne – und dass nun ein vermehrter Mitteleinsatz erforderlich sei, um die erreichten Erfolge nicht zu gefährden, sondern auszubauen.

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weitere Informationen:
UNAIDS: Report on the global AIDS epidemic 2010 (pdf, 3,9 MB) (online lesen)
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lch wollte nie wieder Sex haben.

lch wollte nie wieder Sex haben.

Marcel ist 21 Jahre alt, lebt in Essen und arbeitet als Angestellter bei der Stadt

Homo? Hetero? Bi? Ich war verwirrt
Seit etwa eineinhalb Jahren lebe ich in meiner eigenen Wohnung, ganz in der Nähe von meinem Elternhaus. Zu meinen Eltern hatte ich immer ein sehr gutes Verhältnis. Elf Jahre lang war ich ein Einzelkind, dann wurde meine kleine Schwester geboren, sie war eine richtige Nachzüglerin.

So mit 13 oder 14 ist mir aufgefallen, dass ich Jungs mag. Anfangs haben mich allerdings manche Mädchen auch noch interessiert. Deshalb wusste ich erst mal nicht, was ich eigentlich bin: Homosexuell? Heterosexuell? Bisexuell? Ich habe dann einige Erfahrungen gemacht, auch mit Mädchen, und es hat sich herausgestellt, dass ich schwul bin. Mit Mädchen, das hat irgendwie überhaupt nicht gepasst.

Diese Klarheit war für mich wichtig, und dann konnte ich es auch anderen erzählen. Zu Hause war es zunächst mein Vater, mit dem ich ein sehr gutes Verhältnis habe. Seine Reaktion: „Du bist mein Sohn, und es bleibt alles so, wie es ist.“ Meine Mutter hat es auch ganz gut aufgefasst. Allerdings war sie zunächst ein bisschen enttäuscht, da ich es dann wohl nicht sein werde, der ihr Enkelkinder schenken wird. Meine Eltern haben mich aber immer unterstützt und das ist für mich sehr wichtig!

In der Schule habe ich mich dann auch geoutet – und zwar gleich vor der ganzen Klasse. Mein Lehrer hat mir dabei den Rücken gestärkt. Ich hatte mich darauf vorbereitet, dass vielleicht nicht alle begeistert und verständnisvoll reagieren werden. Aber es gab keine Probleme – im Gegenteil! Ein Mitschüler war so ein typischer Machotyp, der immer den Mädchen hinterhergelaufen ist und sehr gut aussah. Ich hatte gedacht, dass er ein Problem mit Schwulen haben würde. Aber er sagte: „Warum sollen wir das nicht akzeptieren? Du musst ja auch akzeptieren, dass ich auf Mädchen stehe.“ Diese Reaktion hat mir gezeigt, dass man Leute nicht voreilig als intolerant und oberflächlich einschätzen sollte.

Klar wusste ich, dass es HIV gibt – aber das war alles sehr oberflächlich
So mit 18 Jahren bin ich das erste Mal in die Szene gegangen. Klar wusste ich da schon, dass es so etwas wie HIV gibt, aber es war für mich nicht sichtbar. Es gab da niemanden, der gesagt hätte: „Hallo, hier bin ich und ich habe HIV.“ Ab und an wurden irgendwo Kondome, aber das war alles sehr oberflächlich. Vielleicht ist diese Erfahrung einer der Gründe dafür, dass ich heute einen ganz anderen Blick auf diese Sache habe.

Aber eins nach dem anderen: Den ersten Sex hatte ich mit meinem ersten Freund, als ich 18 Jahre alt war. Ich war mit ihm etwa anderthalb Jahre zusammen. Anfangs haben wir Kondome verwendet. Als es ernster wurde mit uns, haben wir jeder einen HIV-Test gemacht, uns das Ergebnis gegenseitig gezeigt und dann auf Kondome verzichtet. Ich hatte dafür genügend Vertrauen zu ihm. Bis zum Ende dieser Beziehung habe ich über Safer Sex nicht mehr nachgedacht. Vielleicht habe ich es mir da ein bisschen zu leicht gemacht. Aber ich glaube bis heute, dass er nicht fremdgegangen ist – genau wie ich.

Nach der Trennung wollte ich mich dann mal ein bisschen austoben. Auch da habe ich nur Safer Sex gemacht. Nicht aus Angst davor mich anzustecken, sondern einfach weil ich verstandesmäßig wusste, dass man sich mit Kondomen vor HIV und einigen anderen sexuell übertragbaren Krankheiten schützen kann.

Dann ist es doch passiert …
Wie kommt es dann, dass ich trotzdem HIV-positiv bin? Ich hatte jemanden kennen gelernt, und die Sache entwickelte sich in Richtung Beziehung. Alles lief super und nach ein paar Wochen hatte ich das Gefühl, dass er das auch so sah. Deswegen habe ich mich darauf eingelassen, ohne Kondom mit ihm zu schlafen. Ich hatte Vertrauen zu ihm und in meiner vorherigen Beziehung war ja auch alles gut gegangen. Ich habe gedacht: Wenn er mich mag, dann will er mir nicht wehtun. Wenn er HIV-positiv wäre, würde er keinen ungeschützten Sex mit mir haben. Dass es Leute gibt, die gar  nicht wissen, dass sie HIV-positiv sind, daran habe ich nicht gedacht.

Ich glaube, dass sehr viele Ansteckungen auf so eine Weise entstehen: Man vertraut jemandem, aber es gibt eigentlich noch gar keine richtige Beziehung und man weiß noch nicht genug vom anderen. Oder der Partner geht eben doch fremd. Es gibt Leute, die oberflächlich lieb und nett wirken, aber in Wirklichkeit ist denen egal, was mit dir passiert. Deswegen möchte ich gerade jungen Leuten erzählen, wie wichtig es ist, sich in solchen Situationen zu schützen.

Ich selbst habe sogar damals noch gedacht, dass es besser wäre, wenn wir ein Kondom benutzen würden. Nach dem Sex kamen dann auch Zweifel und Ängste auf. Die hab ich dann aber erst mal verdrängt: Warum sollte ausgerechnet ich bei diesem einen Mal zur falschen Zeit am falschen Ort mit der falschen Person Sex gehabt haben?

Nach zwei Wochen kamen die ersten Symptome: eine Grippe und eine Entzündung der Mundschleimhaut. Obwohl ich meinem Arzt davon erzählt hatte, was passiert war, gab er mir einfach nur Antibiotika. Die haben auch erst mal geholfen – aber die Angst blieb. Na ja, ich hab dann einen Test gemacht. Und der war positiv.

Am Anfang habe ich noch gedacht: Ich bin selber schuld – total blöd, naiv und dumm
Als ich auf dem Gesundheitsamt mein Ergebnis bekommen hatte, bin ich direkt nach Hause gefahren und habe mich schlafen gelegt. Ich war traurig, klar – aber das richtige Gefühlschaos kam erst ein paar Tage später. Ich habe mich erst mal zurückgezogen, mit niemandem gesprochen. Irgendwann hat meine Mutter mich gefragt, was denn los sei, warum ich mich so abschotte. Und da habe ich es ihr gesagt. Das war ein sehr emotionaler Moment.

Meine Eltern sind dann mit mir zur Aidshilfe gegangen. Es hat ihnen geholfen,
Informationen zu bekommen. So ging es mir selbst ja auch: Ich habe mit professionellen Leuten geredet und dabei mehr und mehr über HIV erfahren. Für mich war es genauso wie für meine Eltern: Mit jedem Schritt wurde es ein bisschen leichter.

"Ich wollte nie wieder Sex haben." - Marcel
"Ich wollte nie wieder Sex haben." - Marcel

Am Anfang habe ich noch gedacht: Ich bin selber schuld – total blöd, naiv und dumm. Heute denke ich, dass nichts davon zutrifft. Ich habe halt einen Fehler gemacht – und das ist einfach nur menschlich. Viele anderen machen den gleichen Fehler und haben vielleicht einfach Glück. Andere machen andere Fehler, nur dass die nicht so schwere Folgen haben. Wenn mir heute jemand erzählen will, ich sei Opfer meiner Dummheit oder Naivität, dann denke ich: „Leck mich, pass lieber auf dich selber auf!“

Meine Offenheit hilft auch mir selbst, mit der Infektion umzugehen
Ich versuche jetzt, mit der HIV-Infektion zu leben, so gut es geht. Dazu gehört für mich auch, darüber zu sprechen, privat genauso wie auf Facebook, in meinem Blog und in meinem Youtube-Kanal. Ich will mich nicht verstecken, weder in der Familie und bei Freunden noch bei der Arbeit. Ich möchte erreichen, dass sich die Menschen mit HIV auseinandersetzen und Vorurteile abbauen. Im Netz habe ich bisher keinen anderen HIV-Positiven in meinem Alter gefunden, der aus seinem Leben erzählt. Also tue ich das.

