Wie wichtig sind uns Erinnern und Gedenken an die an Aids Verstorbenen?

New York gibt sich vielleicht bald einen grossen Park – zur Erinnerung, zum Gedenken, an all die an den Folgen von Aids verstorbenen Bürger. Den New York City Aids Memorial Park. Bravo, möchte man rufen – und zugleich sich vor Scham weg beugen. Vor Scham darüber, wie, in welcher Form wir in Deutschland oftmals der an den Folgen von Aids verstorbenen Mitbürger gedenken.

Nur wenige Städte in Deutschland (unter ihnen Berlin, Frankfurt und Köln) haben überhaupt dem Gedenken der an Aids Verstorbenen gewidmete Orte. Viele Orte haben – nichts. Oder kleine Initiativen, die mit Veranstaltungen gedenken, aber keinen Ort des Erinnerns haben. Die Städte, die einen Ort des Aids-Gedenkens aufweisen können, haben nur selten eine Form gefunden, die mehr ist als die kleine Form. Gedenken und Erinnern an die an Aids Verstorbenen – jenseits der Welt-Aids-Tags-Rituale findet es nur noch selten statt, wird es kaum noch beachtet. Vergessliches Aids?

Michael Jähme fragte im November 2011 “Brauchen wir eine neue Kultur des Erinnerns?“. Die Frage steht immer noch im Raum, einer Antwort harrend.

Ein Aids-Gedenk-Park mitten in Berlin (oder Köln, Hamburg, Stuttgart, München …) – warum nicht? Platz hat die Stadt genug – und allein in Berlin sind Tausende Menschen bisher an den Folgen von Aids verstorben.

Sollten wir die Kampagne für einen Aids Memorial Park in New York zun Anlass nehmen, auch hierzulande neu über Erinnern und Gedenken nachzudenken – und aktiv zu werden?

Was hat Priorität in der globalen Aids-Bekämpfung? Oder: warum geht Michel Kazatchkine ?

Der Chef des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria (GFATM)  Michel Kazatchkine, geht. Und ein neuer, Gabriel Jaramillo, kommt. Ein Wechsel an der Spitze. Nichts weiter – kurze Notiz, kaum weitere Fragen, übergehen zum Tagesbetrieb. Oder?

Man könnte auch Fragen stellen.
Denn – viele Fragen sind derzeit offen.
Wir sollten Fragen stellen – schließlich: beim Globalen Fonds handelt es sich um die international bedeutendste und finanzstärkste Organisation auf dem Gebiet der Aids-Bekämpfung. Dass Bundesentwicklungsminister Niebel keine Fragen stellt, sich (im Gegensatz zur französischen Regierung) eher erfreut über die Demission Kazatchkines zu zeigen scheint, überrascht nicht. Aber: die Beantwortung der Frage, warum ein Chef geht, und welche Hintergründe dazu führten, sollte also auch Aids-Organisationen und Menschen mit HIV / Aids interessieren – gerade beim Globalen Fonds.

Michel Kazatchkine selbst verhält sich diplomatisch, sagt nicht viel zu den Beweggründen seines Rücktritts (nachdem sein Vertrag erst vor einem Jahr um weitere drei Jahre verlängert worden war). Er respektiere die Entscheidung des Fonds, einen Direktor für die Transformation einzusetzen. Er habe lange über die Konsequenzen für sich und für die Organisation nachgedacht und sei zu dem Schluss gekommen, dass es für ihn angesichts dieser Situation unmöglich sei, auf seinem Posten zu bleiben.

„En novembre, le Conseil d’administration a décidé de nommer, sous son autorité directe, un Directeur général chargé de superviser la mise en œuvre du Plan de transformation. Je respecte cette décision et je ne doute pas qu’elle ait été prise dans l’intérêt du Fonds mondial. J’ai longuement réfléchi à ses conséquences pour moi et pour l’organisation. Je  suis venu à la conclusion qu’il m’était impossible, dans ces circonstances, de rester à mon poste.“

Einzig ein Rücktritt weil er sich übergangen fühlt, brüskiert gar davon, einen Supervisions-Manager der ‚Transformation‘ zur Seite gestellt zu bekommen?

Geht er – oder wurde er gegangen?
Letzteres wurde von der französischen Zeitschrift ‚Marianne‘ angedeutet, im Kontext der ‚Carlagate‘-Vorwürfe um die zweifelhafte Verwendung von Aids-Geldern. Hillary Clinton selbst solle seinen Rücktritt gefordert haben. Der Fonds dementiert einen Zusammenhang.

Geht er – weil der Globale Fonds mehrfach ins Gerede gekommen ist wegen unklarer Mittelverwendung? Weil Deutschland und Schweden Zahlungen stoppten? Weil eine Fonds-interne Arbeitsgruppe eine Verschärfung interner Kontrollen forderte?

Oder liegt ein Hintergrund in dem, was sowohl Kazatchkine als auch der Fonds selbst (in seiner Pressemeldung zur Benennung Jaramillos) als „Transformation“ bezeichnen? Der Fonds spricht von einem „Consolidated Transformation Plan“ und

„changes to risk-management, governance and oversight to ensure the institution manages donor resources as efficiently and safely as possible“.

Und der neue Direktor Jaramillo beschreibt seine Aufgaben bei dieser ‚Transformation‘ selbst mit den Worten

„My priorities at the Global Fund are to achieve maximum efficiency, accountability and concrete results that save lives. … In essence, we will start with a reorganization that emphasizes simplicity, discipline and rigor, with grant-management as the core activity of the institution.“

Effizienz, Zurechenbarkeit, Haftungsfragen, Zuwendungs-Management – Begriffe, die Minister Niebel sicher gerne hört.

Begriffe die auf eine weitere Frage weisen:
Steht im Hintergrund ein beabsichtigter Wechsel der Strategie des Fonds? Kazatchkine selbst soll derlei angedeutet haben, Anfang diesen Jahres auf einer Veranstaltung des französischen außenpolitischen Monats-Magazins ‚Le Monde diplomatique‘. Er warnte einem Pressebericht zufolge  vor einer „zu amerikanischen Strategie des Fonds, ausgerichtet auf die Wünsche und Bedürfnisse der Geberländer“. Wohlgemerkt, Interessen der Geberländer – nicht der Empfängerländer, der Staaten, in denen Aids bekämpft, Menschen mit HIV unterstützt werden sollen.

Könnte dieser Wechsel seinen Ausdruck auch darin finden, dass statt des klinischen Immunologen Kazatchkine nun – ausgerechnet ein Mann der Finanzwelt, ein jahrzehntelanger Banker benannt wurde?

