Schock-Prävention und die Inflation der Währung Aufmerksamkeit

Wie und warum funktioniert Schock-Prävention? Was hat Thilo Sarrazin damit zu tun? Und was Inflation und Ignorieren?

Thilo Sarrazin, seines Zeichens Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank und ex-Finanz-Senator von Berlin, hat wieder einmal deutliche Worte gefunden. Die verbreitet Anstoß erregen – und erinnern an den wohl bekannten Mechanismus, Aufmerksamkeit zu erzeugen, egal was es kostet – oder was die Folgen sind.

In einem Artikel in der Wochenend-Ausgabe der ‚Süddeutschen Zeitung‘ betrachtet Evelyn Roll die Frage öffentlicher Provokation. Und analysiert die zugrunde liegende Wirkweise:

„Es ist ja so: Viel wichtiger, lukrativer und karrierefördernder als Taten und Leistungen sind heute Bedeutung und Prominenz. Aufmerksamkeit ist die Währung. Und Provokation, der gezielte Tabubruch also, ist, was das Herstellen dieser Währung angeht, immer und zuverlässig erfolgreich. Die verbale Provokation, der unpassende Vergleich und die öffentliche Beleidigung sind also niemals wirklich Ausrutscher oder selbstentlarvende Versehen. Es handelt sich immer um eine so einfache wie nur gelegentlich gefährliche Medienstrategie im Durchlauferhitzer der Erregungsdemokratie. Sie stößt auf eine fein ausgesteuerte und leicht anzusteuernde Kultur von Empörung und Heuchelei, die zuverlässig anspringt. Jedes durch Sprech- und Denktabus eingeklemmte Publikum hasst und liebt deswegen den Provokateur.“

Wohl war, denke ich. Und ich fühle mich erinnert an Schock-Kampagnen, mit denen sich eine gewisse Stiftung, ein ominöser Verein gelegentlich hervortun. Bei denen mir auch oft der Eindruck kommt, es ginge hier um vieles, um Aufmerksamkeit, um Spenden, um mediale Hypes – nur nicht um die eigentliche und doch nur vordergründig plakatierte Frage, die Aids-Prävention.

Und genau darin liegt das Problem, auch in Rolls Analyse. Derartige Strategien können eben doch gefährlich sein. Sie konterkarieren bisher erfolgreiche HIV-Prävention, können erzielte Erfolge zunichte machen oder gefährden, produzieren Klärungs- und Richtigstellungs-Aufwand (bei anderen selbstverständlich, nicht beim Verursacher) – und verpuffen schon nach wenigen Tagen im Dunst des nächsten medialen Hypes. Die Arbeit ist getan, die Aufmerksamkeit erzielt, irgend etwas wird sicher hängen blieben – und die Arbeit und den Schaden haben andere.

Doch Roll weist auch Wege aus dieser medialen Aufmerksamkeits-Falle. Ein wenig mehr Bedacht in den Reaktionen, etwas weniger Aufregung und Empörung, überlegtere Kommentare, weniger Geschrei – indem wir ihnen ihre Währung, die Aufmerksamkeit entziehen, können wir ihren Schaden vielleicht begrenzen. Und ihre regelmäßige Wiederkehr vielleicht nach und nach unattraktiver, da erfolgloser machen. Die Inflation der Währung ‚Schock-Aufmerksamkeit‘. Wir können handeln – schalten wir ihn zumindest in unserem Bereich wenn schon nicht ‚aus‘, dann doch einige Stufen kälter, den ‚Durchlauferhitzer der Erregungsdemokratie‘.
Stattdessen könnten wir von der Bedeutung der Aufmerksamkeit, der Prominenz, des Image vielleicht wieder ein wenig mehr zurück kehren zur Bedeutung von Taten, von Handeln, von Ergebnissen für die Menschen (und nicht für die Initiatoren).

Schock-Kampagnen & co. – in die Mülltonne. Aber vielleicht nicht immer durch lauten Protest, sondern gelegentlich auch durch überlegte Gelassenheit, vielleicht auch geflissentliches Ignorieren?

.

weitere Informationen:
Evelyn Roll: „Das musste mal gesagt werden“ (Süddeutsche Zeitung 10./11.10.2009)
(online zweiteilig unter dem Titel „Thilo Sarrazin und die Folgen„)

Ärzte in die Prävention – wirklich eine gute Idee ?

Ärzte auch in der Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen mehr einzusetzen – dieses Konzept wird nicht nur im Aidsbereich diskutiert. Es ist auch Thema einer Veranstaltung in der Deutschen Aids-Hilfe am Mittwoch, 7. Oktober 2009. Ein Kommentar.

Immer noch wird eine HIV-Infektion bei vielen Menschen sehr spät festgestellt (late diagnosis) – mit vielen möglichen oder sehr realen potentiellen negativen Folgen auch für den oder die Betroffene/n. Gerade hier Ärzte zu sensibilisieren, scheint eine gute Idee. Die schnell weiterführt zum Gedanken, Ärzte doch generell in der Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen einzusetzen.

Untersuchungen laufen, auch zur Frage, wie weit Patienten eigentlich mit ihren Ärzten über sexuelle Fragen sprechen, sprechen wollen, sprechen können.
Und die Aids-Hilfe NRW arbeitet an einem Gesprächsleitfaden, der Ärzten helfen soll, mit ihren Patient/innen auch über Fragen des Sexualverhaltens und sexuell übertragbarer Erkrankungen ins Gespräch zu kommen.

Doch Vorsicht – was schnell plausibel scheint, muss nicht unbedingt im Interesse der Patienten sein.
Einige Gedanken …

Die Ausforschung des Sex

Das harmlos scheinende Gespräch über Fragen des Sexualverhaltens hat potentiell so seine Tücken. Möchte ich als Patient eigentlich, dass mein Arzt auch möglichst alle (Un)Tiefen und Details meines Sexlebens kennt?  Wie freiwillig ist dieses Gespräch, wenn ich anschließend auch „ganz normal“ behandelt werden möchte? Was davon wird dokumentiert? Und wer erfährt davon? Oder wie ausgeforscht fühle ich mich, werde ich?
Diese potentielle Ausforschung hat Konsequenzen. Wir verhält sich der Mediziner, die Medizinerin, die erfährt, dass ihr Patient sich unter Präventions-Gesichtspunkten „kontraproduktiv“ verhält? Wie wirkt sich dieses Wissen aus, wenn der gleiche Arzt, die gleiche Ärztin dann später genau diesen Patienten behandeln muss, z.B. aufgrund einer sexuell erworbenen Erkrankung? Wir leben Ärztinnen und Ärzte mit diesem Spagat? Und wie erst Patientinnen und Patienten? Wohl wissend, ja, der Arzt hat ja gesagt dass … und trotzdem hab ich …
Was macht dieser Spagat, was machen die potentiell daraus resultierenden Konfliktlinien mit dem Arzt-Patient-Verhältnis?
Und weiter noch – ärztliche Leistungen wollen dokumentiert sein (nicht nur, aber auch aus Gründen der Abrechnung). Wie steht es um den Datenschutz? Gerade bei derart sensiblen Daten wie zu Sexualverhalten? Natürlich entgegnen Ärzte und Verbände uns, es gebe das Arztgeheimnis, den Datenschutz, die Vertraulichkeit des Arzt-Patient-Verhältnisses. Aber – wie steht es darum in der Praxis? In Zeiten von Internet, elektronischer Gesundheitskarte oder Beschlagnahme von Patientenakten durch Staatsanwaltschaften (wie jüngst im Fall Nadja Benaissa)?

Die Reglementierung des Sex

Sexualität, Sexualverhalten ist ein Bereich, der persönlichsten, privatesten Angelegenheiten des Menschen zuzurechnen ist. Oft genug hat der Staat (aus vielfältigsten Interessen) versucht, gerade den Sex zu regulieren – über Normen, Kontrolle, Paragraphen. Gerade in den letzten Jahrzehnten ist es diversen Emanzipationsbewegungen gelungen, den Einfluss des Staates zurück zu drängen, vielfältige Ausdrucksformen menschlicher Sexualität als Bereich rein persönlicher Freiheit zu gewinnen.
In Zeiten von Aids gab es immer wieder aufscheinenden Bemühungen, Sexualität zu medikalisieren, erneut zu reglementieren. Sie konnten weitgehend abgewehrt werden. Kommen sie nun wieder, im mühsam neue verkleideten Gewand der ‚ärztlichen Prävention‘? Dies Konzept könnten sich nur zu schnell als Weg zurück, als Weg zu mehr staatlicher Reglementierung und Kontrolle des Sex erweisen.

Die Pathologisierung des Sex

Wie weit wird (dem französischen Philosophen Michèl Foucault folgend) eine stärkere Einbindung von Ärzten in die Prävention zu einer weiteren bzw. erneuten Pathologisierung von Sexualität führen?
Ist das Vorhaben, Ärzte auch in der Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten einzusetzen, nicht letztlich ein weiterer (zudem bedeutender) Baustein dazu, dass Sexualität immer mehr betrachtet wird als etwas zu Regulierendes? Als ein Feld von staatlichem Belang? Letztlich Sex als etwas betrachtet wird, das potentiell gefährlich ist, risikobehaftet, aufgrund z.B. sexuell übertragbarer Erkrankungen gesellschaftlich potentiell schädlich? Sex als (präventiv zu steuernder, regulierunsbedürftiger Störfaktor – statt als Lust und Privatsache?

Und nun?

Ärzte, die naturgegeben umfassende Kontakte zu einer großen Anzahl Menschen haben, in die Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen einzubeziehen – dieser Gedanke scheint in seiner Einfachheit und Direktheit naheliegend. Und Ärzte finden ihn geradezu bezaubernd – folgt diesem Gedanken doch direkt die Frage, welche neuen Abrechungs-Ziffer dafür eingeführt werden kann, soll, ja geradezu muss – und wieviel Geld jede ärztliche Präventionsmaßnahme bringt.
Und doch, viele Argumente lassen Fragezeichen aufscheinen, den Gedanken mehr als fragwürdig erscheinen. ‚Ärzte in die Prävention‘ – ein Vorhaben, das sich bald als Weg in die Vergangenheit und nachteilig für Patienten erweisen könnte.

Staat und Medizin haben im Sexualleben jedes einzelnen zunächst nichts zu suchen. Sexualität ist Privatsache, Sphäre der persönlichen Freiheit – und sollte dies auch bleiben. Eingriffe, zumal Eingriffe tendenziell reglementierender Art, sollten möglichst unterbleiben. Und wenn sie erfolgen, müssen sie durch starke Argumente begründet, legitimiert sein.
Im Fall von Aids und der Installierung sich im Nachhinein als sehr erfolgreich erweisender Aids-Prävention war dieser Eingriff durch die (reale oder gefühlte) Bedrohung (der Gesamtbevölkerung oder einzelner gesellschaftlicher Gruppen) zunächst legitimiert. Zudem wurde u.a. mit der beispielhaften Arbeitsteilung zwischen Staat (hier: BzgA) und Aidshilfen ein Weg gefunden, Eingriffe und Reglementierungen (auch durch Normsetzungen) weitestgehend einzugrenzen oder wo vermeintlich unabwendbar zumindest betroffenen- und lebensnah zu gestalten.