Meine Offenheit hilft auch mir selbst, es ist ein bisschen wie eine Therapie. Wenn ich über meine Erlebnisse erzähle oder schreibe, kann ich sie gleichzeitig mit ein bisschen Abstand betrachten und sortieren.

Im privaten Bereich habe ich mit dieser Strategie bisher überhaupt keine schlechten Erfahrungen gemacht. Auch bei der Arbeit gab es keine Probleme. Im Gegenteil, ich bekomme viel Unterstützung. Im Internet ist das anders, da gibt’s schon Menschen, die mich angreifen. Das geht bis hin zu Morddrohungen. Oft höre ich zum Beispiel: „Wenn du nicht schwul wärst, dann wäre dir das auch nicht passiert.“ Dahinter steckt Schwulenhass. Ich denke, die Leute, die sowas sagen, haben Frust und trampeln dann eben auf anderen rum.

Manchmal habe ich fünf E-Mails am Tag, in denen ich beleidigt werde, zum Beispiel als „Virenschleuder“. Wenn ich bedroht werde, zeige ich das bei der Polizei an. Ansonsten antworte ich auf solche Sachen nur, wenn falsche Behauptungen drinstehen, zum Beispiel dass HIV eine Schwulenkrankheit ist. Das lasse ich dann so nicht stehen.

Die Leute sind insgesamt viel zu wenig aufgeklärt über HIV. Viele sprechen von Aids, wenn sie HIV meinen. Das hat man in der Berichterstattung über Nadja Benaissa gut sehen können. Da hieß es dann: „der Aids-infizierte Todesengel“ Aber das stimmt ja nicht: Sie hat das Virus, nicht Aids. Und die Infektion ist heute eine chronische Krankheit, die nicht mehr zu Aids führen muss – bei allen Problemen und Nebenwirkungen der Medikamente, die damit verbunden sind. Ich wünsche mir sehr, dass solche Informationen in die Köpfe kommen!

Wie wenig sogar Ärzte manchmal aufgeklärt sind, zeigt mir das Verhalten meines Zahnarztes. Ich habe ihn darüber informiert, dass ich positiv bin, damit er die entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen ergreifen kann – für ihn und für mich. Aber er wollte mich dann nicht mehr behandeln, weil er seine Patienten und seinen Ruf gefährdet sah! Diese Erfahrung machen viele HIV-Positive. Ich habe das akzeptiert, auch wenn ich natürlich weiß, dass keinerlei Gefahr besteht, wenn der Zahnarzt sich an alle Hygieneregeln hält.

Diskriminierung und Zurückweisung sind ohnehin ein großes Thema. Nicht jeder kann an seinem Arbeitsplatz oder bei Freunden so einfach über seine Infektion sprechen wie ich. Manchmal werde ich auf Partys von Leuten angesprochen, die auch positiv sind, es aber auf jeden Fall geheim halten wollen. Oft merke ich dann, wie unglücklich sie damit sind – obwohl es ihnen gesundheitlich nicht schlecht geht. Der Grund ist nur das, was sie in ihrem sozialen Umfeld erleben. Deswegen vertrete ich den Standpunkt, dass die Diskriminierung viel schlimmer ist als die gesundheitlichen Auswirkungen von HIV.

Natürlich frage ich mich auch, warum ich so offen sein kann und kaum schlechte Erfahrungen mache. Ich denke, das liegt einfach daran, dass ich mit mir Reinen bin. Man muss sich selber akzeptieren, dann ist es einfacher, mit dem Druck von außen umzugehen. Meine Erziehung hat viel dazu beigetragen, dass ich so selbstbewusst bin. Meine Eltern haben mir beigebracht, nicht auf die anderen zu achten, sondern auf mich. Es geht nicht um das, was man nach außen darstellt, sondern um das, was man ist, um die Persönlichkeit.

Nur weil ich damit so offen mit meiner Infektion umgehe, erwarte ich das aber nicht von jedem. Es ist nicht notwendig, anderen davon zu erzählen, um zu wissen, was man wert ist und sich zu akzeptieren.

Ich wollte nie wieder Sex haben
Ich stehe noch ganz am Anfang mit meiner Infektion: Das Testergebnis habe ich im Sommer 2009 bekommen, infi ziert habe ich mich relativ kurz davor. Bis auf ein paar kleine Ausnahmen geht es mir gesundheitlich sehr gut. Eine Therapie mache ich noch nicht, denn meine Blutwerte sind recht gut.

Was sich als erstes verändert hat, war mein Sexleben: Ich hatte wochenlang keinen Sex. Ich habe mich nicht einmal selbst befriedigt. Irgendwie hatte ich Angst vor dem, was da passiert, wenn ich einen Orgasmus habe. Ich habe mein Sperma und auch mein Blut gehasst und ich wollte eigentlich nie wieder Sex haben. Schließlich konnte da wer weiß was passieren, dachte ich.

Das hat eine ganze Zeit angehalten. Beim ersten Onanieren nach dem Testergebnis hatte ich nicht nur Lustgefühle, sondern ich habe mich auch geekelt. Aber dann ist eine Last von mir abgefallen: „So schlimm ist es nicht.“ Heute empfinde ich beim Sex wieder Lust. Aber ich achte sehr auf mich – denn ich möchte das Risiko einer Co-Infektion mit irgendeiner anderen Krankheit so gering wie möglich halten.

Bevor ich mit jemandem Sex habe, sage ich ihm immer, dass ich HIV-positiv bin. Ich sage es, sobald ich das Gefühl habe, da könnte was laufen. Das war am Anfang nicht einfach – aber inzwischen habe ich keine Angst mehr davor, einen Korb zu bekommen. Ich kann sogar verstehen, wenn jemand einen Rückzieher macht, denn ich weiß selber nicht, wie ich früher damit umgegangen wäre.

Die Szene ist ein für mich ein zweischneidiges Schwert
Ich gehe gern und oft in die Szene. Das bedeutet für mich Freiheit, weil’s eben eine Welt ist, wo man so sein kann, wie man ist – egal, ob man jetzt schwul ist, bisexuell, oder hetero. Das alles spielt da kaum eine Rolle – da gibt’s einfach nur Party! Alles mischt sich. Zugleich bedeutet Szene für mich aber, mich mit anderen Leuten austauschen zu können, die auch homosexuell sind.

Leider gibt es in der Szene auch viel Oberflächlichkeit und Intoleranz. Manche Leute glauben offenbar, dass man da nur hingehen darf, wenn man gut aussieht, wenn man cool ist oder tolle Klamotten anhat. Das sehe ich ganz anders! Schwule fordern Toleranz, verbreiten aber untereinander sehr viel Intoleranz. Deswegen ist Szene für mich ein zweischneidiges Schwert: Es macht Spaß, da hinzugehen für ein paar Stunden. Aber ich muss jetzt nicht montags bis sonntags jeden Abend in eine schwule Kneipe gehen – das wäre zu viel des Guten. Die Mischung macht’s.

„Bei dieser Kampagne stehen endlich mal keine Prominenten vor der Kamera, sondern positive Menschen …“

Am 1. November 2010 startete die neue Welt-Aids-Tags – Kampagne. Die unter dem Motto “Positiv zusammen leben – aber sicher!” stehende neue Kampagne ist eine Gemeinschaftsaktion der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) und der Deutschen AIDS-Stiftung (DAS). Einer der ‚Stars‘ der Kampagne: ICH WEISS WAS ICH TU Rollenmodel Markus.

Im Interview erzählt Markus unter anderem, wie er und seine Freunde Pascal und Sebastian zur Welt-Aids-Tags – Kampagne kamen, wie das Motiv ‚Kletterwand‘ entstand – und was ihm wichtig an dieser Kampagne ist.