Ist ein Mann der Finanzwelt – wie ACT UP Paris fragt – gerade jetzt der richtige an der Spitze der mittelstärksten Aids-Hilfsorganisation weltweit? Sind Management-Praktiken wie verbessertes Risikomanagement oder Zuwendungsmanagement tatsächlich die Kern-Aufgaben und zentralen Kompetenzen, die derzeit benötigt werden, und die an der Spitze des Globalen Fonds benötigt werden, um den internationalen Kampf gegen Aids (der beginnt erste deutlich sichtbare Früchte zu tragen) erfolgreich fortzusetzen?

Oder bräuchte der Kampf gegen Aids, bräuchten die Millionen Menschen mit HIV weltweit nicht gerade jetzt einen Fonds, der – auch und gerade in der Position seines Direktors – ihre Interessen und Lebensbedingungen in den Vordergrund stellt?
Bräuchten die Millionen HIV-Infizierten, Malaria-Kranken, Tuberkulose-Kranken nicht einen Direktor des ‚Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose‘, der bereit ist, statt Rentabilität, Patenten, Pharmaindustrie und Geberländer-Interessen die Priorität auf der Verbesserung der Qualität der Maßnahmen des Fonds zu setzen, auf den Nutzen für die Menschen – die Millionen Menschen, die mit HIV leben oder davon bedroht sind, mit/von Malaria oder Tuberkulose?

Der Rücktritt Kazatchkines wirft Fragen auf, weit mehr als eine.
Wir täten gut daran, nachzuforschen, nachzufragen.
Nach dem Warum, nach den Hintergründen des Rücktritts.

Fragen danach, was hat zukünftig Priorität im weltweiten Kampf gegen Aids?
Interessen der Geberländer oder der Empfängerländer?
Rentabilität der Mittel oder Nutzen für möglichst viele Infizierte und Erkrankte?
Wir sollten nachfragen.
Im Interesse der Menschen mit HIV, Malaria und Tuberkulose – hier und weltweit.

 

Positiv – na und ?

1981 veröffentlichte der Hamburger Schwulen-Aktivist und Autor Thomas Grossmann ein Taschenbuch unter dem programmatischen Titel „Schwul – na und?“. Ein Bändchen, das bald eine gewisse Bekanntheit erreichte, und das mit „Beziehungsweise andersrum“ 1986 eine Fortsetzung fand (darin, nebenbei bemerkt, u.a. auch ein Interview mit mir).

Damals, Mitte der 1980er Jahre, behagte mir der Titel von Grossmanns erstem Band nicht sehr. Ja, ich engagierte ihn direkt für eine Veranstaltung – in der Kleinstadt war das ein guter Weg, das Thema wie auch unsere neu gegründete Schwulengruppe bekannt zu machen. Aber dieses „na und?“, musste das sein? Klang es nicht fast entschuldigend? Mir schien der Titel damals zu defensiv, schien zu wenig eine offensivere Haltung auszudrücken.

„Sing, if you’re glad to be gay„, die Tom Robinson Band (TRB) drückte in ihrem Lied von 1976/78 (einer zu unrecht bei Schwulen in Deutschland in Vergessenheit geratenen Hymne schwulen Lebens zu Beginn der 1980er Jahre) mein Lebensgefühl viel eher aus. Ja, ich war stolz, schwul zu sein, endlich offen schwul. Wollte etwas unternehmen gegen die, die uns weiterhin unterdrücken woll(t)en. Und es machte mir einen Heidenspaß, mein Schwulsein auszuleben, meine mühsam errungene Freiheit in jedem Zug zu genießen. Grossmanns „na und“ – es schien mir damals eher einen verdrucksten, beinahe verklemmten Unterton zu haben.

Erst Jahre später entdeckte ich, dass dieses „na und“ auch anders lesbar ist.
Dass es eine wunderbare Gelassenheit, Unaufgeregtheit ausdrücken kann.
„Na und, stört dich irgendwas daran? Mich nicht …“

Wenige Jahre nach Erscheinen gerieten Grossmanns Bändchen in meinem Bücherschrank ein wenig in Vergessenheit. Die Aids-Krise überrollte uns. Auch ich wurde irgendwann von der (Schwulen-) ‚Bewegungsschwester‘ zum ‚Aids-Aktivisten‘. Jüngst kam Grossmanns „Schwul na und“ wieder zum Vorschein. Und erinnerte mich, an damals, an schwule Bewegungen, an mein Lebensgefühl damals, auch an die Aids-Krise, an die „schlimmen Jahre“.

Was sich alles verändert hat. Auch im Leben mit HIV und mit Aids. Der ‚grosse Horror‘ wie ich ihn Ende der 1980er / Anfang der 90er empfand ist (in den wohlhabenden Industriestaaten) nicht mehr. Das Leben besteht auch für HIV-Positive aus so viel mehr als Helferzellen und Viruslast.

Ist es nun an der Zeit auch zu sagen „Positiv – na und?“

„positiv – na und“ wäre Ausdruck eines Umgangs mit mir selbst, einer Haltung, einer Selbst-Sicht. Einer Sicht, die dabei nicht negiert, dass Positive weiterhin diskriminiert, stigmatisiert, kriminalisiert werden. Einer Sicht die vorher fragt, wie sehe ich mich selbst, wie gehe ich mit mir um – und wie bewege ich mich dann damit in der Gesellschaft

„positiv – na und?“ – das hieße dann auf einer persönlichen Ebene vielleicht: ‚ja, ich habe HIV. Ich mache mir Gedanken darüber, was das für mich und mein Leben bedeutet. Aber ich mach kein Drama draus. Gehe verantwortlich mit mir und meinem Mitmenschen um. HIV steht nicht im Mittelpunkt meines Menschseins. Und es definiert mich nicht – ich definiere mich nicht darüber, und ich will darüber auch nicht von anderen definiert werden. Ich mach‘ kein Drama draus – mach du es auch nicht.‘

Ist es dann – gerade auch in diesem Sinne – an der Zeit, all jenen, die meinen immer noch Menschen mit HIV diskriminieren und stigmatisieren zu können, ein beherzt selbstbewusstes „positiv – na und?“ zu entgegnen? Und zwar zahlreich?