Bei den derzeitigen Planspielen, Ärzte in der Prävention sexuell übertragbarer Erkrankungen einzusetzen, wird der Reglementierung und Kontrolle von Sexualität Tür und Tor geöffnet. Besteht ein ausreichender Grund, der diesen Eingriff in persönliche Freiheit rechtfertigen könnte, eine Notlage, eine Gefährdung? Wurden Alternativen angedacht, alle Möglichkeiten ausgeschöpft, bevor Eingriffe des Medizinssystems erfolgen? Wohl nicht.

Das Themas „Ärzte in der Prävention“ wird diskutiert auf einer Veranstaltung der Deutschen Aids-Hilfe am 7. Oktober 2009 im Rahmen der Reihe ‚Salon Wilhelmstraße‘:

„Können Ärzte eine größere Rolle in der Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen einnehmen? Wie weit ist HIV- und STD-Prävention in der Arztpraxis überhaupt möglich? Was wünschen sich die Patient(inn)en? Was die Aidshilfen?“

Unter der  Moderation von Holger Wicht diskutieren Prof. Dr. Norbert H. Brockmeyer, Ruhr-Universität Bochum; Dr. Christoph Mayr, Vorstand DAGNÄ e.V.;  Dirk Meyer, Geschäftsführer LV AIDS-Hilfe NRW e.V.; Helga Neugebauer, Ärztin in der Aidshilfe Hamburg; Stephan Jäkel, Pluspunkt e.V.; Klaus Stehling, Geschäftsführer LV AIDS-Hilfe Hessen e.V. (angefragt); Stefan, Rollenmodell der MSM-Kampagne “IWWIT” und Steffen Taubert, Deutsche AIDS-Hilfe e.V.

weitere Informationen:
DAH-Blog 27.09.2009: 7.10.09: Salon Wilhelmstraße “Ärztliche Prävention”
DAH-Blog 24.10.2009: Prävention beim Arzt?
.

Das Impf-Wunder von Thailand: warum ich skeptisch bin …

Eine HIV-Impfstoff-Studie aus Thailand meldet Erfolg – und die Medien überschlagen sich. „Aids-Impfung erfolgreich“, neue Hoffnung, neuer Jubel. Und doch … da sind viele Fragezeichen. Warum ich skeptisch bin?

Viele viele Millionen sind in die Erforschung von Impfstoffen gegen HIV investiert worden, von staatlichen wie privaten Stellen. Doch gerade in den vergangenen Monaten häuften sich die Fehlschläge, die Negativ-Meldungen, die Berichte des Scheiterns: Aids-Impfstofe – die große Depression.

Und plötzlich, mitten in dieser großen Depression, mitten in einer Konstellation, in der Fragen laut werden, ob denn all das in die HIV-Impfstoff-Forschung investierte Geld wirklich gut investiertes Geld ist, tritt eine Sensations-Meldung: „Impfstoff-Studie in Thailand erfolgreich“

Verwundert reibe nicht nur ich mir die Augen.

Gedanken und Fragezeichen, die mir durch den Kopf gehen:
– Hätte irgend jemand die besten Immunologen der Welt vor wenigen Wochen gefragt, von welcher HIV-Impfstoff-Studie er sich denn gute Ergebnisse verspreche, in diesen depressiven Zeiten – diese thailändische Studie wäre sicherlich nicht genannt worden.
– Sind die Ergebnisse der Studie in irgend einer Form statistisch signifikant?
– 31% Erfolg – und was ist mit den verbleibenden 69%? Wie werden sie reagieren, wenn sie sich trotz des „moderaten Erfolgs“ des Impfstoffs dennoch infizieren?
– Warum war die Viruslast bei denjenigen, die den experimentellen Impfstoff bekamen und sich dennoch nicht infizierten, nicht (wie zu erwarten) niedriger als bei denen, die Placebo bekamen?
– Sind die Ergebnisse, so sie wissenschaftlich publiziert werden und sich reproduzieren lassen, auf andere Settings (z.B. andere Länder, andere epidemiologische Situationen, andere Virus-Subtypen, …) übertragbar?

Fragen über Fragen – und doch, die Sehnsucht nach Erfolgs-Meldungen vernebelt all die Kritik, all die Überraschung ob des völlig unerwarteten Erfolgs.

Sicher, es ist immer leichter hinterher zu kritisieren und Schwachstellen zu suchen. Aber – hier ist die Überraschung zu groß, die Unklarheiten zu bemerkenswert.
Deswegen meine Zurückhaltung, meine Skepsis.

Worum es bei der Publikation der den Medienhype verursachenden Informationen wirklich geht? Ich vermute, der Chef der Lobby-Gruppierung IAVI hat nicht unrecht, wenn er feststellt

„Man kann kaum bezweifeln, dass dieses Ergebnis das Thema Aids-Impfung mit neuem Schwung erfüllt und in neue Bahnen lenkt.“

Also: bevor sich großer Jubel breit macht, sollten die Daten wissenschaftlich (und komplett) publiziert sein, sauber analysiert, möglichst die Ergebnisse reproduzierbar (auch um den arg überraschenden plötzlichen und unerwarteten Erfolg zu erklären). Dann können wir immer noch sehen, ob wirklich Grund zum Jubeln besteht – oder ob nicht einfach eine Erfolgsmeldung gebraucht wurde …

.

(( für Stephan, und Peter, und all die anderen, die fragten, warum ich denn über diesen Erfolg nicht schreibe … ))

Lesenswert:
The Wisdom of Whores 25.09.2009: HIV vaccines: the ecstasy and the agony
aidsmap 28.09.2009: US activist group urges caution on vaccine trial results
Zeit online 30.09.2009: HIV-Impfstoff: Kein Durchbruch – Der Jubel über eine angebliche Aids-Impfung ist verfrüht
POZ 06.10.2009: Second Analysis of Vaccine Trial Casts Doubts on Result
lemegalodon.net 09.10.2009: L’annonce médiatique d’un vaccin contre le sida : une nouvelle retombée comme un soufflé
Editorial „HIV vaccine: it may take two to tango, but no party time yet“ Retrovirology 2009, 6:88 (pdf)
Wall Street Journal 11.10.2009: Data Call Into Question HIV Study Results
New York Times 11.10.2009: Success of AIDS Vaccine Trial Is at Issue
Time 13.12.2009: Behind the Rising Doubts About Hailed AIDS Vaccine
SZ 15.10.2009: Schwache Daten – HIV-Impfstoff doch weniger wirksam als zunächst verkündet

Nachtrag 24.11.2009: siehe hierzu auch der Artikel „Ergebnisse der AIDS-Impfstoffstudie in Thailand“ im Epidemiologischen Bulletin 48/2009
.

Wenn einer eine Reise tut …

Wenn einer eine Reise tut …
… dann kann er was erleben.
Und wir erlebten viel, in diesen sechs Tagen, beim 13. Treffen der Menschen mit HIV in Polen.
Einige persönliche Gedanken:

– Selten habe ich mich (an den ersten Tagen) dermaßen ausgeschlossen gefühlt, nicht teilhaben könnend – großenteils aufgrund der Sprachbarriere. Erinnerungen an frühere lange Auslands-Aufenthalte werden wach. Und mir wird erneut bewusst, wie sich wohl fremdsprachige Teilnehmer auf unseren Treffen teils fühlen müssen.

– Es war ein sehr buntes gemischtes Treffen (was auch die etwas andere Situation des Lebens mit HIV  in Polen spiegelt). Von jung bis alt, vom Kind über Teenager bis zur 70jährigen positiven Frau, heterosexuellen Männern, schwulen Männern, Drogengebraucher und Drogengebraucherinnen, Ex-User, Substituierte, aus Kleinstadt, Dorf und Großstadt – eine sehr lebendige Mischung, eine Vielfalt, die sehr wohltuend war – und die ich mir auch für deutsche Treffen wieder mehr wünsche.

– Besonders bemerkenswert: eine Vielzahl an (jetzt oder ehemals) drogengebrauchenden Menschen, die teils sehr lebendig und engagiert ihre Sichtweisen einbrachten – mir wird sehr deutlich, wie sehr ich die aktive Integration, die Bereicherung um andere Sichtweisen und Lebenshintergründe  von Junkies, Ex-Usern und Substituierten bei unseren Treffen (die früher viel ausgeprägter war) vermisse.

– Es ist immer wieder frustrierend, zu hören und erleben, wie schlecht die Lebenssituation für Menschen mit HIV in manchen Staaten Osteuropas ist, wie unerträglich die Medikamentenversorgung, die soziale Unterstützung. Und es hinterlässt ein äußerst schales Gefühl, wenn ich die gleichen Personen, die aus ihrem Land derlei Missstände berichteten, dann kurze Zeit später mit dem Taxi abreisen sehe, während fast alle anderen Teilnehmer den Linienbus nehmen.

– Geradezu wütend machen mich Geschichten wie die eines fertig studierten Mediziners, dem von seiner eigenen Ärztekammer verwehrt wird, als niedergelassener Allgemeinmediziner zu arbeiten – einzig aufgrund seiner HIV-Infektion. Bei weitem nicht das einzig gehörte Beispiel, welche Steine einem Leben mit HIV in den Weg gelegt werden …

– Umso erfreuter war ich immer wieder ob des freundlichen, sehr hilfsbereiten Personals der Hotel-Anlage. Und der wundervollen kaschubischen Landschaft, ihrer Ruhe, Klarheit, Gelassenheit – Balsam für die Seele.

– Und es macht nachdenklich, zu hören, was polnische Positive so alles auf sich nehmen müssen – von einer letztlich nicht anonymen Behandlung über weite Anreisen zum Behandlungszentrum von bis zu 200 km bis zu Problemen mit Ärzten, am Arbeitsplatz, im Alltag, die weit über das bei uns meist übliche hinaus gehen. In welcher vergleichsweise luxuriösen Situation wir in Deutschland leben, selbst im Vergleich mit unserem direkten Nachbarn – angesichts weit verbreiteter Anspruchshaltungen auch bei Menschen mit HIV wäre mir lieb, es wäre mehr bewusst, wie wenig normal dies alles schon wenige Kilometer entfernt ist …

Frau Merkel fährt Zug

Frau Merkel fährt Zug. Nein, nicht zu einem Geburtstag. Aber vielleicht in die Restauration.

Am 15. September 2009, genau an dem Tag, an dem sich zum 60. Mal die Wahl Konrad Adenauers zum Bundeskanzler jährt, fährt Frau Merkel Zug. Und nein, nicht irgend einen Zug – Merkel nimmt den ‚Rheingold-Express‘. Sie geht auf Wahlkampf-Reise mit jenem Zug, den auch Adenauer von 1953 an als Wahlkampf-Zug benutzte.