Hallo Markus, auf dich kommt ein ziemlicher Medienrummel zu. Wie fühlst du dich?

Kribbelig! Wenn ich mir vorstelle, dass ich da ab sofort in ganz Deutschland auf riesigen Plakaten an Bushaltestellen hängen werde, wird mir schon ein bisschen mulmig. Aber das Schöne überwiegt.

Markus
Markus

Warum machst du mit?

Bei dieser Kampagne stehen endlich mal keine Prominenten vor der Kamera, sondern positive Menschen, die was zum Thema zu sagen haben. ICH WEISS WAS ICH TU hat ja damit angefangen, und jetzt gibt es das auch in größerem Rahmen zum Welt-Aids-Tag.

Was ist die Message?

Wir wollen zeigen, dass man keine Angst vor uns haben muss. Um Leuten die Angst zu nehmen, müssen Positive selbst an die Öffentlichkeit gehen. Denn wenn man etwas nicht sieht, kann man nicht darüber sprechen. Vielleicht sind ja irgendwann mal so viele Positive öffentlich, dass das total langweilig wird?

Wie findest du denn dein Plakatmotiv?

Mutig!

Mutig von dir oder von deinen Freunden?

Von uns allen. Ich war anfangs ziemlich erschrocken, dass da so fett „Ich habe HIV“ draufsteht. Das hatte ich mir so, ehrlich gesagt, nicht vorgestellt. Jetzt hoffe ich, dass das Plakat für andere Leute genauso schockierend ist wie für mich! (lacht) So in dem Sinne, dass es Bang macht und sie sagen: Da gehe ich mal auf die Webseite und informiere mich.

Für deine beiden Freunde Pascal und Sebastian ist es bestimmt besonders aufregend.

Absolut! Das einzige, was sie davon abhält durchzudrehen ist, dass sie nicht die Hauptfigur sind. (lacht)

Markus, Sebastian und Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP)
Markus, Sebastian und Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP)

Wie kam es, dass ihr vor einer Kletterwand fotografiert wurdet?

Das war Sebastians Idee. Die Kletterhalle soll das Thema Freundschaft zeigen: dass man etwas miteinander unternimmt und sich aufeinander verlassen kann. Beim Klettern muss ja einer den anderen halten. Und dann soll es natürlich auch zeigen, dass man auch als Positiver fit sein kann.

Auf dem Plakat steht: Du hast lange überlegt, wem du von deiner Infektion erzählen kannst. Wovor hattest du Angst?

Vor Ausgrenzung. Und es sind leider tatsächlich relativ viele Leute, die ich für Freunde gehalten hatte, abgesprungen – die haben einfach nicht mehr angerufen. Meine wahren Freunde sind aber natürlich geblieben. Die haben mich recht putzige Sachen gefragt: „Können wir deine Wäsche waschen?“ oder „Können wir dir ein Brot backen?“ Die wollten mich irgendwie unterstützen – das war cool.

Hast du auch in der schwulen Szene negative Reaktionen erlebt?

Leider ja. Nachdem ich bei ICH WEISS WAS ICH TU als Rollenmodell zu sehen war, gab es Leute, die mir nicht mehr die Hand geben wollten. Ich hab auch schon zu hören bekommen: „Du Aidsschwuchtel hast es ja nicht besser verdient.“ Sowas haben Schwule gesagt, das muss man sich mal vorstellen! Und es gab zwei Leute, die rumerzählt haben, ich hätte ungeschützt mit ihnen Sex gehabt, um sie zu infizieren. So können einige Wenige Hass auf Positive schüren.

Was steckt dahinter?

Die Leute werden aus Angst gemein. Die haben keine Ahnung, wie man sich anstecken kann. Manche glauben immer noch, dass man HIV über einen Strohhalm in einer Colaflasche bekommen kann. Sie lehnen also nicht mich als Mensch ab, sondern wollen HIV von sich wegschieben.

Wie oft erlebst du sowas?

Ich würde sagen: 80 Prozent der Reaktionen sind positiv, 20 Prozent negativ – was immer noch eine Menge ist. Aber davon darf man sich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Durch meine öffentliche Präsenz will ich ja gerade helfen zu verhindern, dass Positive angeprangert werden.

Und jetzt erzählst du der ganzen Republik, dass du positiv bist!

Ja, das kriegt jetzt jeder Hanswurst mit. (lacht) Aber wenn man damit etwas erreichen kann, dann ist das richtig so. Neulich hat mir schon eine Supermarktkassiererin gesagt, sie hätte mich im Fernsehen gesehen und fände das ganz toll, was ich mache. Also, von mir aus kann’s losgehen.

Wissen deine Arbeitskollegen Bescheid?

Einige schon. Und ich hab einer Kollegin davon erzählt, von der ich weiß, dass sie es weitererzählen wird. Auf diese Weise ist es jetzt ein Gerücht – und wenn die Plakate hängen, wird es bestätigt. Das spart mir Arbeit.

Hast du eigentlich keine Angst davor, dass du jetzt in der Öffentlichkeit mit triefendem Mitleid überschüttet wirst?

Nein, denn ich lasse den Leuten gar nicht die Wahl. Wenn mir ein Reporter traurig in die Augen guckt, dann sage ich dem ganz schnell: „Passen Sie mal auf, das ist genau das, was wir nicht wollen. Wir wollen zeigen, dass wir stark sind!“ Und die, die nicht stark sind, wollen wir schützen.

Du hast damals im IWWIT-Interview gesagt: Mein Leben soll sich nicht hauptsächlich um HIV drehen. Hast du das mittlerweile aufgegeben?

(lacht) Die Aussage hab ich tatsächlich aufgegeben, denn sie wäre nicht mehr glaubwürdig. Aber meine Freunde holen mich auch immer wieder raus aus dem Thema und sorgen dafür, dass der Rest des Lebens nicht zu kurz kommt.

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(Interview und Fotos: Holger Wicht)

Positiv zusammen leben – aber sicher! Neue Kampagne zum Welt-Aids-Tag will Stigmatisierung und Diskriminierung abbauen

Neue Kampagne zum Welt-Aids-Tag will Stigmatisierung und Diskriminierung abbauen

Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler hat heute in Berlin die neue Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zum Welt-Aids-Tag unter dem Motto „Positiv zusammen leben – aber sicher!“ gestartet. Im Mittelpunkt stehen HIV-positive Menschen, die authentisch Einblick in ihr Leben geben und von ihren alltäglichen Erfahrungen berichten. Ziel der Kampagne ist es, Stigmatisierung und Diskriminierung abzubauen und eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung über HIV und AIDS in der Gesellschaft zu initiieren. Eine derartige nationale Kampagne ist europaweit einmalig.

Die neue Kampagne wird von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gemeinsam mit dem Bundesministerium für Gesundheit, der Deutschen AIDS-Hilfe und der Deutschen AIDS-Stiftung durchgeführt und vom Verband der privaten Krankenversicherung e.V. (PKV) und dem Fachverband Außenwerbung (FAW) unterstützt. Sie ist auf mehrere Jahre angelegt. Mit den Themenschwerpunkten „HIV und Arbeit“, „HIV und Freundschaft“ sowie „Einschränkungen mit HIV“ rückt die BZgA mit ihrer Welt-Aids-Tags-Kampagne nah an die Erfahrungswelten der Menschen heran und erreicht dadurch eine breite Zielgruppe, von der Jugend bis zu Arbeitnehmern und Arbeitgebern.