„positiv – na und?“ – das könnte dann in diesem Sinne sagen „Ich bin HIV-positiv. Na und? Hast du ein Problem damit? Dann löse es selbst. Kümmere dich um  dein Problem – und mach es nicht zu meinem. Halse es mir nicht auf. Denn ich komm damit ganz gut klar. Ich bin HIV-positiv – na und?“

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siehe auch
Termabox 278.01.2012: Selbstverständlich positiv – meine „Positive Stimme“
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Schock zu Neujahr: Tausende absichtlich mit HIV infiziert – oder doch nicht? Über Schlagzeilen und Wahrheitsgehalt

„Irrer Ami steckte Tausende mit HIV an“, mit dieser grellen Schlagzeile schreckt die Zeitung mit den grossen Buchstaben und dem fragwürdigen Verhältnis zur Wahrheit ihre Leser/innen ins Neue Jahr. Und erläutert „Seine kranke Mission: So viele Personen wie möglich zu infizieren und so umzubringen.“

Ein 51jähriger (mit vollem Namen genannter und mit Foto abgebildeter) Mann aus dem US-Bundesstaat Michigan solle, so das Blatt, seit drei Jahren versucht haben, „durch absichtlich ungeschützten Sex“ Tausende mit HIV zu infizieren. Über das Internet habe er sich „an seine ahnungslosen Opfer herangemacht“, „junge Frauen und … auch Männer“.

Einem weiblichen „mutmaßlichen Opfer“ gegenüber, das sich in einem US-Fernsehsender geäußert hat, habe er zugegeben, „dass er mit 3000 Frauen und Männern ungeschützten Sex hatte“.

Das ist ja fürchterlich! Wir erschrecken maßlos, sind angewidert, fassungslos – oder?
Halten wir inne, denken ein wenig nach. Nur ein klein wenig.

Überlegen wir einmal:

  • Drei Jahre – das macht 1.095 Tage. Der Mann müsste also, sollte er tatsächlich wie behauptet innerhalb der letzten 3 Jahre „Tausende infiziert“ haben, täglich mehrmals Sex gehabt haben, und das jeden Tag, sonn- wie werktags, ohne Unterbrechung, ohne Krankheit, ohne Tage sexueller Untätigkeit.
  • Doch nicht nur das, jeder Sex-Kontakt müsste auch gleich zur Übertragung von HIV geführt haben.
  • Dass dies nicht der Fall ist, bemerkt sogar das Blatt selbst: „er ist in zwei Fällen angeklagt, in denen es ihm allerdings nicht gelang, das lebensgefährliche Virus zu übertragen.“
    Eine HIV-Übertragung erfolgt nicht etwa bei jedem ungeschützten Sex – der Mann hätte, um wie behauptet „Tausende mit HIV angesteckt zu haben“ wohl mit Zehntausenden Sex haben müssen, innerhalb von drei Jahren. Was selbst bei großer Promiskuität eine beachtliche Leistung wäre.
  • Und – vergessen wir nicht, zu einer sexuellen Übertragung von HIV gehören immer (mindestens) zwei Personen. Zwei Personen, die beide keine Schutz-Vorkehrungen wie zum Beispiel die Verwendung von Kondomen ergreifen. Beide sind hierfür verantwortlich – nicht allein eine etwaig mit HIV infizierte Person.
  • Denn – ob der US-Amerikaner tatsächlich mit HIV infiziert ist, oder nur HIV als Vehikel für eine grossspurige Wichtigtuerei nimmt, verschweigt der Artikel ebenfalls.
  • Ganz außer Acht gelassen haben wir dabei bisher die Frage, ob der HIV-Positive antiretrovirale Medikamente nimmt – dies hätte wie bekannt im Fall erfolgreicher Therapie das Risiko einer HIV-Übertragung drastisch gesenkt (siehe „keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs„).

Eine letzte Frage noch: wie viele Menschen hat er nun infiziert?
„Bislang wurden zwei seiner Opfer identifiziert“, vermerkt der Artikel an unauffälliger Stelle mitten im Text. Sind es genau die zwei Fälle, in denen es – wie der Artikel ebenfalls vermerkt – „nicht gelang“, HIV zu übertragen?
Es bleiben – statt der behaupteten „Tausende“ zwei bis null Fälle einer HIV-Übertragung. Und eine grelle Schlagzeile, von deren überprüfbarem Wahrheitsgehalt wenig bleibt.

Ist eine aufmerksamkeitsheischende schreiende Schlagzeile alles wert?

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Nachtrag:
Immer wieder werden Geschichten von absichtlichen HIV-Infektionen und Horror-Zahlen kolportiert. Bei genauem Nachsehen erweisen sie sich fast immer als substanzarm oder substanzlos.
Schon ZDFneo suchte vergeblich nach Männern, die andere Männer absichtlich mit HIV infizieren wollen – und fand nichts. Es blieb damals Bugchasing: viel neo-Lärm um nichts.
Die gerne behauptete ’neue Sorglosigjkeit‘ ist längst als Mythos entlarvt. Ebenso ein Mythos: die Geschichten vom verantwortungslosen Positiven.
Und auch die ‚Ausrede‘ der vermeintlich guten (präventiven) Absicht greift nicht, denn längst ist gezeigt: Schock-Prävention wirkt nicht.

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Bild.de 01.01.2012: ‚Er wollte mit AIDS töten – Irrer Ami steckte Tausende mit HIV an‘
dailymail 31.12.2011: „‚I’m turning myself in, my life is over‘: HIV-positive man ‚infected hundreds‘ after setting out to pass on virus to as many as possible“

HIV-Neuinfektionen gehen zurück – Prävention lohnt sich, und Mythen bleiben Mythen

Die Zahl der HIV-Neuinfektionen sinkt deutlich. Und auch bei schwulen Männern zeigt sich ein deutlicher Rückgang. Erfreuliche Daten, die das RKI kurz vor dem Welt-Aids-Tag 2011 vorstellt. Daten, die deutlich zeigen, dass Prävention wirkt – und dass ihre Rahmenbedingungen stimmen müssen.

Prävention lohnt sich

So einfach die Botschaft „Prävention lohnt sich“ auch klingt, die nun vorgestellten Zahlen belegen erneut eindrücklich die Wichtigkeit dieser Aussage.

Und: gerade auch Mittel für zielgerichtete Prävention, wie sie die Aidshilfen seit einiger Zeit z.B. für Schwule und Männer die Sex mit Männern haben, mit der Kampagne „ich weiss, was ich tu!“ betreibt, sind gut angelegte Mittel. Diese Mittel zu reduzieren, wäre sträflicher Leichtsinn. Mittel für die Prävention sind gut angelegte Mittel – auch in Zukunft.

Mythen bleiben Mythen

Mythen blieben im Aids-Bereich das, was sie sind: „sagenhafte Geschichten“. Auch ihr gebetsmühlenartiges Wiederholen macht sie nicht wahrer.

Die (immer wieder gern kolportierte) „neue Sorglosigkeit“ – sie bleibt ein Mythos ohne Grundlagen und Belege – sonst sähen die Daten zu Neuinfektionen und Neudiagnosen anders aus. Ebenso unwahr wie der Mythos der verantwortungslosen Schwulen. Und ebenso unwahr wie der Mythos vom verantwortungslosen Positiven.