Was Frau Merkel uns damit sagen will?

Frau Merkel fährt an diesem für sie wohl denkwürdigen Tag mit einem Zug aus der Vergangenheit. Auf der Stecke von Rhöndorf (Adenauers spätem Wohnort) über Bonn und Leipzig nach Berlin.

Ein Verkehrsmittel, und eine Strecke, die wohl symbolhaft verstanden sein wollen. Symbolhaft für eine bestimmte Vergangenheit.

Frau Merkel auf der Reise.
Auf einer Reise in eine neue Restauration?
In eine Zeit konservativer Erstarrung, in der alles Neue, Innovative keine Luft bekommt?
In eine neue dumpfe Merkel-Adenauer-Zeit?

Was sonst sollte sie mit ihren Symbolen sagen wollen?

Der Rheingold übrigens musste irgendwann dem Eurocity, später dem ICE weichen. Vielleicht auch ein Symbol?

Die Hoffnung stirbt zuletzt: Das Kompetenznetz HIV/Aids und die Politik

Die Zukunft der HIV-Kohorte des Kompetenznetzes HIV/Aids ist unsicher – ein Gast-Kommentar von Siegfried Schwarze (Projekt Information, München):

In der Medizin sind Kohorten, also die Sammlung von Behandlungsdaten zu einer bestimmten Erkrankung über längere Zeit, ein unverzichtbares Mittel um Forschungshypothesen für klinische Studien aufzustellen. Im HIV-Bereich gibt es mehrere große Kohorten, darunter vor allem die schweizerische „Swiss Cohort“ mit mehr als 15.000 Patienten, aus der immer wieder hochrangige wissenschaftliche Veröffentlichungen gewonnen werden.

Bis vor einigen Jahren war Deutschland, was HIV-Kohorten anbelangte, Entwicklungsland. Zwar erfasste jedes größere Behandlungszentrum die Daten seiner Patienten mehr oder weniger systematisch, aber eine Zusammenarbeit oder gemeinsame Auswertung der Daten gab es immer nur kurzfristig und projektbezogen.

Dann kam die „Kompetenznetzinitiative“ der Bundesregierung. 2002 waren Kompetenznetze auf einmal die tollste Erfindung seit dem Plastikstrohhalm. Im Bereich HIV wurde das Kompetenznetz HIV/Aids aus dem Boden gestampft und mit ihm eine Kohortendatenbank. Ein Grundgedanke beim Aufbau des Netzwerks war es, in Deutschland die industrieunabhängige Forschung zu fördern. Heraus kam eine weltweit ziemlich einmalige Struktur, in der sich die gesamte „HIV-Community“ aus niedergelassenen Ärzten, Klinikärzten, Grundlagenforschern, Sozialwissenschaftlern und Patientenvertretern wiederfindet. Damit schien auch eine erfolgreiche Eingliederung in internationale Projekte machbar.
Allerdings hatte Deutschland aufgrund der dezentralen Struktur seines Gesundheitswesens einen entscheidenden Wettbewerbsnachteil: Jede Praxis, bzw. jede Klinik kann aus einem breiten Angebot verschiedener Software-Systeme auswählen, die praktisch alle zueinander inkompatibel sind. Nun gibt es zwar die Möglichkeit, entsprechende Datenschnittstellen zu schaffen, aber diese Programme sind sehr komplex und müssen zudem ständig angepasst werden – ging also nicht, da zu teuer. Einzige Alternative: Die Ärzte müssen alle Daten doppelt erfassen. Einmal für sich selbst, einmal für’s Kompetenznetz. Wie man sich leicht vorstellen kann, ist die Eingabe von Datensätzen mit über 100 Einzeldaten pro Patient schon bei wenigen Patienten ein solcher Aufwand, dass der Arzt diese Aufgabe an (zusätzliches) Personal delegieren muss. Und das kostet Geld. Im Jahr 2007 wurde die Kohorte dann von ihrem eigenen Erfolg eingeholt: Bei mehr als 16.000 Patienten war absehbar, dass das Geld, das vom Staat von Förderperiode zu Förderperiode spärlicher floss, nicht mehr ausreichen würde. Nicht zuletzt auf massiven Druck der fördernden Ministerien wurde die Kohorte schließlich auf etwa 8.000 Patienten verkleinert.

Doch damit war das Problem der Finanzierung nicht gelöst, denn von Anfang an war klar, dass die Förderung durch den Staat am 31.08.2010 endgültig auslaufen würde. Dieser Zeitpunkt rückt immer näher und bis jetzt ist kein tragfähiges Konzept für die weitere Finanzierung des Kompetenznetz HIV/Aids in Sicht. Vielfache Anstrengungen sind für die finanzielle Sicherstellung des Kompetenznetz HIV/Aids unternommen worden doch bisher trägt davon keine. So ist auch die Möglichkeit, die Finanzierung durch eine Stiftung sicherzustellen, nur dann umsetzbar, wenn bei allen Beteiligten (und bei denjenigen, die von der Forschung und den Daten des Kompetenznetzes möglicherweise profitieren) der Wille besteht, das Kompetenznetz zu erhalten. 50 Millionen Euro würden als Stiftungskapital gebraucht um mit den Kapitalerträgen die Kohorte am Laufen zu halten. Bisher gibt es trotz vieler Gespräche wenig Hoffnung, diese finanzielle Einlage (auch befristet, wenn das Kompetenznetz nicht erfolgreich arbeitet) zu realisieren. Momentan braucht der Staat offenbar jeden Cent um marode Banken zu sanieren und Wahlgeschenke zu finanzieren.

Der Patientenbeirat und die Deutsche Aidshilfe haben sich in einer Briefaktion an zahlreiche deutsche Politiker und Entscheidungsträger gewandt, mit der Bitte, das Kompetenznetz nicht einfach so sterben zu lassen. Immerhin hat es den Steuerzahler bereits etwa 17 Millionen Euro gekostet. Und die Daten in der Datenbank sowie die eingefrorenen Blut- und Gewebeproben sind für die Forschung von unschätzbarem Wert. Anders als in anderen Studiendesigns muss eine Kohorte über viele Jahre fortgeführt werden, um aussagekräftige Daten zu erhalten und diese sinnvoll analysieren und publizieren zu können (Zum Vergleich: Die Schweizer Kohorte hat über 10 Jahre dafür gebraucht!). Das Kompetenznetz hat gerade aufwendig die Kohortendaten in ihrer Qualität aufgewertet. Erste Veröffentlichungen der Daten auf Kongressen und in Artikeln finden gerade statt, die Kohorte wird nach vergleichsweise kurzer Zeit sichtbar. Jetzt, wo die Kohorte anfängt, Früchte zu tragen, wäre es der unsinnigste Zeitpunkt, ihre Fortführung einzustellen.

In den Antwortschreiben (so denn überhaupt eine Antwort kam…) wurde angedeutet, dass die Kohorte unter der Aufsicht des Robert-Koch-Instituts (RKI) fortgeführt werden könnte. Dies kann und darf aber keine Lösung sein, denn zum einen ist damit die Frage der Finanzierung immer noch offen (wenn man das nötige Geld dem RKI gibt, könnte man es auch gleich dem Kompetenznetz geben), zum anderen ist der Transfer hochsensibler Daten von 8.000 Patienten an die Bundesseuchenbehörde (nichts anderes ist das RKI) aus Datenschutzgründen nicht akzeptabel. Sollte dieses schlimmstmögliche Szenario eintreffen, würde der Patientenbeirat alle Patienten in der Kohorte dazu aufrufen, ihre Einwilligungserklärung zu widerrufen. Dann müssten die Daten gelöscht und die Blut- und Gewebeproben vernichtet werden.

Doch glücklicherweise werden noch andere Alternativen erwogen. So könnte die Kohortendatenbank auch bei wissenschaftlichen Gesellschaften wie der Helmholtz-Gesellschaft oder bei den Fraunhofer-Instituten eine neue Heimat finden. Da in Deutschland Großforschungseinrichtungen im Rahmen der diversen „Eliteförderungen“ und „Exzellenzinitiativen“ immer noch vergleichsweise großzügig unterstützt werden, sind diese Gesellschaften finanziell recht komfortabel ausgestattet und könnten den Erhalt der Kohorte langfristig sicherstellen. Denkbar und aus
Sicht des Patientenbeirats das „kleinste Übel“ wäre die Angliederung der Kohorte an eine solche oder eine vergleichbare Struktur, die es auch im Umfeld von Universitäten gibt. Die einfachste und billigste Lösung wäre es sicherlich, die aufgebauten Strukturen des Kompetenznetzes weiter zu nutzen.

Eines ist klar: Wenn wir das Kompetenznetz einfach so gegen die Wand fahren, verliert Deutschland auf lange Zeit die Chance, in der HIV-Forschung mit vorne dabei zu sein. Der Einsatz der Ärzte und Forscher und nicht zuletzt auch der Patienten wäre umsonst gewesen und HIV-Forschung wäre nur noch mit Mitteln der Pharmaindustrie möglich.

Soweit darf es nicht kommen!

S. Schwarze

Gedanken zur Schmutzkampagne gegen N.B, stellvertretend für Menschen mit HIV und AIDS

Anfang April 2009 wurde eine junge Sängerin unter dem Vorwurf der HIV-Übertragung verhaftet. In den folgenden Tagen findet unter großer medialer Aufmerksamkeit eine Kampagne mit Vorverurteilungen, Outing und stigmatisierenden Bildern statt.
Dazu ein Gast-Kommentar vom Michèle Meyer, Präsidentin von LHIVE, der Schweizer Organisation für Menschen mit HIV und Aids:

Gedanken zur Schmutzkampagne gegen N.B, stellvertretend für Menschen mit HIV und AIDS.

N.B. wurde medienwirksam verhaftet, zwangsgeoutet und vorverurteilt.
Nachfolgend einige Gedanken und Fragen, die sich im Verlauf dieser traurigen Geschichte mir aufdrängten.

Als ich in den Medien von der Verhaftung von N.B. erfuhr, habe ich die Meldung überflogen und als unwichtig erachtet. Ich dachte keinen Moment daran, dass mich dies noch sehr persönlich betreffen würde, geschweige denn, dass es mich in meiner Funktion als Präsidentin von LHIVE betreffen musste!
Wenige Tage später bin ich erschrocken. Journalisten zitierten den Mediensprecher der Staatsanwaltschaft Darmstadt, welcher Details der ihr vorgeworfenen Anklagepunkte in der Öffentlichkeit äusserte:
„N.B. ist HIV-positiv und hat in mindestens drei Fällen ihre Sexualpartner wissentlich dem Risiko einer HIV-Infektion ausgesetzt. In einem Fall kam es zur Ansteckung. Das Ganze sei im Zeitraum von 2002-2006 geschehen, und da Gefahr im Verzug war, wurde sie inhaftiert.“
Ich dachte der redet sich um Kopf und Kragen. Aber nein, Schlagzeile über Schlagzeile, immer und immer wieder wurde er zitiert, angereichert mit weiteren Spekulationen und vermeintlichen Details aus N.B. s Leben. Ein gefundenes Fressen…
Die Unschuldsvermutung schien plötzlich nicht mehr zu gelten, Persönlichkeitsrechte und der Schutz von heiklen medizinischen Daten entfallen? Argumentiert wurde mit öffentlichem Interesse und Vorbildfunktion – und wie erwähnt mit Wiederholungsgefahr.
Es wäre zum Lachen gewesen, wenn es nicht so einschneidend tragisch für den Menschen N.B. und für „uns“ Menschen mit HIV und AIDS wäre.