WATlogo

Anlässlich des Kampagnenstarts erklärt Bundesgesundheitsminister Dr. Philipp Rösler: „Die differenzierte und nachhaltige Präventionsstrategie in Deutschland hat dazu geführt, dass wir mit jährlich etwa 3.000 HIV-Neuinfektionen eine der niedrigsten Neuinfektionsraten in Europa haben. Wir wissen, dass ein offener und diskriminierungsfreier Umgang mit der Thematik HIV und AIDS und den Betroffenen die zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Prävention ist. Deshalb wollen wir mit dieser Solidaritätskampagne ermutigen: Ermutigen über HIV und AIDS zu reden und sich über Risikoverhalten und den notwendigen Schutz auszutauschen. Wir benötigen die Solidarität und Aufmerksamkeit aller, damit es uns gemeinsam gelingen kann, die Zahl der Neuinfektionen in Zukunft zu senken.“

„Seit Beginn der Aidsaufklärung hat sich in Deutschland sehr schnell eine stabile soziale Norm gegen Diskriminierung und Stigmatisierung entwickelt, wie unsere Repräsentativstudie zeigt“, sagt Prof. Dr. Elisabeth Pott, Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. „Die Aufforderung, sich gegen Stigmatisierung und Ausgrenzung zu engagieren, spielt seit Beginn der Aidsprävention eine genauso wichtige Rolle wie die Motivation zum Schutzverhalten. Dennoch erleben Betroffene ihre Lebenssituation oft auch heute noch als problematisch, weil sie konkrete Nachteile erfahren. Deshalb danke ich den HIV-positiven Botschafterinnen und Botschaftern, die sich mit viel Mut für diese Kampagne engagieren und sich bereit gefunden haben, das Leben mit HIV in unserer Gesellschaft sichtbarer zu machen.“

Die Deutsche AIDS-Hilfe setzt sich im Rahmen der Kampagne besonders für Betroffene ein. „Gerade am Arbeitsplatz ist die Angst vor Mobbing oder einem Karriereende besonders groß“, erklärt Silke Klumb, Geschäftsführerin der Deutschen AIDS-Hilfe. „Dabei zeigt unsere Erfahrung, dass HIV-Positive im Schnitt genauso leistungsfähig sind wie ihre Kolleginnen und Kollegen. Etwa zwei Drittel der HIV-Positiven in Deutschland arbeiten. Kaum einer weiß dies, weil sich ein Großteil aus verständlichen Gründen nicht outet. Unternehmen sollten mit klaren Regelungen und der Vorbildfunktion ihres Managements die Diskriminierung von Menschen mit HIV/AIDS abbauen und so ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unterstützen.“

Besonders wichtig ist die Unterstützung durch die Familie und den Freundeskreis für jüngere HIV-Positive. Darauf macht die Deutsche AIDS-Stiftung aufmerksam. „Da HIV so stark tabuisiert wird, fällt es vor allem HIV-Positiven oft schwer, mit anderen über ihre Infektion oder Krankheit und ihre Bedürfnisse zu sprechen“, sagt Dr. Ulrich Heide, Geschäftsführender Vorstand der Deutschen AIDS-Stiftung. „Darüber hinaus führt die HIV-Infektion häufig zu materieller Bedürftigkeit, wenn Menschen nicht mehr arbeiten können und gerade als jüngere Menschen nur kleine Renten erhalten.“ Die Deutsche AIDS-Stiftung hilft jährlich mehr als 3.000 infizierten und aidskranken Menschen in Deutschland in akuten Notlagen oder mit Hilfsprojekten.

Die Kampagne „Positiv zusammen leben – aber sicher!“ startet am 1. November. Auf www.welt-aids-tag.de berichten Botschafterinnen und Botschafter mit und ohne HIV in Online-Clips aus ihrem Leben und geben Beispiele für solidarisches Verhalten. Das interaktive Kampagnenportal lädt zur Diskussion und Auseinandersetzung ein und informiert über die einzelnen Themenbereiche.

Die drei Themenschwerpunkte „HIV und Arbeitswelt“, „Freundschaft und HIV“ und „Einschränkung durch HIV“ bilden auch die Grundlage für die diesjährigen drei Plakatmotive. Auf 25.000 Plakaten, in Flyern und auf Postkarten werben die Botschafterinnen und Botschafter für Akzeptanz und gegen Stigmatisierung und Diskriminierung. Sie sind bis zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember und darüber hinaus bei Veranstaltungen zum Thema HIV und AIDS präsent.

(gemeinsame Pressemitteilung BMG, BZgA, DAH, DAS)

Die Motive:
Ich habe HIV. Und mich zum Glück getraut, es meinen Freunden zu sagen.
Mit HIV muss ich leben. Mit Kollegen, die mich diskriminieren, nicht.
Mit HIV muss ich leben. Aber meine Freunde unterstützen mich …

und das Interview:
Bei dieser Kampagne stehen endlich mal keine Prominenten vor der Kamera, sondern positive Menschen …

mit HIV beim Zahnarzt: gemeinsame Stellungnahme von DAIG und DAGNÄ (akt.)

Bei der Behandlung HIV-Infizierter beim Zahnarzt gelten keine über Standardhygiene hinaus gehenden hygienischen Anforderungen, betonen zwei ärztliche Organisationen der HIV-Therapie.

Die zwei bei der Versorgung HIV-Infizierter wichtigsten ärztlichen Gesellschaften, die DAIG (Deutsche Aids-Gesellschaft) und die DAGNÄ (Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter) äußern sich in einer gemeinsamen Stellungnahme zur Frage der zahnmedizinischen Betreuung HIV-Infizierter.

Die gemeinsame, an Zahnärztinnen und Zahnärzte gerichtete Stellungnahme formuliert noch einmal das Problem, mit dem sich viele HIV-Positive bei Zahnarzt-Besuchen konfrontiert sehen:

„HIV-Patienten berichten immer wieder darüber, dass es für sie schwer sei, eine adäquate Behandlung für ihre Zahngesundheit zu erhalten. Das Spektrum der Reaktionen, die sie wahrnehmen, reicht von offener Ablehnung und Diskriminierung über Verweise auf arbeitsintensive Hygienerichtlinien bis hin zu verzögerten Terminvergaben und separaten Behandlungszeiten.“

Sie zeigen nochmals einige der problematischen Folgen auf:

„Etliche Patienten fühlen sich auf Grund negativer Erfahrungen mit einer Offenlegung [ihrer HIV-Infektion, d.Verf.] gesellschaftlich stigmatisiert. Das begünstigt Situationen, in denen Patienten ihre Infektionen mit z.B. HIV, HBC oder HCV dem behandelnden (Zahn)Arzt verschweigen. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit wird dadurch oft erheblich erschwert.“

DAIG und DAGNÄ weisen darauf hin, dass die Standard-Hygienemaßnahmen für alle Patienten gleichermaßen gelten und betonen nochmals, dass

„bei der Behandlung HIV-Infizierter keine über die o.g. Maßnahmen hinausgehenden hygienischen Anforderungen gelten bzw. erforderlich sind, um eine HIV-Übertragung zu verhindern.“

DAIG und DAGNÄ weisen explizit hin auf

„die Ergebnisse verschiedener Studien …, die nahe legen, dass sich das Risiko einer sexuellen HIV-Übertragung durch eine effektive antiretrovirale Therapie des HIV-infizierten Partners bei einer im Blut nicht nachweisbaren Viruslast (<50 Kopien HIV-RNA/ml Plasma) drastisch reduziert. Diese Risikoreduktion kann in gewissem Umfang auch für medizinische Eingriffe angenommen werden, obwohl keine verlässlichen Daten dafür vorliegen, und ohne dass sich daraus Änderungen der o.g. Hygienestandards herleiten müssen.“

Hygiene in der Zahnmedizin: HIV-Infizierte und Nicht-Infizierte gleich behandeln“ hatte Dr. med. Albrecht Ulmer, Stuttgart, Anfang Juni 2010 in einem Artikel gefordert – und damit eine Debatte ausgelöst. Das Robert-Koch-Institut reagierte mit der Stellungnahme „Zahnarzt: routinemäßige Hygiene genügt“ und betonte insbesondere: „Nach Behandlung eines Patienten mit HIV-Infektion genügen die routinemäßig erforderlichen Hygienemaßnahmen.“

weitere Informationen:
DAGNÄ / DAIG: Die zahnmedizinische Betreuung HIV-infizierter Menschen (pdf)
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Danke an Matthias Gerschwitz für den Hinweis !

DAIG: Positive Stellungnahme zum EKAF-Statement zur Infektiosität von antiretroviral behandelten HIV-Patienten

Die Deutsche Aids-Gesellschaft hat einen „erneute Stellungnahme“ zum EKAF-Statement vorgelegt. Sie stimmt darin in Teilen der Position von EKAF und DAH zu.

Am 30. Januar 2008 legte die Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen ihr Statement vor (keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs). Die Deutsche Aids-Hilfe stellte Anfang April 2009 in Reaktion darauf und nach umfangreichen Diskussionen ihr Positionspapier vor (HIV-Therapie und Prävention – Positionspapier der Deutschen AIDS-Hilfe).

Nun hat auch die Deutsche Aids-Gesellschaft eine erneute Stellungnahme vorgelegt.