Wir (gerade auch: Positive, Schwule, schwule Medien) sollten aufhören, derartige Mythen weiterhin zu bedienen und zu transportieren. Und wir sollten uns ihnen entgegen stellen. Ihre Substanzlosigkeit aufzeigen. Ihnen Fakten entgegen stellen – wie die heute vorgestellten sinkenden Zahlen der HIV-Neudiagnosen.

Wirksame Therapie ersetzt keine Prävention

Wirksame antiretrovirale Therapie kann die Infektiosität HIV-Positiver drastisch reduzieren – diese Erkenntnis ist spätestens seit dem EKAF-Statement (keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs) vom Januar 2008 breit bekannt – und von der DAH seit April 2009 mit der Viruslast-Methode in einem Positionspapier umgesetzt. Mit diesem Effekt leistet die Therapie auch einen bedeutenden Beitrag zur HIV-Prävention.

Therapie allerdings kann Prävention nicht ersetzen. Es bedarf auch weiterhin wirksamer HIV-Prävention, insbesondere in und für die von HIV am stärksten bedrohten Gruppen.

Und – Therapie darf niemals ausschließlich dem Aspekt der Prävention dienen. Im Vordergrund muss immer die individuelle (medizinische wie auch soziale) Situation des HIV-Positiven stehen.

Der Rahmen muss passen – Prävention und Therapie sind nicht alles

Die beste HIV-Prävention kann nur wirken, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, gesellschaftlich wie auch politisch:

Für Drogengebraucher heißt wirksame HIV-Prävention auch: verfügbare Methadon-Programme, Druckräume und Spritzen-Tausch-Programme.

Für Menschen in Haft heißt wirksame HIV-Prävention auch: Kondome und saubere Spritzbestecke müssen auch im Strafvollzug verfügbar sein. Ebenso selbstverständlich antiretrovirale Medikamente für HIV-positive Strafgefangene.

Für alle heißt dies: testen lassen auf HIV wird sich nur, wer nicht anschließend an einen etwaigen positiven HIV-Test Diskriminierung und Stigmatisierung befürchten muss, oder gar den Staatsanwalt. Wirksame HIV-Prävention muss sich zugleich auch gegen Diskriminierung und Stigmatisierung HIV-Positiver engagieren.

Diskriminierung und Stigmatisierung HIV-Positiver ebenso wie die Kriminalisierung der HIV-Übertragung beeinträchtigen, ja gefährden den Erfolg von HIV-Prävention. Engagement gegen Stigmatisierung, Diskriminierung und Kriminalisierung müssen selbstverständlicher Bestandteil von HIV-Prävention sein. Debatten in jüngerer Zeit lassen zudem hoffen, dass auch ein sich veränderndes Selbstbewusstsein mancher HIV-Positiver dazu beiträgt, ihnen den Boden zu entziehen.

Wieviel Betroffenheit braucht es für die Arbeit in Aidshilfe

Mein politischer Ziehvater in Aidshilfe war Hans Hengelein, der erste HIV-Referent der Deutschen Aids Hilfe. Beschwerden darüber, dass ich mich nicht in die Opferrolle begeben habe, mich von Aidshilfen nicht klientelisieren ließ und dem sozialarbeiterischen Blick oder den angeblichen Präventionsnotwendigkeiten meine Erfahrungen und die Teilnahme an Diskursen entgegengesetzt habe, sind an ihn zu richten. Seine Erfahrungen aus der Krüppelbewegung, die im Alltag mit Widrigkeiten zu leben hat, von denen der gewöhnliche Homosexuelle sich keine Vorstellung macht, waren für mich ebenso hilfreich, wie Gespräche mit meinen schwerstbehinderten Freundinnen und Freunden aus meinem beruflichen Alltag als Fachanwalt für Sozialrecht.
Für meinen aidspolitischen Werdegang waren die Aidshilfen in Frankfurt und Marburg entscheidend mit ihrem unbedingten Anspruch auf Selbstbestimmung, sei es nun bei Drogengebrauch, Sexarbeit, schwulem oder positivem Leben oder aber auch bei der einfachen Frage, ob man dem gemeinen Homosexuellen, wie übrigens damals schon bundesweit vielen Mitarbeitern der Aidshilfe, den Zugang zum Test ermöglichen sollte oder dem Bundeskonsens entsprechend ihm die Mündigkeit dafür absprechen und tunlichst ein Testverbot verhängen sollte.
Unser Herzblut galt nicht nur den Szenen, denen wir individuell zugehörten sondern denjenigen, denen es in der Aidskrise am Dreckigsten ging. Sie zu ermutigen, unter dem Dach der Aidshilfe Selbsthilfe zu betreiben, wie das bei J.E.S. sehr schön gelungen ist, war uns allen ein gemeinsames Anliegen, Frauen und Männern, schwul, heterosexuell und vereinzelte Transgender.

Gegen die Stellenbesetzung des HIV Referates mit einer HIV-positiven Frau gab es es aus Reihen der Aidshilfen Kritik. Diese Stelle müsse der Epidemiologie folgend von einem schwulen Mann besetzt werden. Anmerkung dazu: auch das wäre keine Repräsentanz des schwulen Lebens in Form eines Abbildes sondern ein winziger Ausschnitt aus einer Vielfalt schwuler Lebensstile.
Bei einer Stellenbesetzung spielen Fragen der fachlichen und sozialen Kompetenz eine zentrale Rolle. Deren Beurteilung unterliegt dem Einstellungsgremium und ist als Personalentscheidung nicht zu erörtern.