Von wegen Gefahr im Verzug, was hier geschah war Zwangsouting, zum Schutz der sogenannten Volksgesundheit. Später wurde übrigens bekannt, dass die Staatsanwaltschaft die Krankenakte von N.B. hat beschlagnahmen lassen. Dies alles obwohl noch nicht geklärt war ob N.B. überhaupt HIV-positiv ist, in einem erst angelaufenes Verfahren, ohne Beweise.
Ich dachte medizinische Daten seien besonders schützenswerte Daten? Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft hausiert einfach so mit nicht verifizierten Daten einer Angeklagten und spielt sich als moralischer Gesetzesvertreter in den Medien gross auf?
In der U-Haft wurde von N.B. von einer Ärztin und Vorstandsfrau des Vereins der Aids-Aufklärung Deutschland besucht, die ihr Arztgeheimnis und ihr Engagement mehr als fragwürdig auslegte, denn sie gab „der Bild“ ein Interview und outete N.B. gleich nochmals.
Ein Abgeordneter sprach von Menschen mit HIV, als Biowaffen; übrigens noch nicht einmal einklagbar… einfach so, darf der das.

Mein Glauben an das Rechtssystem hat schwer gelitten. Vorverurteilung, Diskriminierung scheint zulässig, denn Menschen mit HIV sind unmoralisch und deshalb Menschen zweiter Klasse.
Das Bild der gefährlichen kriminellen Menschen mit HIV, der Unverantwortlichen, Schmuddligen war wieder hergestellt und wurde regelrecht zelebriert.
Wer trägt eigentlich Verantwortung für soviel Unwissen und Diskriminierung? Wem dienen diese Bilder? Was haben die Journalisten und die Behörden und Aids-Hilfen in den letzten 25 Jahren verpasst an Aufklärung, dass solches heute, 2009, möglich ist? .
Nicht genug tauchte dann noch ein Anwalt auf, der sich ins Szene setzte, und vom Medienype zu profitieren versuchte; Legt ein Mandat nieder, dass er nie hatte. Unglaublich.

Ich musste handeln, so versuchte ich mich mit anderen HIV- AktivistInnen kurz zu schliessen, mit der Frage was tun wir und wie? Wie ohne N.B. zu schaden und immer die heikle Frage: „ schaden wir „uns“ durch irgend ein Solidaritätsbezeugnis mit ihr“? Eine Frage die mir Bauchschmerzen bereitete. Ich mag es nicht, wenn eigene Interessen zu Ent-Solidarisierung führen.
In der Blogwelt herrschte unterdessen Stammtischstimmung.
Sehr unangenehm berührten mich die vielen Voten von Menschen mit HIV, die sich distanzierten, N.B. vorverurteilten und sich als „gute, unschuldige HIV-Positive“ präsentierten.
Verstehen kann ich solches nur im Kontext eigener Verletzungen, Stigma und Selbst-Entwertung. Als Versuch sich zu rehabilitieren und als Flucht nach vorne.
Viele Andere wiederum zeigten, wegen des Falles von N.B., um so mehr Angst und Scham sich zu HIV und AIDS zu bekennen. Nicht nur virtuell, sondern im realen Leben.
Persönlich hat mich die Schmutzkampagne gegen N.B. und Menschen mit HIV und AIDS getroffen.
Wir sind schmutzig, gefährlich, schuldig und kriminell. Unabhängig von wissenschaftlichen und medizinischen Fakten; die Meinung ist gemacht.

Mein unerschütterliche Glaube an die Möglichkeit Stigma und Selbststigma zu begegnen und aufzulösen, ist schwer ins Wanken geraten. Mich beschäftigten die Fragen: Wie können wir die Mechanismen entkräften, die uns zu Menschen zweiter Klasse machen? Wird noch zu meinen Lebzeiten HIV als eine Infektionskrankheit wahrgenommen, wie andere auch?

Wohltuend war die deutliche Stellungnahme der Deutschen Aids Hilfe gegen die Verhaftung und Vorverurteilung von N.B. und die differenzierten und kritischen Meldungen in einigen Medien, die sich schon länger zum Thema HIV mutig, informativ und konsequent äussern. Besonders zu erwähnen sind die beiden Blogs: „ondamaris“ und „der blidblog“.
Dies hat mich ermutigt in mitten dieser Hetzte gegen N.B und Menschen mit HIV und AIDS in die Öffentlichkeit zu gehen und in der Sendung „Stern TV“ von Günter Jauch aufzutreten.
Eine Möglichkeit die EKAF- Botschaft hinauszutragen, einen Kontrapunkt zu setzen gegen Scham und Schuld: selbstbewusst HIV-positiv.
Leider ist es mir bisher nicht gelungen einen direkten Kontakt mit N.B. herzustellen, trotz vielen Versuchen.

Zehn Wochen nach ihrer Verhaftung sitzt sie selbst bei Günther Jauch. „ Ja ich bin HIV-positiv. Nun kann mich keiner mehr erpressen.“, sagt sie in ihrem ersten Interview und dass sie für ihr Recht kämpfen werde. Zu den Vorwürfen kann sie sich nicht äussern, solange der Rechtsfall nicht abgeschlossen ist. Sie hat ihre Situation als Prominente, als Mensch und Mutter geschlidert und bestimmt damit auch berührt.
Leider äusserte sie bis jetzt noch keinen Satz in „unsere Richtung“… kein Wort auch über die Solidaritätsbekundungen von Menschen mit HIV und AIDS, die sie erreichten seit ihrer Verhaftung. Schade.
Trotzdem hat sie rechtzeitig vor ihrem ersten Konzert nach der Verhaftung die Berichterstattung über ihre Person wieder selbst in die Hand genommen.

Nur, und das gilt für uns alle, wer hat wirklich Kontrolle über seine heiklen Daten, über seine Antworten auf Fragen zur sexuellen Gesundheit, Vorlieben, Compliance?
Wer weiss, was er wem anvertrauen kann? Und wieviel Einfluss können wir nehmen auf das Bild, von Menschen mit HIV das durch die Journalisten geprägt wird?
Wer bestimmt über sein Coming out wirklich selbst?
Warum sollten wir uns verstecken? Wegen Irrationalitäten, Unwissen und dem brauchbaren Bild des gefährlichen Unverantwortungslosen, der Andere abschrecken soll sich zu infizieren? Macht uns unsere Unsichtbarkeit nicht zum Spielball? Was lassen wir uns gefallen und wie werden wir zu Handelnden?

N.B. wurde zum Outing gezwungen, während fast zeitgleich in den U.S.A ein Abgeordneter gewählt wurde, der offen schwul und HIV-positiv ist. Die Schere geht auf. Wir können uns entscheiden.
N.B. hat als Prominente erfahren was ein Leben mit HIV bedeutet, was es für Menschen mit HIV im Alltag bedeutet…ich wünsche mir, dass Menschen mit HIV N.B. tragen können und viceversa.

Inzwischen ist bekannt geworden, dass der Haftbefehl gegen N.B. aufgehoben wurde. Hoffen wir, dass das Verfahren eingestellt wird und sich Mediensprecher der Staatsanwaltschaft Darmstadt und Journalisten genauso öffentlich zu ihrem eigenen Fehlverhalten stehen.

Michèle Meyer
.

Deutsche HIV-Kohorte bald bei der Seuchenkontroll-Behörde?

Die Zukunft der HIV-Kohorte des Kompetenznetzes HIV/Aids ist unsicher – ein Gast-Kommentar von Bernd Vielhaber:

Seit 2002 hat existiert das deutsche Kompetenznetz HIV/AIDS (www.kompetenznetz-hiv.de). Das Markenzeichen des Kompetenznetzes ist seine Patientenkohorte, in der der Infektionsverlauf von aktuell 8.200 HIV-Infizierten pseudonymisiert und mit hoher Qualität dokumentiert wird. Zu den halbjährlich aktualisierten Daten gehören bis zu 560 verschiedene Items – unter anderem Laborbefunde, Art und Menge der Medikamente sowie Begleiterkrankungen. Zur Kohorte gehören auch Materialbanken, in denen mehr als 46.000 Blut- und 14.000 DNA-Proben eingelagert sind.

Nach Begutachtung durch ein internationales Expertengremium hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) dem nationalen Forschungsverbund für eine dritte Förderperiode bis September 2010 insgesamt 3,6 Millionen Euro zugebilligt. Das Netzwerk benötigt zirka 2,5 Millionen Euro jährlich, um die in Deutschland geschaffene neue Qualität der AIDS-Forschung, mit der Translationsforschung als Alleinstellungsmerkmal des Netzes, durch eigene Projekte zu gewährleisten und auszubauen.

Zum Vergleich ein Blick ins Ausland: Eine dem Kompetenznetz ähnliche Struktur in Frankreich (ANRS) wird mit 45 Millionen Euro pro Jahr unterstützt. Und die HIV – Forschung in Großbritannien erhält ein Budget, das höher ist als das der Netze Frankreichs und Deutschlands zusammen.

Das BMBF sperrt sich gegen die Weiterfinanzierung und betreibt derzeit die Verlagerung der Kohorte und der Materialbank an das Robert-Koch-Institut (RKI).

Das ist in mehrfacher Hinsicht „bemerkenswert“.

Das RKI hat eine eigene HIV-Kohorte (ClinSurv). Eine Zusammenarbeit oder gar Zusammenlegung der beiden Kohorten ist in der Vergangenheit vom stellvertretende Leiter der Abteilung Infektionsepidemie des RKI (Osama Hamouda) immer mit dem Hinweis verweigert worden, die Datenstrukturen der beiden Kohorten seien zu unterschiedlich, der Aufwand sei viel zu groß und man habe keine personelle Ressourcen.

Aufgrund einer Ausnahmegenehmigung darf die ClinSurv-Kohorte betrieben werden, ohne das die eingeschleusten Patienten(inn)en wissen, dass sie eingeschleust worden sind und ohne dass sie eine Einverständniserklärung unterschreiben mussten.

Das RKI ist die staatliche Seuchenkontrollbehörde.