Die DAIG kommt in ihrer (insgesamt 17seitigen) Stellungnahme u.a. zu folgenden Schlüssen:

„Nach unserer Bilanz ist in Abwägung der Ergebnisse der dem EKAF-Statement zugrunde liegenden Studien und aktueller Publikationen das Risiko für eine sexuelle HIV-Transmission von Menschen unter effektiver HIV-Therapie in Populationsstudien fester Partnerschaften und nach mathematischen Kalkulationen sehr gering, bleibt aber kumulativ und im Einzelfall bezifferbar und relevant.“

und

„Die DAIG unterstützt die Einschätzung, dass in festen diskordanten Partnerschaften nach eingehender Information und Beratung dem HIV-negativen Partner letztlich die Entscheidung obliegt, auf weitere Schutzmaßnahmen zu verzichten, wenn

1. die antiretrovirale Therapie (ART) durch den HIV-infizierten Menschen konsequent eingehalten und durch den behandelnden Arzt regelmäßig kontrolliert wird;
2. die Viruslast (VL) unter ART seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze liegt;
3. keine Infektionen mit anderen sexuell übertragbaren Erregern (STD) bestehen.“

Zu ihrer neuen Stellungnahme sah sich die DAIG nach eigenen Angaben veranlasst „durch Internetbeiträge und anhaltende Diskussionen“ – unter anderem einen ondamaris-Artikel (Freispruch oder Verurteilung – und das Schweigen der Fachgesellschaften).

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Deutsche Aids-Gesellschaft: Erneute DAIG-Stellungnahme zum EKAF-Statement zur Infektiosität von antiretroviral behandelten HIV-Patienten (Newsmeldung)

Deutsche Aids-Gesellschaft: komplette Stellungnahme (17 Seiten) als pdf

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In wesentlichen Teilen schließt sich die Deutsche Aids-Gesellschaft in ihrer neuen Stellungnahme nun dem Inhalt des Positionspapier an, das die Deutsche Aids-Hilfe vorgelegt hat. Dies ist ein erfreulicher und sehr zu begrüßender erster Schritt (ein ausführlicherer Kommentar der neuen Stellungnahme folgt hier: ‚Positiv – oder? Gedanken zur neuen Stellungnahme der DAIG zum EKAF-Papier‚). Ein Schritt, der auch für Behandler und Patienten nun mehr Klarheit bringen wird.

Besonders zu begrüßen wäre es, wenn nach der DAIG (die eher die Klinischen Ärzte vertritt) nun auch die niedergelassenen Ärzte (vertreten in der DAGNÄ) sich zu einer Position durchringen könnten.

Eine gemeinsame Stellungnahme der in der Behandlung HIV-Positiver engagierten Ärztinnen und Ärzte könnte dann auch Staatsanwälten, Verteidigern und Richtern eine weitere Handreichung sein, und zu einer größeren Rechtssicherheit führen.

Es wird Zeit, dass die unterschiedliche Behandlung des EKAF-Statements vor deutschen Gerichten ein Ende hat. Die niedergelassenen Ärzte sind aufgefordert, dem prinzipiell begrüßenswerten Schritt der DAIG zu folgen.

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Nachsatz: dass ein Artikel auf ondamaris die DAIG mit zu ihrer erneuten Stellungnahme veranlasst hat, erfreut den Autor … (bei aller Kritik, die die DAIG an dem Artikel äußert)

siehe auch:
DAH 08.10.2010: Neue Stellungnahme zur Infektiosiät von Patienten unter HIV-Therapie
Mit HIV leben 10.10.2010: Rechtssicherheit: Die DAIG hat ein Statement
HIV&more 15.10.2010: Neue Stellungsnahme der DAIG zum EKAF-Statement
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Globaler Fonds: weniger Mittel-Zusagen als erwartet (akt.)

Über acht Milliarden Euro will die internationale Gemeinschaft dem Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose für die Jahre 2011 bis 2013 bereit stellen. Viel Geld, doch weniger als benötigt.

Am 4. und 5. Oktober fand in New York die Wiederauffüllkonferenz für den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose statt. Am Ende konnten sich die Geber-Staaten darauf einigen, insgesamt 11,7 Milliarden US-Dollar (umgerechnet nach derzeitigem Kurs ca. 8,5 Mrd. €) bereit zu stellen. Experten hatten im Vorfeld betont, für die kommende Zeit seien Mittel in Höhe von 10 bis 20 Milliarden $ nötig.

Mit vier Milliarden $ sind die USA der größte Spender für den 2002 gegründeten Fonds (plus 38% gegenüber der letzten Geberkonferenz). Frankreich sagte 1,4 Mrd. $ zu. Kanada erhöhte seine Leistungen um 20%. Auch Japan, Norwegen und die Europäische Union erhöhten ihre Zusagen im Vergleich zur letzten Geberkonferenz. Die Zusage Deutschlands von 600 Mio. € (als drittgrößter Einzelspender) bedeutet demgegenüber ein Verharren der Beiträge der Bundesrepublik auf gleichem Niveau.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon bezeichnete die Zusagen als erfreulich, betonte jedoch, es würden mehr Mittel erforderlich werden. „Das bedeutet, dass wir weitermachen müssen, um noch mehr Ressourcen zu mobilisieren“.

Als „nicht ausreichend“ bezeichnete auch Michel Kazatchkine, Direktor des Globalen Fonds, die jetzt erreichten Mittelzusagen. Nun seien „schwere Entscheidungen“ erforderlich, die auch den Kampf gegen Aids, Malaria und Tuberkulose verlangsamen könnten.

Auch das Aktionsbündnis gegen AIDS zeigt sich enttäuscht darüber, dass bei der Wiederauffüllungskonferenz des Globalen Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria noch nicht einmal das Minimalziel von 13 Milliarden US$ erreicht wurde.

Der Globale Fonds selbst erklärte, die nun zugesagten Beträge seien der größte jemals erzielte finanzielle Beitrag im Kampf gegen die drei Krankheiten Aids, Malaria und Tuberkulose. Gegenüber 11,7 Mrd. $ für den neuen Zeitraum 2011 bis 2013 hätten im Vor-Zeitraum 2008 bis 2010 9,7 Mrd. $ bereit gestanden. Allerdings zeichne sich bereits jetzt ab, dass der Mittelbedarf höher sein werde als die jetzt zugesagten Beträge. es gehe nicht darum, einen Fonds mit Mitteln aufzufüllen – es gehe darum, wieder Hoffnung und Würde in das leben der betroffenen Menschen zu bringen.

Deutschland hatte zuvor angekündigt, entgegen der zunächst sehr zurückhaltenden Position nun doch zumindest 600 Mio. € für die nächsten drei Jahre bereit zu stellen.

siehe auch:
Zeit online 06.10.2010: Mehr als acht Milliarden Euro für den Kampf gegen Aids
DAH-Blog 06.10.2010: Geberkonferenz für den Global Fund bleibt weit hinter den gesteckten Zielen zurück
The Global Fund 05.10.2010: Donors commit US$ 11.7 billion to the global fund for next three years
Aktionsbündnis Aids 06.10.2010: Gut, aber nicht gut genug! – Aktionsbündnis gegen AIDS fordert: Bundesregierung muss sich weiterhin an ihre Versprechen halten!
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Auffüllung des Globalen Fonds droht nicht zuletzt an Deutschland zu scheitern – Leben Zehntausender Patienten in ärmeren Ländern in Gefahr

Die Geberkonferenz des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria nächste Woche in New York droht zu scheitern. Es wird erwartet, dass die Zuweisungen der Geberländer deutlich unter den 20 Milliarden US-Dollar liegen, die benötigt werden, um die durch den Fonds geförderten Programme aufrechtzuerhalten und auszuweiten.

Deutschland, bislang drittgrößter Geber des Fonds, gefährdet den Erfolg der Konferenz neben Italien derzeit am stärksten. Dass beispielsweise eine bessere Behandlung von Aids-Patienten und eine Ausweitung der Behandlung auf mehr Menschen jedoch nur möglich sind, wenn ausreichend Mittel für Finanzierungsinstrumente wie den Globalen Fonds zur Verfügung stehen, zeigt ein heute veröffentlichter Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Über den Globalen Fonds werden zwei Drittel aller internationalen Gelder im Kampf gegen Malaria und Tuberkulose und fast ein Viertel im Kampf gegen HIV/Aids bereitgestellt. Mit 20 Milliarden US-Dollar über die kommenden drei Jahre könnten nach Schätzungen des Fonds 7,5 Millionen Menschen mit lebensverlängernden antiretroviralen Medikamenten versorgt werden.