Interessant für den Verband ist die Frage, stimmt der Einwand, in das Positivenreferat gehöre eine schwule Leitung?   Die Fragen, die dort zu bearbeiten sind, sind erst einmal nichts Geschlechtsspezifisches. Kriminalisierung der HIV -Infektion, Arbeiten und Altern mit HIV, sexuelle Umgangsformen, soziale Not. In den großen Themen sind es dann die Differenzierungen, die bedeutsam werden. Sexuell stellt sich die Welt für einen schwulen positiven Mann völlig anders dar als für eine heterosexuelle Frau. Gay Romeo, eine Szene mit einem großen Anteil von Männern, die sich auch auf positive Partner einlassen, können heterosexuell infizierten Menschen auf ihrer einsamen Insel nur vorkommen wie der erste Besuch des selbstversorgenden Einsiedlers im Berliner KaDeWe. Fragen des Coming out und going public stellen sich für Frauen mit kleinen Kindern anders dar, als für den allein lebenden schwulen Mann. Auch wenn scheinbar der Betreungsalltag der Aidshilfen mit einem hohen Anteil infizierter Frauen das zu widerlegen scheint, finden Frauen nur schwer den Weg zur Aidshilfe. Sie wird immer noch als schwul und drogenaffin wahrgenommen, wobei man den der schwulen Aidshilfe heute wenigstens zugesteht, sie könnte ihren Job auch für eine heterosexuelle Welt gut erbringen. Auch wenn ich in Aidshilfe, nicht nur der Epidemiologie folgend, dem Schwulen und dem Drogengebrauch eine zentrale Bedeutung zuerkenne und das auch will, ändert das nichts daran, dass im infizierten Leben, die Rahmenbedingungen für Heterosexuelle für einen selbstbewussten und selbstverständlichen Umgang mit der Infektion deutlich schlechter sind. Das liegt an der epidemiologischen Verteilung, die die Vereinzelung fördert.
Welche Betroffenheit braucht es in Aidshilfe?
Macht es einen Unterschied, ob man nun schwul, lesbisch oder im scheinbaren Niemandsland des Transgender groß geworden ist,. Erfahrungen psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt zu verarbeiten hat? Der Möglichkeiten der Schädigungen oder Biografien mit erhöhter Verletzungsgefahr bestehen viele. Sie eint der Bruch in den Biografien. Dazu gehört der Zwang, Wertesysteme zu überprüfen und teils zu verwerfen, das Selbstbild zu verändern, zu erweitern, Genauso wie ich von einem guten Psychologen erwarte, dass er nachfühlen kann, was Schmerz, Wut und Trauer sein können, erwarte ich in der Aidshilfe das Nachfühlen können des Andersseins. Auch wenn dies auf der Oberfläche sozialen Handelns nicht immer sichtbar ist, ist Empathie doch immer spürbar, leider auch die fehlende. In Bereichen, die in das Leben anderer Menschen hineinwirken, wünsche ich mir Menschen, die Brüche für sich bearbeitet und kreativ genutzt haben, die Leben als etwas Dynamisches betrachten und eher ein halb volles als ein halb leeres Glas vor sich sehen. .

Wie viel Selbsthilfe braucht es darin?
Anfang der neunziger während meiner Mitarbeit im ersten mehrheitlich offen positiv lebenden Vorstand der DAH war das Positivenreferat neu zu besetzen.Wir hatten damals konzeptionellen Diskussionsbedarf und dies auch mit den Verteter_innen einer Gruppe eines Tagungshauses tief in den Wäldern kommuniziert – auch um sie in den Diskurs einzubinden. Kurz danach setzte eine kleine Kampagne ein, in der uns vorgeworfen wurde, wir mäßen der Stelle keine Bedeutung bei, wollten sie vielleicht sogar abschaffen, sie müsse sofort besetzt werden. Da meldete sich eine Selbsthilfe zu Wort, die nicht sehen wollte, dass auch wir Selbsthilfe waren. Nach der Erfahrung müsste man die Frage vielleicht anders stellen? Welche Selbsthilfe braucht es darin? Und da gibt es für mich heute nur eine Antwort drauf, wir brauchen eine Vielfalt von Menschen und Erfahrungen, die respektvoll an den Diskursen teilnehmen, von der Selbsterfahrungsgruppe , bis zu den öffentlich exponierten Gestalten.

Wie viel Epidemiologie braucht es darin?
Bei Fachstellen wünsche ich mir eine besondere Nähe zum Arbeitsfeld. Das Schwulenreferat und die Ich Weiss Was ich Tu Kampagnenabteilung sind zu Recht mit Männern besetzt, die das schwule Leben kennen. Vom Drogenreferat erwartet man billigerweise Erfahrungen im Umgang mit berauschenden Substanzen, in der Migration die Erfahrung damit, wie es sich anfühlt, als zugewandert und fremd etikettiert zu werden und auch das Positivenreferat darf nicht beliebig besetzt sein. Erfahrung in Selbsthilfe ist unverzichtbar. Ob dies in positiver, schwuler Selbsthilfe, in Krüppelbewegung oder Migrationszusammenhängen ist, halte ich nicht für entscheidend. Die Erfahrung des Behindert- Werdens ist das Prägende.

Auch wenn Personalentscheidungen der öffentlichen Diskussion entzogen sein sollten, so sei doch eine kleine Lobhudelei gestattet. Ich begrüße ausdrücklich, dass es der Deutschen Aids Hilfe gelungen ist, mit Heike Gronski eine seit vielen Jahren durch einen sexuellen Kontakt infizierte Frau für die Stelle der Positivenreferentin zu gewinnen. Damit wird gegen manches lange gehegte falsche Urteil deutlich, dass die Aidshilfen auch für Hetereosexuelle mit Fragen und Unterstützungsbedarf beim Leben mit HIV und Aids offen stehen. Heike hat weitreichende Erfahrungen in Selbsthilfe, Aidshilfe auf lokaler und Landesebene und im Knüpfen von Netzwerken. Bei ihrer beruflichen Biografie befürchte ich nicht, dass beim Detailblick auf die großen Themen schwule Männer, Migranten oder Drogen gebrauchende Menschen nun zu kurz kommen, erhoffe mir aber, dass die Situation infizierter Frauen und heterosexueller Männer stärker in den Blick gerät.

Ich wünsche ihr viel Erfolg und eine konstruktive Zusammenarbeit mit den Aidshilfen und der Selbsthilfe darin.

HIV-Stigma – das „goldene Ticket“ für die Rückkehr in den Schoß der Gemeinde ?

Diskriminierung und Stigmatisierung sichtbar machen – ist das ein positiver Ansatz? Oder ist sie ein weiterer Schritt im Opfer-Dasein? Gar das „goldene Ticket für die Rückkehr in den Schoß der Gemeinde“? Die Festschreibung des Sonder-Status?

Ein Gast-Kommentar von Manuel Schubert, Autor des Blogs „Immunantwort„:

HIV-Stigma – das „goldene Ticket“ für die Rückkehr in den Schoß der Gemeinde ?

Im Regelfall prallt die Präventionsreklame an mir ab. Ausgenommen die Aktion „Positive Stimmen“. Der neueste Streich der Deutschen Aids Hilfe brachte mich tatsächlich ins Grübeln. Stark verkürzt hören sich bei diesem Projekt Menschen mit HIV gegenseitig dabei zu, wie sie über schlechte Behandlungen aufgrund ihres Virus berichten. Aus dem gesammelten Material wird anschließend der sog. „PLHIV Stigma Index“ (neudt.: „People living with HIV Stigma Index“) destilliert. Der soll abbilden, inwieweit und wo auf der Welt Menschen mit HIV diskriminiert werden bzw. aufgrund der Abstempelung als „positiv!“ Leid und Benachteiligungen erfahren. Das Projekt rühmt sich einer Besonderheit: Man verfährt nach den sog GIPA-Prinzipien („Greater Involvement of People Living with HIV/ Aids“), auf gut deutsch: Von Positiven für Positive. Wendet man eine kontroverse Lesart an, dann sind die „Positiven Stimmen“ der Kinderteller, den „uns“ die Präventionsinstanzen ausnahmsweise gewähren. Für mich riecht das irgendwie nach Entmündigung durch die Hintertür. Aber vielleicht missverstehe ich da auch nur etwas.