Anfang Juli 2009 hat das RKI verschiedene Forschungsprojekte ausgeschrieben. Der folgende Text ist dieser Ausschreibung entnommen und macht deutlich, in welche Richtung das RKI zu denken scheint:

„Die epidemiologische Krebsregistrierung in Deutschland hat sich gerade in den letzten Jahren wesentlich verbessert. Seit kurzem sind in allen Bundesländern die gesetzlichen Grundlagen für eine flächendeckende bevölkerungsbezogene Krebsregistrierung geschaffen worden. Die Daten epidemiologischer Krebsregister ermöglichen es, die Effektivität von Präventions- und Früherkennungsprogrammen zu bewerten. Dabei bilden relative Überlebensraten ein geeignetes Maß, um die Überlebensaussichten nach der Diagnose einer Krebskrankheit auf Bevölkerungsebene zu beschreiben. Überlebensraten können jedoch nur zur Bewertung der Effektivität des Gesundheitswesens bei der Bekämpfung von Krebserkrankungen herangezogen werden, wenn die Qualität der Daten gewährleistet ist. Gerade für die neu etablierten Krebsregister stellt die Prüfung der Datenqualität eine wichtige Aufgabe dar. Hinsichtlich der Berechnung des Überlebens von Krebspatientinnen und -patienten bildet die Verlässlichkeit, mit der der Vitalstatus der Erkrankten festgestellt werden kann, einen wichtigen Einflussfaktor. Erfahrungsgemäß sind die Überlebensraten umso höher, je ungenauer der Kenntnisstand des Krebsregisters hinsichtlich des Vitalstatus der registrierten Krebspatientinnen und -patienten ist.

In der Arbeitsgruppe „Überlebenszeitanalysen“ der „Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e.V.“ (GEKID) ist die Notwendigkeit erkannt worden, die Erfassung aller Todesfälle unter den registrierten Krebskranken in den Krebsregistern näher zu untersuchen und gegebenenfalls zu verbessern. Dazu soll der Vitalstatus der im Register erfassten Patientinnen und Patienten mittels der Einwohnermeldeämter im Rahmen einer (kostenpflichtigen) Meldeauskunft überprüft werden. Um die Gesamtkosten für die einfachen bzw. erweiterten Meldeauskünfte zu begrenzen, ist die Bildung von Patientenstichproben denkbar oder die Konzentration auf einzelne, stellvertretende Entitäten mit guten/schlechten Prognosen. Die letztlich entstehenden Kosten sind jedoch nicht vollständig aus den laufenden Budgets der Krebsregister finanzierbar. Das beabsichtigte Projekt sollte sowohl die Finanzierung dieser Aufgaben ermöglichen als auch die übergreifende Auswertung der Ergebnisse unterstützen.
Die bisher berechneten Überlebensraten fallen günstig aus, wenn unterstellt wird, dass alle Krebskranken, über deren Ableben nichts bekannt ist, überlebt haben. Die Überlebensraten fallen deutlich schlechter aus, wenn nur diejenigen als Überlebende angesehen werden, die nach positiver Auskunft des Einwohnermeldeamts am alten oder einem neuen Wohnort gemeldet und nicht zwischenzeitlich verstorben sind. Erst die nach zusätzlichen Informationen neu berechneten Überlebensraten werden Klarheit über die wahren Verhältnisse schaffen. Erst dann kann der Einfluss unterschiedlicher Mortalitätserfassung in den einzelnen Registern auf die Ergebnisse abgeschätzt werden. Dadurch sind letztlich relative Überlebensraten für Deutschland realisierbar, die nicht nur – wie bisher – allein auf den Daten des saarländischen Krebsregisters basieren, sondern auf Krebsregisterdaten aus weiteren (möglichst allen) Regionen Deutschlands.“

Da frage ich mich dann doch, ob nicht eine Einführung der namentlichen Meldepflicht über die Hintertür zu befürchten ist.

Aus meiner Sicht ist eine Überführung der Kohorte und der Materialbank des Kompetenznetzes HIV/AIDS an das Robert-Koch-Institut völlig inakzeptabel.

Das BMBF hat – so die Einschätzung der an den Gesprächen Beteiligter – überhaupt keine Vorstellung davon, dass gerade für Menschen mit HIV und AIDS eine derartige Bedrohung ihrer Anonymität nicht hinnehmbar ist und geht davon aus, dass die Transition problemlos und ohne Widerstand über die Bühne geht.

Ich schlage daher vor, dem BMBF sehr deutlich Grenzen zu setzen. Dazu habe ich (in Anhang) einen Musterbrief formuliert, den jede/r Patient/in die/der in der Kohorte ist, seiner einschleusenden Ärztin/seinem einschleusenden Arzt ausgefüllt zuschicken kann, um deutlich zu machen, dass wir einer solchen Verlagerung keinesfalls zustimmen.

Bernd

Musterbrief zum Download als rtf hier

.

Aids macht sexy?

Macht Aids etwa sexy? Oder die Aids-Medikamente? So manche Pharma-Werbung scheint den Eindruck zu erwecken – nun auch beim CSD.

Viel zu selten wird diskutiert, welche Rolle Pharma-Werbung für Aids-Medikamente (da nach Heilmittelwerbegesetz untersagt, oft mühsam verbrämt als „Image-Werbung“ für das Engagement des jeweiligen Unternehmens) spielt. Welche Bilder sie vermittelt, welche Wirkungen und Folgen diese Bilder zeitigen.

Der geschätzte Blogger-Kollege Clamix hat beim Besuch des Kölner CSDs auch Beobachtungen zum Auftreten der Pharmaindustrie gemacht und seinen Eindruck auf den Punkt gebracht:

„Ein vom HIV-Medikamenten-Hersteller Abbott gesponsorter Wagen hat ein besonders erfolgreiches Casting schöner, durchtrainierter Tanzkörper hinbekommen. Ein echter Hingucker! Fast wünscht man sich, auch infiziert zu sein, um endlich diese Pillen schlucken zu dürfen.“

Aids macht sexy?
Attraktive Pillen?
Harmloses Aids?
Die Realität: alles andere als das.

Aids-Medikamenten-Werbung, die mit den Realitäten des Lebens mit HIV nicht viel zu tun hat. Die falsche Bilder vermittelt, verharmlost. Aids-Medikamenten-Werbung, wie wir sie aus den USA seit dem legendären „strunzigen Proteasehemmer-Bergsteiger“ (natürlich nur fit dank xyz) kennen, wie sie leider immer mehr auch hier Einzug hält.

Solcherlei verharmlosende, beschönigende, irreführende Bilder füllen bereits seit langem die Seiten zahlloser Homo-Magazine, besonders der gratis-Blättchen. Im übelsten Fall noch gekoppelt mit einem Artikel im Heft, der selbstverständlich nicht als „Werbung“ deklariert ist, vielmehr auf den unbefangenen, wenig kritischen Leser als redaktioneller Artikel scheinen mag (und wohl auch soll).

Dass solcherlei nun auch noch als „Party-Wagen“ in CSDs auftaucht, macht diese falschen, in die Irre führenden Bilder nicht besser, ganz im Gegenteil.

Ob es sich lohnt, mit der Pharmaindustrie über ihre Werbepraxis zu sprechen? Ich hab da meine Zweifel.

Aber CSD-Veranstalter: ein CSD-Veranstalter, der meint, sich für seine Communities einzusetzen, sollte sich fragen, ob nach Körperpflege, Bier und Fitnessriegel nun auch Pharmawerbung „einfach so“ tatsächlich Bestandteil eines CSDs sein sollte. Vor allem, wenn sie verharmlosende Bilder propagiert, die Gefahr laufen, erfolgreiche Präventionsbemühungen zu konterkarieren.

Und es wird erneut deutlich, warum das Vorhaben der EU, an Patienten gerichtete Pharma-Werbung zu erlauben, mit allergrößter Skepsis zu sehen ist.

Weitere Informationen:
Clamix 06.07.2009: Christopher Street Day
Steven Milverton 08.07.2009: CSD Köln: Laute(r) Einfallslosigkeit
.

Unterlassene Hilfeleistung – Lässt die Aids-Stiftung Positive im Stich?

Die Deutsche AIDS-Stiftung (DAS) hat entschieden, aus Gründen der Effektivität die direkte finanzielle Hilfe für Menschen mit HIV und Aids drastisch einzuschränken, und stattdessen mehr Geld an professionelle Aids-Projekte zu verteilen.
Dazu ein Kommentar von Matthias Hinz:

Man stelle sich vor:
Die Feuerwehr entscheidet sich, künftig keine Menschen mehr aus brennenden Häusern zu retten oder Ertrinkende aus dem Wasser zu holen, weil es zu aufwendig ist, in hunderten kleiner Einzelfälle zu helfen. Effektiver sei es, größere Strukturen zu fördern, z.B. eine Akademie für Rettungsschwimmer zu bauen und Krankenhäuser zu renovieren.
Man kann das als Steigerung der „Effektivität“ bezeichnen. Man kann es aber auch als falsch bezeichnen, da es nicht Aufgabe der Feuerwehr ist, Krankenhäuser zu renovieren. Aufgabe der Feuerwehr ist es, Menschen aus direkter Not zu retten.

Aufgabe der Deutschen Aids-Stiftung (DAS) ist es, Spenden zu sammeln und an HIV-positve Menschen in finanzieller Not weiter zu leiten. Das ist ihr Hauptzweck – nicht sexy, aber notwendig. Eine Nebenaufgabe kann in der Unterstützung von Strukturen und Projekten gesehen werden, wenn diese sich ebenfalls der Notlinderung bei Positiven widmen.

Die Aids-Stiftung ist es jetzt aber offenbar leid, die Feuerwehr zu spielen, sie will lieber größere Strukturen fördern.
Nun kann ich gut verstehen, daß es „langweilig“ ist, das gespendete Geld immer nur weiterzureichen, in den immer gleichen Notlagen die immer gleichen kleinen Löcher zu stopfen. Da will man dann schon mal etwas „Zukunftsträchtiges“ gestalten, dabei helfen, etwas aufzubauen, was vorzeigbar ist. Aber das ist nicht die Aufgabe der DAS, sondern die von Versorgungs- und Betreuungseinrichtungen.
Vorrangige Aufgabe der Aids-Stftung muß die direkte Hilfe für Menschen mit HIV in finanziellen Notlagen bleiben. Diese Hilfeleistung darf sie nicht verweigern. Sie würde sonst ihren Daseinszweck sabotieren und über kurz oder lang ihre Existenz gefährden. (Da die Stiftung kein Selbstzweck ist, wäre es um die Einrichtung an sich nicht schade. Aber der Schaden für die Menschen, die in der Krise erst recht die Hilfe der Stiftung brauchen werden, wäre enorm.)
Die Stiftung denkt, es sei „effektiver“, nur einmal einen großen Scheck für ein Wohnprojekt oder eine Aidshilfe auszustellen, als sich hundertmal dem Kleinklein des alltäglichen Elends zu widmen, und hundert Einzelanträge auf eine Waschmaschine, einen Zuschuß für eine Ostseereise oder Zahnersatz zu prüfen.
Nun kann man sich durchaus darüber streiten, ob es wirklich „effektiver“ ist, mit Hunderttausenden von Euro ein paar Wohnungen für Positive zu bauen, oder mit riesigem Aufwand einige Ein-Euro-Jobs zu schaffen, statt Tausend Positiven in konkreten Notlagen zu helfen.
Der eigentliche Punkt ist aber, daß es nicht die Aufgabe der Deutschen Aids-Stiftung ist – erst recht nicht, wenn große Summen an „Sozialkonzerne“ gehen, die selber erfolgreich ihre Kompetenz im Spendensammeln bewiesen haben – ZiK
[Zuhause im Kiez, d.Hg.-]Berlin oder AH [Aids-Hilfe, d.Hg.] Köln.