„Die neuen Behandlungsrichtlinien der WHO empfehlen, dass Aids-Patienten früher und mit besseren, weniger giftigen Medikamenten behandelt werden. Diese kosten aber mehr Geld,“ sagt Oliver Moldenhauer, Koordinator der Medikamentenkampagne von Ärzte ohne Grenzen Deutschland. „Die drohende Unterfinanzierung des Globalen Fonds würde bedeuten, dass die WHO- Empfehlung ins Leere läuft und Millionen Menschen weiter ganz ohne Behandlung bleiben.“

In der Bundesregierung gibt es Pläne, den deutschen Beitrag um zwei Drittel von bislang 600 auf 200 Millionen Euro zu kürzen. Italien will für die kommende Finanzierungsperiode gar keine Gelder mehr zur Verfügung stellen. Andere Länder haben nur eine leichte Mittelaufstockung angekündigt.

„Dank des Globalen Fonds konnten Länder wie Malawi Menschenleben retten und durch Aids verwüstete Gemeinden wiederaufbauen“, sagt Marielle Bemelsmann, Landeskoordinatorin in Malawi, wo Ärzte ohne Grenzen zusammen mit dem Gesundheitsministerium 38.000 Patienten behandelt. „Allein in Malawi brauchen aber noch mehr als 200.000 Menschen dringend eine Behandlung – weltweit sind es zehn Millionen. Wenn die Staaten die Chance in New York vergeben und sich nicht weiter im Kampf gegen Aids engagieren, werden die bereits erzielten Erfolge einfach zunichte gemacht.“

(Pressemitteilung Ärzte ohne Grenzen)

zur Diskussion gestellt: „HIV und Strafrecht: Vier Prinzipien“

Am Montag, 16. August 2010 beginnt in Darmstadt der Prozess gegen Nadja Benaissa. HIV und der strafrechtliche Umgang mit HIV geraten wieder in den Blickpunkt von Medien und Öffentlichkeit. Gibt es sinnvolle Prinzipien, wenn „HIV vor Gericht“ steht, z.B. um eine wirksame Prävention nicht zu gefährden und Stigmatisierung von HIV-Positiven zu vermeiden?
Ein Gastbeitrag von Silke Eggers, Karl Lemmen, Marianne Rademacher, Holger Sweers und Stefan Timmermanns – verbunden mit der Bitte um intensive Diskussion und Kommentare:

Einladung zur Diskussion
HIV und Strafrecht: Vier Prinzipien

Heute, am 16. August 2010, hat vor dem Amtsgericht Darmstadt der Prozess gegen die Sängerin Nadja Benaissa begonnen. Immer wieder landen Fälle vor Gericht, in denen es um (potenzielle) HIV-Übertragungen geht. In der Bundesgeschäftsstelle der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. (DAH) hat eine kleine Arbeitsgruppe vier Prinzipien zu diesem Thema formuliert, die ihrer Ansicht nach gelten sollten.

Die Gruppe stellt das Papier im DAH-Blog unter blog.aidshilfe.de zur Diskussion und lädt herzlich zu Anmerkungen und konstruktiver Kritik ein.

Die Kriminalisierung der HIV-Übertragung ist kein Mittel der Prävention, sondern wirkt sich kontraproduktiv aus: Sie lässt die Illusion entstehen, der Staat habe HIV unter Kontrolle und HIV-Positive trügen die alleinige Verantwortung für den Schutz vor einer HIV-Übertragung. Wenn Menschen aber glauben, dass allein die HIV-Positiven für den Schutz vor HIV verantwortlich sind, kann dies dazu führen, dass sie ihr eigenes Schutzverhalten vernachlässigen.

Hinzu kommt: Nur eine Person, die weiß, dass sie HIV-positiv ist, kann strafrechtlich belangt werden. Die Kriminalisierung der HIV-Übertragung führt unter Umständen dazu, dass Menschen sich nicht auf HIV testen lassen – nach dem Motto: Wer nicht getestet ist, kann strafrechtlich nicht verantwortlich gemacht werden. Darüber hinaus leistet sie der Stigmatisierung von HIV-Positiven Vorschub, was einem selbstbewussten Umgang mit der HIV-Infektion im Wege stehen kann.

Auf der anderen Seite gibt es aber durchaus Fälle, in denen die HIV-Übertragung eine strafrechtliche Bedeutung hat, zum Beispiel, wenn das Gegenüber arglistig getäuscht wurde, Vertrauen ausgenutzt wurde oder eine Ansteckung beabsichtigt war.

In jedem Fall aber sollten, wenn HIV vor Gericht eine Rolle spielt, folgende Prinzipien gelten:

1. Bei sexuellen Begegnungen gilt das Prinzip der geteilten Verantwortung.

HIV-Prävention bedeutet in unserem Verständnis, dass alle Beteiligten lernen müssen, sich nicht auf andere zu verlassen, sondern den Schutz vor HIV in die eigene Hand zu nehmen. Daraus folgt für uns zum Beispiel, dass von Menschen mit HIV bei Gelegenheitskontakten oder am Beginn neuer Beziehungen nicht gefordert werden kann, ihre Infektion offenzulegen – wohl aber, dass sie ihre Verantwortung für den Schutz vor einer HIV-Übertragung wahrnehmen wie ihre Partner/innen auch.

Wir gehen dabei vom Prinzip der geteilten Verantwortung aus. Eine einseitige Zuschreibung von Verantwortung an Menschen mit HIV ist nicht nur ethisch unhaltbar, sondern auch kontraproduktiv für die Verhütung von HIV-Übertragungen (siehe Einleitung).

Geteilte Verantwortung heißt für uns, dass wir die Partner/innen in sexuellen Begegnungen – ob HIV-positiv getestet, ungetestet oder HIV-negativ getestet – grundsätzlich „auf gleicher Augenhöhe“ sehen, als freie und gleichberechtigte Menschen, die auf der Grundlage von Informationen und Kommunikation gemeinsame Entscheidungen treffen oder den Schutz vor einer Übertragung in die eigene Hand nehmen können.

Es kann allerdings Fälle geben, wo diese gleiche Augenhöhe nicht gegeben ist, zum Beispiel, wenn ein Partner/eine Partnerin aufgrund von Alkohol- und Drogenkonsum nur noch eingeschränkt handlungsfähig ist, bei Abhängigkeiten, Zwang oder verminderten kognitiven Fähigkeiten. In solchen Fällen kommt dem Gegenüber in der überlegenen Position eine größere Verantwortung zu. Wir sehen daher die Einzelne/den Einzelnen nie allein mit ihrer/seiner Verantwortung, sondern immer auch die Mitverantwortung der anderen (bzw. für die anderen).

2. Auch HIV-Positive haben das Recht auf Unvoreingenommenheit.

Viele juristische Auseinandersetzungen um (potenzielle) HIV-Übertragungen finden im Kontext enttäuschter Beziehungswünsche statt. Richter sind auch hier gefordert, Menschen mit HIV unvoreingenommen zu begegnen, ihnen also nicht per se weniger Glaubwürdigkeit beizumessen als Nichtinfizierten. Dazu gehört gegebenenfalls auch, sich vom medial gezeichneten Bild der „verantwortungslosen Positiven“ freizumachen. Wichtig ist, dass sich Öffentlichkeit und Justiz nicht vor den Karren von „Beziehungsabrechnungen“ spannen lassen.

3. Im Spannungsfeld zwischen Recht und Prävention ist ein differenziertes und sensibles Vorgehen nötig.

Die DAH beschäftigt sich mit dem Thema Recht und HIV vor allem aus zwei Perspektiven:
• aus der Perspektive der Menschenrechte
• aus der Perspektive der Prävention.

HIV-Prävention im Sinne von „New Public Health“ will Menschen zum selbstbestimmten und verantwortungsvollen Umgang mit HIV und Aids befähigen. Die deutsche Linie der HIV- und Aidsbekämpfung ist gerade deshalb so erfolgreich, weil sie von der Mündigkeit und Verantwortung jedes einzelnen Menschen ausgeht. Und weil sie z. B. dafür sorgt, dass HIV-Positive nicht stigmatisiert werden, sondern ihre schwierige Situation im Umgang mit dem „gesellschaftlichen Makel“ HIV anerkennt.