Sprechen ist jedenfalls angesagt bzw. das Antworten auf Fragen, die positive Interviewer ihren positiven Interviewten anhand eines standardisierten Fragebogens (sic!) stellen. Ferner Sinn des Ganzen ist die Absicht, mit dem sich hoffentlich(?) abzeichnenden Bild von der Schlechterstellung infizierter Menschen, „langfristig“ in Politik und Gesellschaft intervenieren zu können. Klingt nett. Wer diese Interventionen letztlich vornimmt, sei dahin gestellt. Ebenso, ob die „GIPA“ Prinzipien dann gelten.

„Positive Stimmen“ trägt, das D- und das S-Wort trophäenartig vor sich her: Diskriminierung und Stigmatisierung. Die Sprachdatenbank der Uni Leipzig kennt für das D-Wort 12 Synonyme, darunter „Missachtung“ und „Benachteiligung“. Ganz egal ob Versicherungen, Arbeitgeber, Chatpartner oder Richter – Menschen mit HIV im Blut schlechter zu behandeln als vorgeblich „gesunde“ Menschen, ist in westlichen Industriestaaten gängige Praxis. Schnell geraten dabei neben dem persönlichen Respekt auch Grundrechte unter die Räder. Die Frage nach Diskriminierung lässt sich relativ schnell beantworten. Die Antwort ist so mannigfaltig, wie die „Täter der Diskriminierung“ vielgestaltig sind. Und so wie sich deutsche Juden in schöner Regelmäßigkeit für die „Machenschaften“ der israelischen Regierung(-en) rechtfertigen sollen. Genauso oft dürfen sich Positive anhören, dass die Krankenkassen Verletzungen aus Extremsportarten ja auch nicht mehr bezahlen. Der einzig „positive“ Aspekt an Diskriminierung: Sie ist häufig so dermaßen dämlich und offenkundig plump, dass sie sich schnell identifizieren lässt. Sich dagegen dann auch wehren zu können, steht wiederum auf einem anderen Blatt. Ob Kampagnen wie die „Positiven Stimmen“ hier hilfreich sind, sei erheblich bezweifelt. Ich würde politisch progressive, lautstarke und von Fördermitteln unabhängige Interessenvertretungen bevorzugen.

Beim S-Wort ist die Sache schwieriger. Was ist ein Stigma – in Bezug auf HIV und unter Fortlassung der historischen Wurzeln des Begriffs? Ist die Ordnungsnummer der Ärzte und Krankenkassen für HIV „B24 G“ schon Stigma, oder nur eine Kennziffer im Abrechnungswesen? Ist die Phrase „poz“ für positiv schon ein Stigma, oder einfach nur Slang unter schwulen Positiven? Erneut gefragt: Wie definiert man das „HIV-Stigma“? Und vor allem: Wer definiert es? Jeder Infizierte erfasst den Umstand des Virus im eigenen Blut anders.

Nicht wenige scheinen das Wunschdenken der Prävention vollkommen geschluckt zu haben und sind seit dem „Un-Fall“ der Infektion erstarrt. Sie reagieren mit Selbstvorwürfen oder Verstecken. Andere können mit HIV nur aus einer Opferhaltung heraus umgehen, die wiederum oft mit einer Betonung der eigenen Sonderrolle einhergeht, welche häufig auch noch institutionalisiert wird. Beide Typen, nennen wir sie den „gescheiterten Präventionsgläubigen“ und „das Opfer“, haben meiner Meinung nach ein vordringliches Interesse an der Definierung des Stigma-Begriffs. Die nicht infizierte Gesellschaft ist ihr Ziel oder vielmehr deren Anteilnahme und Aufmerksamkeit. Das HIV-Stigma als „Golden Ticket“ für die Rückkehr in den Schoß der Gemeinde. Was paradox klingt, wird durch Aktionen wie die „Positiven Stimmen“ und Worthülsen wie das „GIPA“-Prinzip auf erschreckende Weise schlüssig.

Doch was soll hierbei für ein Index herauskommen? HIV+, 38, beschimpft in München! HIV+, 22, gemieden in Berlin! HIV+, 41, verurteilt in Rostock? HIV+, 52, arbeitslos in Duisburg? Oder eher so: „Die Deutschen malträtieren ihre Positiven besonders effektiv mit Isolation, Rechtssprechung und gezielter Warnung vor dem Rauswurf aus der Solidargemeinschaft.“ Tauchen wir dann in einer „Hotlist“ von UNAIDS auf – Deutschland, Platz 3 in der Kategorie Psychoterror gegen Positive? Nein, bestimmt nicht. Dieses Volk ist ja so leidenschaftlich gerne Weltspitze. Ergo wird vor Veröffentlichung der Hotlist noch schnell die Gesundheitsversorgung von HIV auf 100% Selbstbeteiligung umgestellt und der Hartz4-Anspruch für Positive gestrichen – damit ist der erste Platz gesichert.

Nochmal: Was soll das werden? Ein Atlas der Schande? Wie viele solcher Atlanten braucht dieses Land noch? Das Suhlen in der eigenen Schande als deutscher Fetisch? „Der deutsche Fetisch – jetzt neu, auch in der Version für HIV! Zusammengestellt von unseren versierten Autoren.“ Werkzeuge stumpfen ab, nutzt man sie zu oft. Und welchen Nutzen hat dieser Atlas, wenn er nur aussagt, dass ich nirgendwo ein zu Hause habe? Ich kann mit den „Positiven Stimmen“ nichts anfangen! Meine Stimme ist nicht „positiv“, sie ist nur die des Manuel Schubert. Ja, der ist auch HIV-positiv und ja, das sogar sehenden Auges. Kein persönliches Scheitern, kein Opfer von jemandem. Aber er ist deswegen noch lange keine „positive“ Stimme, schon gar nicht im Sinne der institutionalisierten Prävention. Nein, in deren Sinne ganz bestimmt nicht!