Es ist ja durchaus löblich und im Einzelfall nicht unsinnig, kleinere Selbsthilfe-Projekte zu fördern. Aber wer der Öffentlichkeit immer wieder die finanzielle Not von Positiven drastisch vor Augen führt, und die eigene wichtige Rolle bei der Linderung dieser individuellen Nöte betont, wie die Stiftung das mit großem Erfolg tut, der muß mit den so geworbenen Spenden auch tatsächlich diese konkrete Not der Einzelnen lindern, sprich: Einzelfallhilfe leisten.
Wenn aber das öffentlich erzeugte Bild sich nicht (mehr?) mit der tatsächlichen Vergabepraxis decken sollte, dann kann man durchaus von einem Betrug an den SpenderInnen reden – und natürlich von Betrug an denen, in deren Namen die Spenden gesammelt werden. Die Stiftung kann sich eben nicht nach Belieben neue Aufgaben und Schwerpunkte aussuchen.

Wie konnte die DAS überhaupt in die Lage kommen, ihre Kernaufgabe (und damit ihre Daseinsberechtigung) dem Streben nach vermeintlicher Effektivität zu opfern?
Ich glaube, ein wichtiger Grund für diese Fehlentwicklung liegt (neben der als „Professionalisierung“ bekannten Bürokratisierung) darin, daß die Aids-Stiftung zwar die (finanziell) bei weitem größte „Interessenvertretung“ für Positive in diesem Lande ist, daß aber schizophrenerweise innerhalb der Stiftung Positive keinerlei Interessenvertretung haben – dagegen hat sich die DAS immer erfolgreich gewehrt.
Obwohl die Stiftung im Namen von Positiven Spenden sammelt, hat sie bis heute keine Struktur geschaffen, in der Positive entscheidend (oder auch nur beratend!) Einfluß nehmen könnten, z.B. auf die obskuren Vergaberichtlinien.

Getreu dem gönnerhaften Gutsherren-Motto „Wir wissen schon, was gut für euch ist!“ wird Geld verteilt – oder eben auch nicht.
Offenbar mißtraut die Deutsche Aids-Stiftung den Positiven zutiefst: sie könnten vielleicht zu egoistisch sein und das schöne Geld für lauter Jux und Tollerei vergeben wollen. Damit unterschätzt sie die solidarische Vernunft und das Verantwortungsbewußtsein vieler Positiver aber bei weitem.
Da die organisierten Interessenvertreter von Positiven selbst zu einem nicht geringen Teil auf Geld der DAS hoffen (oder gar darauf angewiesen sind), wurde die notwendige Kritik an der Stiftung meist nur kleinlaut vorgetragen (falls überhaupt).
So kommt es, daß die Menschen, für die die Aids-Stiftung eigentlich da ist, bis heute nichts in ihr zu sagen haben.

Aber vielleicht ist die Zeit ja mittlerweile reif.
Was spricht dagegen, durch die Positiven-„Vollversammlung“ (die „Positiven Begegnungen 2010“ in Bielefeld) vier oder fünf Menschen mit HIV auszuwählen, die in diesem Sinne in einem Gremium der Stiftung für zwei Jahre ehrenamtlich mitarbeiten?
Die Stiftung kann dadurch nur gewinnen: zusätzlichen Sachverstand und Kompetenz, und eine Verbesserung ihres lädierten Ansehens unter Positiven. Beides wird auch ihr öffentliches Ansehen heben. Und wenn dann durch höhere Glaubwürdigkeit auch noch die Spendenbereitschaft steigt, ist allen gedient.

Da die Deutsche Aids-Stiftung offenbar nicht in der Lage ist, diese längst überfälligen Schritte zu etwas mehr Transparenz und Mitbestimmung alleine zu gehen, braucht sie dazu wohl Hilfe von außen.
Aidshilfe- und Positiven-Bewegung sollten es nicht unterlassen, ihr diese Hilfe zu gewähren.

And the Winner is…

Das nervt! All die Preisverleihungen im Fernsehen – kaum ein Sender kommt heute noch ohne aus. Wen interessiert das? Niemand weiß es so genau. Laufend werden neue Preise und Preiskategorien erfunden. Das Publikum ist gelangweilt und verlangt immer abenteuerlicheres von den Hofnarren, die es sich hält (oder halten sich die Narren das Publikum?). Deshalb durften oder mussten wir in dieser Preisverleihungssaison ertragen, dass Preisträger ihren Preis nicht tragen wollten („ich nehme den Prrrrrrreisssss nicht an“) und ein B-Promi einem anderen B-Promi kamerawirksam seinen fast nackten Hintern ins Gesicht reckte. Das nervt!

Es gibt aber auch andere Auszeichnungen; fernab des medialen Almabtriebs. Preise und Preisverleihungen, die einen ganz anderen ‚Wert‘, eine ganz andere Bedeutung haben. Preise, mit denen Menschen und ihre nicht austauschbaren persönlichen Leistungen gewürdigt werden sollen. Der Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung ist ein solcher Preis, mit dem abseits des Mainstreams der Massenmedien Menschen und ihr, ich glaube es so schreiben zu dürfen, Wirken in einer medialen Nische gewürdigt werden sollen. HIV und AIDS sind eine solche mediale Nische. Jedenfalls soweit es um objektive und lebensnahe Berichterstattungen geht (das eine schließt das andere nicht aus, ganz im Gegenteil!), soweit es um sorgfältige und nicht tendenziöse Informationsvermittlung geht. Schlagzeilenträchtig und titelseitenfüllend ist HIV/AIDS fast immer nur, wenn es in einen negativen und dramatischen Kontext gestellt werden kann.

Seit mehr als zwanzig Jahren verleiht die Deutschen AIDS-Stiftung ihren Medienpreis. Die Liste der bisherigen Preisträger ist ein Verzeichnis mir unbekannter Menschen. Und doch sind sie mir vertrauter als die auswechselbaren Allerweltspreisträger, die alle paar Wochen über die Bildschirme flimmern.

In diesem Jahr gehört Ulrich Würdemann zu den Preisträgern. Ulli Würdemann ist ondamaris.

Geht man der Frage nach, warum der Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung so unbekannt ist, dann liefert die AIDS-Stiftung selbst die traurige Antwort. Gerne hätte ich an dieser Stelle ein wenig mehr über den Preis und die Beweggründe der Stiftung, Ulli Würdemann mit diesem Preis auszuzeichnen, geschrieben. Doch die AIDS-Stiftung schweigt. Google liefert in diesen Minuten Informationen über alle möglichen viert- und fünftrangigen Preisverleihungen, aber so gut wie nichts über den Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung. Auf der Homepage der Stiftung ist nur eine falsche Terminangabe zur Preisverleihung zu finden. Allein in einer Pressemitteilung heißt es lapidar: „Als Initiator und Redakteur des Internetauftrittes „Positiv schwul – Ondamaris“ erhielt Ulrich Würdemann den Medienpreis.“

Soweit ich sehe, erhält zum ersten Mal ein Blogger den Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung. Ein schöner Beleg dafür, dass auch ‚die Profis der AIDS-Arbeit‘ anerkennen, dass Informationsvermittlung und Meinungsbildung nicht nur über den Zeitungskiosk und die Mattscheibe funktionieren, sondern zu Beginn des 21. Jahrhunderts andere, möglicherweise sogar zielführendere Wege gehen müssen und gehen können.

Soll ich eine eigene Würdigung versuchen? Eine ins einzelne gehende Analyse des Blogs ondamaris könnte die Bezüge der Posts untereinander und die Abfolge bestimmter Entwicklungen, auch in der formalen Gestaltung, aufzeigen. Sie müsste auch die zahllosen geistvollen Bezüge zu anderen Blogs und sonstigen Fremdquellen aufzeigen, würde allerdings an ondamaris‘ Ungebundenheit scheitern. Das Wesentliche bliebe in einer solchen Analyse eher verdunkelt: Die ungeheure Freiheit, mit der der Blogger, über ein gewaltiges Repertoire an Quellen und Informationen verfügend, Post für Post seinen eigenen Weg geht und immer wieder erstaunliches und doch unmittelbar überzeugendes bringt. Ein Blog lebt, im wahrsten Sinne des Wortes, nicht von einer Handvoll triumphaler Posts, sondern vielmehr von dem Blogger, der dahinter steht. Eines ist nicht zu übersehen: Ondamaris lebt vom Fühlen und Denken des Ulrich Würdemann und seiner Sicht der Welt, seiner weiten Sicht der Welt.

Ich gratuliere herzlich zu diesem Preis! Und ein kleines Geschenk habe ich auch: ein ‚u‘. Lieber Ulli, Du weißt, wozu es gut ist! 😉

Die Preisverleihung fand in St. Gallen statt – im Rahmen des Deutsch-Österreichisch-Schweizerischen AIDS-Kongresses 2009 (SÖDAK 2009). Stöbert man ein wenig in ondamaris, sind ein paar kritische Beiträge zum SÖDAK 2009 zu finden. Wie verträgt sich die generelle Kritik an der Rezeption des diesjährigen AIDS-Kongresses mit der Entgegennahme einer Auszeichnung am Schauplatz der SÖDAK 2009? Ich mag über die Beweggründe nicht spekulieren; vielmehr werde ich Ulli danach fragen. Dazu später mehr bei mir zu Hause.

.

siehe auch: Steven Milverton 25.06.2009: Medienpreis 2007/2008 der Deutschen AIDS-Stiftung – Ein Gespräch mit ondamaris
DAH-Blog 26.06.2009: Wir gratulieren: DAS-Medienpreis für Ondamaris
.

Dustin Lance Black: keine Entschuldigung – das Recht auf Sex ohne Kondom

Ein Promi hat Sex ohne Kondom. ‚Bareback‘, ‚Entschuldigung‘, gellt es durch die Medien. Und – wo ist das Problem?

„Dustin Lance Black entschuldigt sich für durchgesickerte Fotos mit ungeschütztem schwulem Sex“, titelt PinkNews, und ggg.at legt reißerisch nach „Dustin Lance Black: Bareback-Bilder aufgetaucht“.

Dustin Lance Black, der Autor des Drehbuchs zu dem Film „Milk„, hatte also Sex mit einem anderen Mann. Sex, bei dem dieser in ihn eindrang, ohne Kondom. Drei Jahre alte Bilder, von einem ex-Lover an die Öffentlichkeit gezerrt, sollen dies zeigen.