Wenn (potenzielle) HIV-Übertragungen juristisch aufgearbeitet werden, müssen Justiz und Medien daher differenziert und sensibel vorgehen – und sollten mögliche Folgen für die Prävention beachten. „Mediale Treibjagden“ auf angeblich verantwortungslose HIV-Positive z. B. verschärfen das Stigma HIV und dürften es Menschen mit HIV eher erschweren, ihren HIV-Status offenzulegen und damit ihren Partner(inne)n einen verantwortungsvollen Umgang mit der Infektion zu ermöglichen.

4. Das veränderte Leben mit HIV erfordert eine veränderte Rechtsprechung.

Die bisherige Rechtsprechung orientierte sich an einem Bild von HIV, das mit hohen Übertragungswahrscheinlichkeiten (zum Beispiel beim Sex ohne Kondom), schnellem Siechtum und Tod verbunden war. Die HIV-Infektion ist aber inzwischen zu einer behandelbaren chronischen Erkrankung geworden. Wer sich heute mit HIV infiziert, kann bei rechtzeitiger Diagnose und Behandlung mit einer annähernd normalen Lebenserwartung rechnen.

Außerdem kann durch eine antiretrovirale Therapie die Übertragungswahrscheinlichkeit wirksam gesenkt werden. Solche Veränderungen müssen stärker in die Rechtsprechung einfließen. Galt bisher das Einbringen eines Kondoms in die sexuelle Kommunikation als ausreichender Beweis, eine HIV-Übertragung verhindern zu wollen, stellt sich die Frage, ob die korrekt angewendete „Viruslastmethode“ heute nicht gleichermaßen bewertet werden müsste, bietet sie doch eine vergleichbare Sicherheit (vgl. hierzu das DAH-Positionspapier „HIV-Therapie und Prävention“ vom April 2009).

Berlin, im August 2010

Silke Eggers, Karl Lemmen, Marianne Rademacher, Holger Sweers, Stefan Timmermanns

Homo-Ehe in Kalifornien zugelassen: Verbot per Volksabstimmung (Proposition 8) war verfassungswidrig (akt.5)

Das Verbot der Homo-Ehe mittels einer Volksabstimmung verstößt gegen die US-Verfassung. Dies urteilte am 4. August der US District Court Northern District of California. Zunächst außer Kraft gesetzt, tritt das Urteil frühestens nach einer weiteren Wartezeit am  18. August 17:00 Uhr in Kraft – Homo-Ehen in Kalifornien sind wieder legal, können aber bis 18.8. weiterhin nicht vollzogen werden.

San Francisco, Mittwoch, 4. August 2010, früher Nachmittag (13:30 PDT / Ortszeit, 22:30 Uhr MESZ in Deutschland): Chief Judge Vaughn R. Walker verkündet (nicht persönlich, sondern via Internet) das Urteil in der Sache „Perry Vs. Schwarzenegger“. Hinter diesem unscheinbaren Namen verbirgt sich ein für us-amerikanische Lesben und Schwule bewegender Streitfall: die Verhandlung über die Frage, ob das Verbot der Homo-Ehe durch Volksabstimmung („Proposition 8“) verfassungsgemäß war oder gegen die US-Verfassung verstieß.

Das nebst Begründung 136 Seiten umfassende Urteil von Judge Walker lautet kurzgefasst: das Verbot der Homo-Ehe durch die Proposition 8 war verfassungswidrig „under both the due-process and equal-protection clauses“. Der Staat, so Walker, habe kein Interesse daran, private Moral- oder religiöse Vorstellungen durch einen säkularen Zweck zu bestätigen oder verstärken.

Proposition 8 behindere die Ausübung des Grundrechts auf Eheschließung und schaffe eine rational nicht begründete Einführung einer neuen Klassifizierung aufgrund der sexuellen Orientierung. Moralisches Missfallen allein sei keine hinreichende Grundlage, Schwulen und Lesben Rechte zu verwehren.

Erste Kommentare in US-Medien bezeichnen die Entscheidung als Wendepunkt und „Meilenstein“.
Der Direktor von „Equality California“ bezeichnete das Urteil als „historisch“. Zu heiraten sei ein Bürgerrecht, kein Privileg für nur einige. Man richte sich darauf ein, das Recht auf die Homo-Ehe nun bis zum Supreme Court zu verteidigen.
Chad Griffin (Foundation for Equal Rights) betonte in einer Stellungnahme: nun habe jeder und jede US-Amerikaner/in das Recht zu heiraten, niemandem werde dieses Bürgerrecht enthalten. Er dankte den beiden Rechtsanwälten sowie den zahlreichen Unterstützern, besonders aber den beiden Paaren, die mit ihre Klage für ihr Recht zu heiraten diese Entscheidung erst ermöglicht hätten. Die Entscheidung stärke die Ehe, weil es jedem Bürger das Recht gebe eine verantwortungsvolle liebevolle Gemeinschaft einzugehen. Viele würden nun voller Freude auf den Straßen feiern – es gelte aber auch an diejenigen zu denken, die auch heute aufgrund von Diskriminierung und Ängsten sich nur  im Stillen freuen können.

Arnold Schwarzenegger, Gouverneur Kaliforniens, betonte in einer ersten Stellungnahme, für Hunderttausende Kalifornischer Bürger, die in schwulen oder lesbischen Haushalten leben, bedeute diese Entscheidung den vollen rechtlichen Schutz, den seiner Meinung nach jedermann/frau verdiene. Gleichzeitig gebe die Entscheidung allen Bürgern Kaliforniens die Möglichkeit sich zu erinnern, dass Kalifornien führend auf dem Weg in die Zukunft sei. Die heutige Entscheidung stelle zweifellos Kaliforniens ersten, aber nicht letzten Meilenstein auf Amerikas Weg zu Freiheit und Gleichheit für alle Menschen dar.

Zum Urteil:

„Proposition 8 fails to advance any rational basis in singling out gay men and lesbians for denial of a marriage license. Indeed the evidence shows Proposition 8 does nothing more than enshrine in the California constitution the notion that opposite sex couples are superior to same sex couples.“

Und in der Urteilsbegründung:

„Proposition 8 both unconstitutionally burdens the exercise of the fundamental right to marry and creates an irrational classification on the baisis of sexual orientation.“

„Moral disapproval alone is an improper basis on which to deny rights to gay men & lesbians.“

„Proposition 8 places the force of law behind stigmas against gays and lesbians, including: gays and lesbians do not have intimate relationships similar to heterosexual couples; gays and lesbians are not as good as heterosexuals; and gay and lesbian relationships do not deserve the full recognition of society.“

Das Verbot der Homo-Ehe in Kalifornien ist damit aufgehoben. Ab sofort und bis auf weiteres  (erste Kommentatoren sprechen von 2 Tagen) können Kaliforniens Schwule und Lesben heiraten.

Überall in Kalifornien sowie in zahlreichen US-Bundesstaaten werden am Abend nach der Urteils-Verkündung (gleichzeitig 49. Geburtstag von US-Präsident Barak Obama) Demonstrationen stattfinden (Übersicht siehe unten „weitere Informationen“).

Proposition8 - Day of Decision
Proposition 8 - Day of Decision

Anfang November 2008 stimmten die Bürger Kaliforniens in Form der Proposition 8 zu 52% gegen die Homo-Ehe. Mit ‘Proposition 8′ wurde ein Vorschlag bezeichnet, mit dem das Verbot der Homo-Ehe in die Verfassung des Staates Kalifornien aufgenommen werden sollte.

Vor dem Berufungsgericht wurde über die Verfassungsmäßigkeit der Proposition 8 verhandelt (unter dem Titel ‘Perry v. Schwarzenegger’,benannt nach Kristin Perry, die mit ihrer Partnerin Sandra Stier seit 2004 verheiratet ist). In der mündlichen Verhandlung seit Januar 2010 sollte geklärt werden, ob die US-Verfassung ein Verbot der Homo-Ehe zulässt.

Vertreten wurden die Kläger durch den U.S. Solicitor General [Rechtsverteidiger der Regierung] Theodore Olson und den Anwalt David Boies.