Ich habe als deutscher Staatsbürger eine Stimme und gehe zu jeder Wahl. Ich bin Mitglied in einer Bundestagspartei. Als Blogger verschaffe ich mir öffentlich Gehör. HIV ist da eines unter vielen Themen. Meine Stimme prangert offen an, dass dieser Staat, seine Institutionen, die Gesellschaft daran gehen, meine Grundrechte, meine körperliche und geistige Konstitution und somit meine Entfaltungsfreiheit in Abrede zu stellen. Die institutionalisierten HIV-Interessenvertretungen reagieren darauf öffentlich kaum und wenn doch, dann mit hilflosen Appellen. Die schlichte Reihenfolge, in der sie ihre Arbeitsschwerpunkte benennen, macht klar, das, da nichts weiter kommen wird: An erster Stelle steht die Schaffung eines „gesellschaftspolitischen Rahmen, in dem Infektionen vermieden werden können“. Ein Perpetuum mobile für fördermittelabhängige Institutionen und ihr Personal. Die Forderung nach einer allgemeinen Lebensstilakzeptanz für Menschen mit HIV findet sich in der Proklamation zum Selbstverständnis der Deutschen Aids Hilfe (DAH) nicht.

Dieser Tage plakatieren die staatlichen Gesundheitsbehörden wieder Floskeln und lassen Rollenmodelle Sprechblasen aufsagen. In ihren gecoachten Sätzen über das positive Zusammenleben schwingt immer auch ein Wohlverhaltensvorbehalt mit: „Aber sicher.“ Etwas anderes als die Sicherheit kommt unterm Strich nicht vor. Da man sich mit der breiten Vermittlung bspw. des EKAF-Statements überraschend schwer tut, kennt die Volksgesundheit nur den Heiligen Gral: Das Kondom. Das Kampagnenziel der gesellschaftlichen Umarmung entpuppt sich so bei genauerer Betrachtung als sinnbildliche Sicherheitsverwahrung für Positive. Staatsanwälte und Richter interpretieren diese anachronistischen Mantras längst in Verhaltensnormen und damit Rechtssprechung um, da ihnen die Paragrafen des StGB den Spielraum dazu lassen. Die Politik duckt sich hier weg. Wir Positiven befragen uns derweil, selbstverständlich nach Anleitung der DAH, gegenseitig über unser Leiden.

Am 1. Dezember legen all jene, die zwischendurch das Bedürfnis haben für ein paar Minuten solidarisch zu sein, wieder die rote Schleife an. Es wird Zeit, dass Menschen mit HIV diesen modernen gelben Stern endlich mit jener Verachtung strafen, die ihm gebührt. Die Schleife ist zum Symbol eines verkommenen Solidarverständnis mutiert, das Infizierte in der Sonderrolle eines gescheiterten und fürsorgebedürftigen Individuums festschreibt. Die Sonderrolle ist die eines Hofnegers, wie er im 18. Jahrhundert von österreichischen Adeligen gehalten wurde. Anstatt mit Spendendosen zu klappern, sollten die lokalen Aidshilfen an diesem Tag Unterschriftenlisten auslegen: „Ich fordere die uneingeschränkte Straffreiheit der Transmission von HIV.“ Übrigens: „Positive Stimmen“ sucht noch Gesprächspartner. Wir sollten uns alle bewerben! Und im Interview die Welt schön biegen, damit der „PLHIV Stigma Index“ am Ende aussagt: Deutschland ist unter den Industrieländern das Paradies für Positive. Natürlich wäre das Humbug. Doch zu denken, der Index würde etwas zur Besserung der Situation Positiver beitragen, grenzt an Aberglauben.

Piraten und die Aidshilfen: 2. Von Piraten lernen ? – Transparenz und Partizipation

Von Piraten lernen? Haben die Piraten, derzeit erfolgreich in Wahlen und Umfragen, Konzepte und Techniken, die auch Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe zu ihrem Nutzen einsetzen könnte?

Die noch junge Partei der ‚Piraten‘ verzeichnet überraschende Erfolge bei den Berliner Wahlen, und noch überraschender hohe Werte in derzeitigen Umfragen (Sonntagsfrage). Auch wenn die Piraten den Beweis der politischen Alltags-Tauglichkeit als Partei erst noch erbringen müssen, und die derzeitigen Umfragewerte auch medial geschürten Hypes gedankt sein dürften – es lohnt sich zu fragen, für welche Politik stehen die Piraten, gibt es etwaige Gemeinsamkeiten (siehe Teil 1: „gemeinsame Piraten-Sache ? – Allmende und Gemeingut“) – und mit welchen Konzepten und Werkzeugen gehen die Piraten dies an? Kann Aidshilfe vielleicht gar lernen von den Piraten?

Neben dem Begriff der Gemeingüter (hinter dem sich bei den Piraten z.B. auch Debatten um Netzneutralität und Urheberrechte befinden) ist ein weiterer Themenkomplex zentral für die Piraten: Partizipation und Transparenz.

Partizipation meint die aktive und effektive Einbeziehung von Personen und Organisationen in Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung; sie ist ein Wesenselement einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Transparenz bedeutet, dass Vorgänge von außen (Außenstehenden) nachvollziehbar sind. Sie ist wesentliche Voraussetzung für freie Willensbildung und echte Partizipation.

Die Piraten haben – mit dem erklärten Ziel, hiermit die Möglichkeiten zu innerparteilicher Partizipation, zu aktiver Einbeziehung weitest möglicher Kreise der Mitglieder und Interessenten zu erhöhen – mit ‚Liquid Feedback‘ seit Mitte 2010 ein Werkzeug, das das Potenzial hat, Formen der politischen Zusammenarbeit grundlegend zu verändern.

‚Liquid Feedback‘ basiert auf ‚Liquid Democracy‘. Liquid Democracy ist eine Theorie und ein Konzept gemeinsamer Entscheidungsfindung, das Elemente der repräsentativen mit Elementen der direkten Demokratie vereint. Im Mittelpunkt derzeitiger Umsetzungsversuche stehen neue elektronische Medien – bisher ’starre‘ demokratische Abläufe sollen ‚verflüssigt‘ werden.
Liquid Feedback ist eine im April 2010 erstmals (als stabile Version) veröffentlichte Software (open source, auch in deutsch), die dies versucht, und zur politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung eingesetzt werden kann. Angewendet wird Liquid Feedback derzeit von der Piratenpartei Deutschland und ihren Landesverbänden, der Piratenpartei Brasilien sowie den Piratenparteien in Österreich und der Schweiz.

Liquid Feedback ist ein Versuch gelebter innerparteilicher Demokratie, der zudem versucht, die negativen Folgen einer (auch bei den Piraten zukünftig vermutlich zunehmenden) hierarchischen Struktur der Partei zumindest zu mindern – zugunsten transparenter Abläufe und Entscheidungsfindungen, und einer möglichst breiten aktiven Einbeziehung der Mitglieder.