Na und?

So weit sind wir also schon, dass man sich für Sex ohne Kondom rechtfertigen, entschuldigen muss?

Lance Black mag ein Problem haben. Aber das Problem lautet nicht „Sex ohne Kondom“.
Blacks Problem lautet vielleicht „Glaubwürdigkeit“ oder „warum hab ich Sex ohne Kondom, wenn ich gleichzeitig Safe Sex predige“ (in den USA wird „safe sex“ propagiert, nicht „safer Sex“ wie in Deutschland)

Das Problem von Herrn Black heißt nicht „Sex ohne Kondom“.

Wissen ggg.at, pinknews und co, welchen Serostatus Herr Black hat? Und ob er vielleicht -egal ob HIV-positiv oder HIV-negativ- einen Partner mit gleichem Serostauts hat(te)? Oder eine Partner, der HIV-positiv ist und die EKAF-Bedingungen erfüllt, also sexuell nicht infektiös ist?
Oder geht es mal wieder nur um Spektakel, um billige „Bareback-Schlagzeilen“?

Und – was geht das Sexleben von Herrn Black eigentlich die Boulevard-Presse an, egal ob homo oder hetero?

Niemand muss sich dafür entschuldigen, einvernehmlich Sex ohne Kondom zu haben. Erst recht nicht öffentlich. Egal, ob Nobody oder Promi. Niemand.

siehe auch:
PinkNews 15.06.2009: Milk screenwriter Dustin Lance Black apologises for leaked unprotected gay sex photos
ggg.at 15.06.2009: Dustin Lance Black: Bareback-Bilder aufgetaucht
Steven Milverton: Dustin Lance Black – Er hätte sich nicht entschuldigen müssen
LifeLube 15.06.2009: Milk screenwriter Dustin Lance Black apologises for ???
DAH Blog 17.06.2009: Blanker Hohn
.

Der Ruf nach mehr Geld – und die Frage der Argumente

350.000 € zusätzlich pro Jahr, so viel fordern die Berliner Aids-Projekte in einem Schreiben vom Land Berlin. Das sei noch bescheiden, hieß es auf einer Diskussionsveranstaltung über die Berliner Aids-Politik am 9. Juni 2009, denn eigentlich seien eine Million Euro mehr jährlich erforderlich.

Eine Forderung, die zunächst verständlich scheint. Seit Jahren müssen Berliner Aids-Projekte mit gleichen oder gar schrumpfenden Budgets zurecht kommen. Und dies in Zeiten, in denen eine zunehmend große Zahl von Menschen mit HIV in Berlin lebt. Zeiten in denen die Zahl der HIV-Neudiagnosen steigt, in der sich mehr Menschen mit Hepatitis C oder Syphilis infizieren.

Andererseits, diese Zeiten sind auch gekennzeichnet von einem Bundesland Berlin in einer immer noch sehr prekären Finanzverfassung. Wo jede neue Verschuldung (nicht unberechtigt) kritisch hinterfragt, oftmals angeprangert wird, muss jede zusätzliche Bereitstellung von Mitteln gründlich geprüft, gut begründet werden.
Nahezu unrealisierbar scheinen Forderungen nach mehr Geld zudem, wenn sich Politiker durchsetzen, die eine „Schuldenbremse“, ein Verbot weiterer Neuverschuldung fordern.

Ein viel wichtigerer Grund des Nachdenkens aber: auch Aids-Projekte, auch HIV-Positive müssen sich der Frage stellen, warum für HIV und Aids im Vergleich zu Rheumatikern, Hepatitis-Infizierten oder anderen Krankheiten auch heute noch verhältnismäßig hohe Beträge aus öffentlichen Geldern bereitgestellt werden.
Warum wird für Aids viel Geld ausgegeben, wenn andererseits für viele andere, auch chronische Erkrankungen kaum Mittel bereit gestellt werden? Eine Frage, bei der wir in der Lage sein sollten, hier mit guten, starken Argumenten zu diskutieren – gerade auch angesichts zukünftiger Debatten.

Vor allem: eine Frage, bei der wir nicht mehr mit Angst, mit Tod, mit dem ‚alten Aids‘ argumentieren sollten. So sehr manche Politiker (und auch manche Aids-Funktionäre, Schwule, etc.) immer noch gerne mit ‚altem Aids‘ argumentieren – die Zeiten, in denen Aids z.B. einem (kurzfristig sich realisierenden) Todesurteil gleicht, sind (zumindest in den Industriestaaten) vorbei. Wer heute noch so argumentiert, wird in eine Sackgasse laufen.

Wenn wir eine Beibehaltung der heutigen Mittelausstattung, gar eine Erhöhung glaubwürdig begründen wollen, sie politisch mehrheitsfähig machen und letztlich durchsetzen wollen, dann sollten wir realistisch argumentieren, auf der Basis des heutigen Aids.

Auf der Basis des heutigen Aids – denn alle Bilder vom ‚alten Aids‘ führen nicht nur in fehlerhafte, widerlegbare, letztlich nicht erfolgreiche Argumentationen. Sondern sie zementieren auch alte, längst überholte Bilder – und begünstigen so die Stigmatisierung von Positiven, der wir eigentlich entgegen wirken sollten.

So sehr manche immer noch den Bildern von Tod und Siechtum, von großer Gesundheits-Katastrophe hinterherlaufen – die heutigen Realitäten sehen anders aus. Sie zu ignorieren, nur der gefälligeren, leichteren, gewohnteren Begründung zuliebe, wäre sträflich. Gute, den Realitäten des heutigen Lebens mit HIV entsprechende Argumente wären stärker. Und nur sie werden auf dauer eine Chance auf Durchsetzbatkeit haben.

mit HIV vogelfrei für die Medien? – Fragen an den Staatsanwalt (akt.)

Eine junge Frau wird unvermittelt verhaftet – und die Medien geraten in Aufruhr, die Schlagzeilen der Titelseiten glühen rot. Aids, Schuld, Gefängnis schreien sie uns an. Als habe es keine jahrelange Aids-Prävention gegeben, werden alte Klischees bemüht – und Präventionserfolge riskiert.

Rufen wir uns zunächst den Sachverhalt in Erinnerung. Einer jungen Frau wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, Sexpartner mit HIV infiziert zu haben. Sie wird verhaftet, mit dem Vorwurf gefährlicher Körperverletzung. Dabei geht es bisher um staatsanwaltliche Ermittlungen – nicht um eine Anklage, geschweige denn um eine Verurteilung. Sondern um einen Verdacht.

Die Medien erfahren von diesen Ermittlungen – von der ermittelnden Staatsanwaltschaft.
Und nicht nur das, der zuständige Pressesprecher der Staatsanwaltschaft gibt darüber hinaus gerade Boulevard-Medien bereitwillig Interviews (Quelle: (1)).

Eine Pressearbeit der Staatsanwaltschaft, die Fragen aufwirft, hier z.B.:
– War es überhaupt erforderlich, die Person festzunehmen?
– Und war es erforderlich, angesichts einer eventuellen Tat, die schon vor Jahren (2004 und 2005) stattgefunden haben soll?

Aber neben dem konkreten Ermittlungs-Verhalten stellen sich erst recht Fragen an die freudige Auskunftsbereitschaft der Staatsanwaltschaft:
– Was macht erforderlich, dass die Staatsanwaltschaft sich in diesem Fall von sich aus aktiv an die Presse wendet?
– Warum war es notwendig, den vollen Namen der betreffenden Person zu nennen?
– War es tatsächlich zwingend notwendig, den HIV-Status dieser Person offen zu legen, und dann gegenüber den Medien? Ist der HIV-Status der beschuldigten Person als Faktum bekannt, oder wurde auch hier nur ein Verdacht an die Medien gegeben?
– Worin besteht der „dringende Tatverdacht“ verbunden mit „Wiederholungsgefahr„, die als Begründung für die plötzliche Festnahme angeführt werden?
– Was hat die Staatsanwaltschaft veranlasst, die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen so völlig hintan zu stellen gegenüber dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit?
– Besteht die Unschuldsvermutung nicht mehr?

Fragen über Fragen, denen sich weitere hinzu gesellen, wie die, ob aktuelle Erkenntnisse in Sachen Infektiosität (EKAF-Statement) überhaupt berücksichtigt wurden, oder die, warum -wenn die Gesundheit der Bevölkerung so wichtig ist- derart lange mit Reaktionen gewartet wurde.

Für die Medien wurde der ‚Fall‘ durch das Verhalten der Staatsanwaltschaft, durch Pressemitteilung und bereitwillige Interviews erst recht zum ‚gefundenen Fressen‘ – und mit zusätzlicher Attraktivität versehen, gab es doch gar Staatsanwälte als Quelle zu zitieren.
Entsprechend gerieren sich Medienvertreter auch, als die Anwälte der Verhafteten sich mit einer einstweiligen Verfügung zur Wehr setzen. Und sich auf die Pressefreiheit berufen.

Der Sprecher der Staatsanwaltschaft Darmstadt, Ger Neuber, kommentierte Kritik am Verhalten der Staatsanwaltschaft kühl mit den Worten „Wir kriminalisieren nicht, wir verfolgen eine Straftat.“
Ganz im Gegenteil, man wolle weiter machen: „“In der konkreten Situation sehen wir uns nach wie vor verpflichtet, den äußeren Tatbestand der Vorwürfe den Medien mitzuteilen.“ (laut taz)

Geraten so Staatsanwaltschaften in Gefahr, sich bewusst oder unbewusst zum Helfer der Medien zu machen – und die Belange, insbesondere die Schutzinteressen der betroffenen Personen, gegen die sie ermitteln, aus den Augen zu verlieren?
Und – beschwören Staatsanwaltschaften nicht so geradezu die Gefahr herauf, dass jegliches faire Verfahren unmöglich oder zumindest erschwert wird, die Unschuldsvermutung ausgehöhlt, der Beklagte in seinen Rechtspositionen beeinträchtigt und das Verfahren vorgeprägt wird?

Oder ist die Staatsanwaltschaft gar nur ganz modern, setzt sich auf den Zug der „litigation PR“ (dem Managen der Kommunikation in rechtlichen Auseinandersetzungen)? Und die Anwälte spielen gar mit, mit ihrer einstweiligen Verfügung, die gerade Boulevard-Journalisten nur noch mehr herausfordern muss?

Der bzw. hier die Dumme im ganzen Vorgang: die Verhaftete mit ihren Persönlichkeitsrechten – und indirekt HIV-Positive und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, sowie die Aids-Prävention.
Oder ist der Staatsanwaltschaft, die kühl sagt “Wir kriminalisieren nicht, wir verfolgen eine Straftat” nicht bewusst, welche Folgen ihr Handeln für das Bild von HIV-Positiven und für HIV-Prävention haben kann? Wie sehr sie Diskriminierung und Stigmatisierung Tür und Tor öffnet?

Ist der Staatsanwaltschaft nicht bewusst, dass sie hier -wie selbst die Deutsche Aids-Stiftung beklagt und die TV-Nachrichten (2) bemerken – potenziell Präventionserfolge gefährdet?