Theodore Olson (links) und David Boies, Anwälte der Kläger (Foto: Diana Walker /AFER)
Theodore Olson (links) und David Boies, Anwälte der Kläger, am 16. Juni 2010, dem Tag der Schluß-Plädoyers (Foto: Diana Walker /AFER)

Der 69jährige Olson ist ein prominenter konservativer Anwalt und Partner einer Washingtoner Kanzlei. Er war u.a. im Verfahren um den Wahlausgang in Florida 2000 für US-Präsident George W. Bush tätig. Olson begründete sein Engagement für die Homo-Ehe inzwischen in einem bemerkenswerten Newsweek-Artikel “Warum die gleichgeschlechtliche Ehe ein amerikanischer Wert ist”.

Eines der zentralen Instrumente und Logos der Befürworter der Homo-Ehe (und damit  Gegner der Proposition 8 ) war und ist die „NoH8 Campaign“ (No Hate)

Nein zum Hass
Nein zum Hass (Len Peltier)

Vor der Verfassungsklage hatte der oberste Gerichtshof Kaliforniens entschieden: Die Homo-Ehe in Kalifornien darf vom Wähler verboten werden. Die Verhandlung der gegen diese Entscheidung gerichteten Verfassungsklage gegen ‚Proposition 8‘ hatte am 11. Januar 2010 begonnen. Die Verhandlung wurde in US-Homo-Medien breit behandelt mit großen Interesse verfolgt.

In der kurzen Zeit, in der die Homo-Ehe in Kalifornien legal geschlossen werden konnte (zwischen Mai und November 2008), vermählten sich über 18.000 schwule und lesbische Paare.
Noch vor Verkündung des Urteils hatten die Anwälte der Gegner der Homo-Ehe den Richter gebeten, im Fall eines Sieges der Gegenseite nicht ein „erneutes Zeitfenster für gleichgeschlechtliche Ehen zu öffnen“, während die Berufung läuft.

Vor kurzem hatte ein US-Bundesgericht entschieden, mit dem US-weiten Verbot von Homo-Ehen (Defense-of-Marriage-Act, DOMA) habe sich der Gesetzgeber zu sehr in Angelegenheiten der US-Bundesstaaten eingemischt, das Verbot sei verfassungswidrig.

Schon vor der Urteilsverkündung hatten beide Parteien angekündigt, die Klage bis zum Supreme Court, dem obersten Gerichtshof der USA, durchzufechten. Nächste Instanz ist der U.S. Ninth Circuit Court of Appeals, vermutlich schon im Oktober 2010.

weitere Informationen:
Urteils-Text Scan auf Scribd.com
das Urteil wird online veröffentlicht werden auf der Site US District Court Northern District of California Public Announcements
eine Übersicht angekündigter Demonstrationen und Versammlungen bei Rex Wockner
NoH8campaign
David Boies: The case against Prop. 8: unconstitutional bias. In: San Francisco Chronicle 01.08.2010
Übersicht online zugänglicher Prozess-Dokumente
Metro Weekly 04.08.2010: Prop 8 Decision Day FAQ
NYMag 04.08.2010: Judge Vaughn Walker Hands Victory to Proposition 8 Opponents
Office of the Governor: Governor Schwarzenegger Issues Statement on Proposition 8 Ruling
Pinknews 04.08.2010: Breaking: Prop 8 ban on gay marriages in California ruled unconstitutional
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Starke Schwule. Oder: Wie funktioniert strukturelle Prävention?

„Ficken nur mit Gummi. Beim Blasen: Raus, bevor´s kommt“ – fast jeder Schwule kennt den Slogan. Aber für eine erfolgreiche HIV-Prävention reichen diese Botschaften bei Weitem nicht aus. Die Deutsche AIDS-Hilfe (DAH) setzt auf strukturelle Prävention. DAH-Schwulenreferent Dr. Dirk Sander erklärt, was das ist.

Deutschland ist Schlusslicht in Europa – zumindest bei der Zahl der jährlich gemeldeten HIV-Diagnosen. 2856 Menschen wurden im vergangenen Jahr erstmals positiv getestet. Gemessen an der Einwohnerzahl ist diese Rate sehr gering. Im EU-Vergleich belegt die Bundesrepublik damit den vorletzten Rang.

Dr. Dirk Sander, DAH
Dr. Dirk Sander, DAH

Die HIV-Prävention zeigt also Wirkung – auch ein Verdienst der Deutschen AIDS-Hilfe. Der Ansatz dahinter heißt „Strukturelle Prävention“. „Wir greifen dort ein, wo die strukturellen Verhältnisse Gesundheit verhindern“, erklärt Dr. Dirk Sander, Schwulenreferent der DAH. „Wir wollen nicht das Verhalten der Menschen kontrollieren, sondern sie stärken und die nötigen Informationen anbieten. Dann können sie selbstbewusst ihre eigenen Entscheidungen treffen – auch beim Sex.“

Ein Beleg für die erfolgreiche Arbeit der Deutsche AIDS-Hilfe ist das gut ausgebildete Gesundheitsbewusstsein bei schwulen Männern. Langzeitstudien zeigen: Der Wille, sich vor HIV zu schützen, ist bei ihnen ungebrochen hoch. In Wiederholungsbefragungen geben mehr als zwei Drittel der Befragten an, in den zwölf Monate vor der Befragung immer Safer Sex praktiziert zu haben. Weitere 20 Prozent berichten nur sporadische Risiken.

Respekt für unterschiedliche Lebensstile
„Gute HIV-Prävention beschäftigt sich nicht nur mit dem sexuellen Verhalten jedes Einzelnen, sondern auch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen er lebt“, so Sander. „Denn die wiederum beeinflussen das Verhalten.“

Für die schwule Zielgruppe bedeutet das: Die DAH fördert das Selbstbewusstsein von Männern, die Sex mit Männern haben – egal, wie sie ihr Leben führen möchten. „Wir werben um Respekt für die unterschiedlichen Lebensstile“, betont Dirk Sander. „Das gilt auch für das Sexleben – egal, ob jemand Fetisch- oder Blümchensex bevorzugt, ob er fest liiert ist oder wechselnde Partner hat – oder beides.“

Selbsthilfe und Selbstorganisation
Besonders wirkungsvoll ist die HIV-Prävention auch deshalb, weil sie von Mitgliedern der Homo-Community selbst entwickelt und verbreitet wird. „Wir arbeiten eng mit den Menschen zusammen, die wir erreichen wollen“, so Sander. „Wir fördern Selbsthilfe und Selbstorganisation überall dort, wo schwule Männer sich treffen.“

Ein Beispiel: In vielen deutschen Städten haben sich schwule Wirte dazu verpflichtet, für ihre Gäste Aufklärungsmaterialen, Kondome und Gleitmittel bereitzustellen. Unterstützt werden sie dabei von den lokalen Aidshilfen und Präventionsprojekten. „Solche Ort sind sehr wichtig“, meint Sander. „Nur wenn sich Schwule sicher und respektiert fühlen, können sie sich selbstbewusst informieren und ihr HIV-Risiko richtig einschätzen.“

Ausgrenzung macht krank
Denn auch heute noch gilt: Schwule müssen einiges aushalten. Wegen ihrer sexuellen Orientierung werden sie oft ausgegrenzt, manchmal sogar tätlich angegriffen. Das kann krank machen. Eine im American Journal of Psychiatry vom Frühjahr 2010 veröffentlichte Studie weist darauf hin, dass Schwule rund viermal so häufig unter Depressionen leiden wie heterosexuelle Männer. Ausgrenzungserfahrungen machten zudem anfälliger für Alkohol- und Drogengebrauch.

Deshalb bekämpft die Deutsche AIDS-Hilfe jede Form von Homophobie. Sie setzt sich unter anderem dafür ein, alle Hürden zu beseitigen, die vielen Schwulen den Zugang zu bestehenden Gesundheitsangeboten verstellen.

„Schaut man nur nach Deutschland, dann hat sich in den letzten Jahren einiges getan, aber noch nicht genug“, stellt Dirk Sander fest. „Schwule Sexualität ist immer noch ein Pfui-Thema. Viele junge Schwule machen die gleichen schwierigen Erfahrungen im Coming-out wie im letzten Jahrhundert – und an diese Strukturen wollen wir ran!“

(Pressemitteilung der DAH)