Über Unschuldsvermutung und Persönlichkeitsrechte hinaus – die eigentliche, über den konkreten Fall hinaus weisende Kernfrage lautet deswegen m.E.: seit wann betreiben Staatsanwaltschaften Aids-Prävention?

Was (und wer) legitimiert, vor allem auch was qualifiziert eine Staatsanwaltschaft, sich als Player auf dem Gebiet der Aids-Prävention zu gerieren?

.

(1) Schertz Bergmann Rechtsanwälte: „Einstweilige Verfügung gegen BILD im Fall X“, online auf presseecho.de
(2) ZDF heute journal 16.04.2009
Litigation-PR-Blog 16.04.2009: PR-Periskop I: Bärendienst für X
3A 16.04.2009: HIV-Behandlerinnen fordern sofortige Freilassung von Nadja Benaissa – Inhaftierung unverhältnismäßig
.
auch lesen:
koww 17.04.2005: Keine Gelegenheit auslassen …
Antiteilchen 17.04.2009: Manchmal fragt man sich wer in Bwerlin alles Richter werden darf
alivenkickin 17.04.2009: Der Spießrutenlauf
taz 17.04.2009: Ende der Unschuldsvermutung
SZ 16.04.2009: Intimes, inszeniert und vorgeführt
SZ 16.04.2009: Auf das Wie kommt es an
„Medien können sich doch bei der Entscheidung, was und wie sie berichten, nicht nur von der Frage leiten lassen, was erlaubt ist. Sie müssen sich die Frage stellen, was richtig ist. Und was notwendig ist. Ich weiß nicht, ob es erlaubt war, über den Verdacht gegen eine Sängerin, über ihr Intimleben und ihre HIV-Infektion zu berichten. Aber ich bin überzeugt davon, dass es nicht notwendig war.“ Stefan Niggemeier
Steven Milverton 18.04.2009: HIV in der öffentlichen Wahrnehmung
FAZ 19.04.2009: Der Staatsanwalt in meinem Bett
DAH-Blog 15.05.2009: Deutschland disst den Superstar
.

Kommentar: was lange währt, wird endlich gut – die Präventionsmethode Senkung der Viruslast unter die Nachweisgrenze

Die Deutsche Aids-Hilfe hat ihr Positionspapier „HIV-Therapie und Prävention“ vorgelegt.

„was lange währt, wird endlich gut“ – ein abgegriffener Spruch, und doch, er scheint gut geeignet, zutreffend für das abschließende Positionspapier, das die Deutsche Aids-Hilfe zur Frage der Senkung der HIV-Viruslast unter die Nachweisgrenze und Konsequenzen für den Einzelnen sowie für die HIV-Prävention vorgelegt hat.

„was lange währt, wird endlich gut“
Ja, die DAH hat sich Zeit gelassen. Über 14 Monate sind seit der Publikation des EKAF-Statements vergangen, eines Statements zudem, dessen Inhalte und wesentliche Botschaften zumindest in Fachkreisen schon weit vorher bekannt waren.

14 Monate sind eine lange Zeit, und viele (Positive , Aktivisten, Mitarbeiter/innen in Aids-Hilfen und -Beratungen… ) wurden ungeduldig, drängelten. Andere hingegen betätigten sich mit Verve als Bremser, gar Blockierer, wollten eine -womöglich gar ‚zu positive‘- Stellungnahme verhindern oder doch verzögern.

14 Monate sind eine lange Zeit – die aber vielleicht erforderlich war. Erforderlich, um zu einer überlegten, reflektierten und tragfähigen Position zu kommen. Zu einer Position, die auch in den nun sicherlich neu aufflammenden Debatten argumentiert, begründet werden kann, Bestand haben wird. Und eine Position, die -das darf nicht vergessen werden- auch innerhalb von Aidshilfe(n) tragfähig ist.

Denn Lebens- und Präventions-Realität wird diese Position nur, wenn möglichst viele, HIV-Positive, Ungetestete wie auch HIV-Negative, Aids-Hilfe Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen, Berater und Beraterinnen davon überzeugt sind, überzeugt werden können, dass dies die richtige, die zukunftsweisende Position ist. Dieses Positions-Papier bietet die Voraussetzungen dafür.

was lange währt, wird endlich gut
Gut – diese drei Buchstaben, dieses eine Wort genügen, um das Positions-Papier der DAH im ersten Ansatz zu bewerten.

Es ist gut, denn es prüft das Statement der EKAF,wägt ab – und kommt zu einer eigenen, lang erwarteten Position der DAH.

Gut aber vor allem, weil es neben der reinen Positionierung zwei weitere bedeutende Schritte geht:
Das Positions-Papier setzt sich öffentlich, für jeden nachvollziehbar und transparent, mit Argumenten, mit Für und Wider auseinander, wägt ab, kommt zu einer Entscheidung – und begründet diese.
Vor allem aber: das Positions-Papier bleibt nicht verharren bei der trockenen, abstrakten Position. Es geht vielmehr mutig gleich zwei weitere Schritte: es übersetzt in lebensnahe, den Situationen, dem Lebensalltag, dem Liebes- und Sexleben gerecht werdende Empfehlungen, und es weist den Weg in neue Chancen für die HIV-Prävention.

„Ja, und was heißt das für mich? Für meine Situation?“ – Diese Fragen waren oft zu hören in den letzten Monaten, in vielen Diskussionen über „die EKAF“. Und zumindest die laut geäußerte Antwort lautete meist „nix genaues weiß man nicht“. Das EKAF-Statement blieb das, als was es ursprünglich publiziert wurde, eine Stellungnahme von Medizinern zu Fragen der Infektiosität.

Die Deutsche Aids-Hilfe hat in ihrem Positions-Papier die Stellungnahme der EKAF nun mit ‚Fleisch‘, mit Leben versehen. HIV-Positive, HIV-Negative, Ungetestete in verschiedensten Lebenssituationen, von HIV Betroffene und von HIV Bedrohte, ob schwuler Mann, Hetero mit gelegentlichen ‚Männer-Kontakten‘, Frau mit oder ohne Kinderwunsch, Drogengebraucher(in), Mensch in Haft – sie finden nun lebensnahe, lebensbejahende Empfehlungen, wie das Statement der EKAF, wie die Frage der ‚Präventionsmethode Senkung der Viruslast unter die Nachweisgrenze‘ in ihrem Leben integriert, gelebt werden kann.

Die Chancen des EKAF-Statements nicht nur abstrakt aufzuzeigen, sondern sie in konkreten Empfehlungen lebbar zu machen – das ist das eigentliche Verdienst dieses Positionspapiers.

das gesellschaftliche Trauma Aids überwinden – die eigentliche Chance des EKAF-Statements

Die Debatte um die Stellungnahme der EKAF zur Nicht-Infektiosität erfolgreich therapierter HIV-Positiver schient langsam zu verstummen. Doch reicht es als Stellungnahme zu sagen, Positive sind unter diesen Umständen nicht infektiös? Steckt nicht mehr an Potenzial in der Stellungnahme der EKAF?

Das Statement der Eidgenössischen Aids-Kommission, ein HIV-Positiver sei „ohne andere STD unter einer antiretroviralen Therapie (ART) mit vollständig supprimierter Virämie … sexuell nicht infektiös“ ist nun über ein Jahr alt.

Bei seinem Erscheinen sorgte das Statement der EKAF für heftige Reaktionen, in der Fachwelt aber vor allem auch bei HIV-Positiven.

Inzwischen aber scheint es ruhiger geworden zu sein um das Thema EKAF, sehr viel ruhiger. Die Deutsche Aids-Hilfe hat im Januar 2009 eine Stellungnahme zu EKAF abgegeben, auf den Positiven Begegnungen 2009 wurde EKAF schon nur noch ruhig und distanziert diskutiert. Ansonsten: eher kaum noch Debatte, Ruhe.

Ist in Sachen des Statements der EKAF alles erreicht?
War eine klare Position der DAH alles, was es anzustreben galt?

Nein.
Das Potenzial an Veränderung, das das Statement der EKAF ermöglicht, scheint bisher kaum bewusst. Es reicht wesentlich tiefer.

Um dieses Potenzial des EKAF-Statements zu erkennen, hilft es (so man / frau älter als etwa 45 ist) sich zu erinnern an Facetten schwul-lesbischen Lebens in Zeiten vor Aids – und zu fragen, was Aids daran geändert hat.

Denn Aids war und ist weit mehr als „nur“ eine Epidemie, weit mehr als „nur“ ein medizinisches Syndrom. Aids war immer auch das massenhafte Sterben von Freunden, Bekannten, das massive Verändern schwuler Szenen. Und das Ende eines möglichen schwulen Lebensstils, wie er als Ergebnis der 70er-Schwulen-Emanzipation von nicht wenigen versucht wurde zu leben.

Michael Callen texte damals

„How to have sex in an epidemic,
without being caught up in polemic?“

Doch – es ging und geht um mehr als ’nur‘ Sex. Es geht um Formen schwuler Lebensstile.
Wilhelm Trapp (1) spricht dazu von der

„Aids-Epidemie, die den schwulen Traum von einer erotisch unrestriktiven Gemeinschaft zerstörte.“

Eine Zerstörung, die schwules Leben für viele massiv verändert hat. Trapp fragt später im gleichen Text fragt Trapp

„Ob die ideologisierte Lust sich ohne Aids und Mauerfall anders entwickelt hätte als zum Hedonismus der Love Parade, zum coolen Sexkonsum?“

Die Antwort auf diese Frage scheint müssig, ein auf die Vergangenheit gerichteter Konjunktiv.
Aber hinter seiner Frage verbirgt sich -nach vorne gedacht- ein wichtiger Gedanke:

Was, wenn diese Zerstörung rückgängig gemacht werden könnte?
Wären dann auch Entwicklungen anderer Art (wieder) denkbar?
Wären dann auch wieder Experimente „einer erotisch unrestriktiven Gemeinschaft“ denkbar, lebbar?

Das ist für mich (unabhängig davin, das langfristiges Zeil weiterhin eine völlige Heilung von HIV sein muss) eine der wahren, tieferen Chancen des EKAF-Statements für schwule Szenen – Experimente schwulen Miteinanders wieder unrestriktiver, oder doch weniger restriktiv denk- und lebbar zu machen.

Und – diese Chance betrifft bei weitem nicht nur Menschen mit HIV und Aids – sie betrifft potenziell z.B. die gesamten schwulen Szenen, die aus den Folgen des EKAF-Statetments heraus -so sie denn wollen- neue Freiheiten gewinnen könnten, neue Chancen auf mehr Experimente, weniger Restriktionen und Repressionen, mehr Freiheit.

.

(1) Wilhelm Trapp: Eine sehr heftige Variante des Lockerseins (über: Matthias Frings / Der letzte Kommunist – Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau), in Süddeutsche Zeitung Nr. 55/2009, 7./8. März 2009