Neben Liquid Feedback nutzen die Piraten zahlreiche weitere Werkzeuge von Live-Feeds und -Streams über diverse Wikis bis Twitter und diverse sozialen Netzwerke. Selbst die ersten Fraktionssitzungen der frisch gewählten Berliner Piraten konnten live per Stream verfolgt werden, über alle Sitzungen wird via Feed und Blog berichtet.
Manche dieser Werkzeuge (z.B. Twitter, soziale Netzwerke) werden auch von anderen Parteien genutzt, von keiner jedoch wohl so offensiv wie von den Piraten. ‚Liquid Feedback‘ ist ein (mächtiges) Werkzeug, das bisher einzig die Piraten anwenden.

Und Liquid Feedback stellt mehr dar als ’nur‘ ein technisches Werkzeug (oder, wie vereinzelt in Medien bezeichnet ‚Spielzeug‘): Liquid Democracy ist ein Konzept, das ein neues, oder doch zumindest grundlegend verändertes Konzept politischen Arbeitens ausdrückt, das die parlamentarische Demokratie um Elemente direkter Demokratie ergänzt und gleichzeitig wesentlich mehr Transparenz politischer Prozesse und Entscheidungsfindungen ermöglichen (und so vielleicht auch zu einer stärkeren Identifizierung beitragen) kann.

Mit diesen Elementen wird Liquid Democracy (wie auch seine Anwendung in Kombination mit weiteren Netzwelt-Werkzeugen) auch zu einem Thema, das potentiell für Aidshilfen sowie für Positiven-Selbsthilfe interessant sein könnte.

Selbst bestimmen, mit entscheiden – dies waren und sind Kern-Anliegen HIV-positiver Selbsthilfe, auch im Interesse einer Vermeidung von Banalisierung und Marginalisierung. Interessen einer Positiven-Selbsthilfe jedoch, die sich selbst mitten in der Partizipationsfalle befindet (Partizipationsfalle: Interessierte und Engagierte werden in vorbereitende Diskussionen mit eingebunden, teils mit viel Zeit- und persönlichem Aufwand, können ihre Meinung darlegen und ggf. mit Fakten untermauern – ihr realer Einfluss auf politische Entscheidungen jedoch ist mehr als begrenzt) [siehe meine Rede in der Frankfurter Paulskirche am 1.12.2010 „Über können Sollen und wollen Dürfen – Gedanken zur Zukunft der Interessenvertretung HIV-Positiver„].

An Werkzeugen und Wegen einer lebendigen Partizipation und – als eine ihrer Voraussetzungen – gelebter Transparenz sollten also sowohl Aidshilfen als auch Positiven-Selbsthilfe großes Interesse haben.

Vielfältige Anwendungsmöglichkeiten wären denkbar, für Liquid Democracy, aber auch im Vorfeld für einfachere Techniken zwischen Stream und Webcast.
Einige erste Ideen:

  • Aidshilfe könnte wichtige öffentliche oder Verbands-öffentliche Debatten, wie z.-B. auf Mitgliederversammlungen, bei Vorstandswahlen oder anlässlich großer Events wie „25 Jahre Aidshilfe“, als Live-Stream (Audio) oder Webcast (Video) übertragen – und so nicht nur die Reichweite wesentlich erhöhen, sondern auch einem deutlich größeren Kreis an Interessierten eine (virtuelle) Teilnahme ermöglichen.
  • Entsprechend: warum werden nicht bedeutende Positiven-Veranstaltungen – z.B. Podiums-Diskussionen der ‚Positiven Begegnungen‘ oder auf Bundesweiten Positiventreffen – auch im Internet übertragen, als Live-Stream (Audio) oder Webcast (Video)? Womöglich mit Option der interaktiven Beteiligung via Rückkanal?
    Die Technik hierfür ist längst verfügbar, und auch zu akzeptablen Bedingungen. Die Reichweite von Veranstaltungen könnte so wesentlich vergrößert werden. Vor allem aber: einer wesentlich größeren Zahl an Positiven als nur der i.d.R. sehr begrenzte Zahl der Teilnehmer vor Ort könnte eine Teilnahme ermöglicht werden. (Vorgeschlagen wurde dies bereits zu den Positiven Begegnungen 2010, ein Versuch einer Umsetzung steht weiterhin aus.)
  • Immer wieder wird beklagt, Positive hätten zu wenig Möglichkeiten, ihre Haltung zu wichtigen Fragen gemeinsam und in Breite zu diskutieren, zu formulieren, auszudrücken. ‚Liquid Democracy‘ bzw. ‚Liquid Feedback‘ könnten ein Experiment wert sein, diese oder andere Werkzeuge für die Debatten und Positions-Findungen unter Positiven nutzbar zu machen.
  • Liquid Democracy könnte sich auch geeignet erweisen für die weitere Belebung und Intensivierung von innerverbandlichem Dialog und Debatte der Aidshilfen. Die DAH hat hier in letzter Zeit mit Intra- und Extranet, mit Verbands-Newslettern und Vorstands-Informationen bereits wesentliche Schritte getan. Sind weitere Schritte möglich? Und geeignet, z.B. für die Klärung von Positionen und Haltungen auf breiterer Basis?
  • Können Werkzeuge wie Liquid Democracy zudem auch innerhalb des Verbandes Aidshilfe zu mehr Transparenz, innerverbandlicher Demokratie und vor allem Partizipation beitragen? Und – vielleicht nicht nur innerverbandlich, sondern auch ’nach außen‘? Auch interessierten Kreisen außerhalb des engen Kreises der Mitglieder eine Partizipation, eine aktivere Mitarbeit ermöglichen?

Der derzeitige Erfolg der Piraten, ihre Ideen und Konzepte könnten zum Anlass genommen werden, auch in Aidshilfe und Positiven-Selbsthilfe neu über Formen der Zusammen- und Mitarbeit nachzudenken. Anstoß sein zu mehr Experimentieren – mit dem Ziel, einer größeren Anzahl an Menschen leichter eine stärkere Einbeziehung und Mitarbeit zu ermöglichen, und gleichzeitig die Transparenz zu erhöhen. Der Debatte könnte beides gut tun – auch dadurch, dass die Vielfalt der in Debatten einbezogenen Meinungen, Argumentationen und Haltungen größer und breiter würde, besser dokumentiert, besser abgebildet und nachvollziehbar. Für mehr Demokratie, mehr Partizipation, mehr Transparenz – auch in Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe.

Piraten und die Aidshilfen: 1. gemeinsame Sache ? – Allmende und Gemeingut

Fast neun Prozent der Wähler/innnen-Stimmen, 15 Sitze im Abgeordnetenhaus – der Erfolg der ‚Piraten‘ bei der Berliner Wahl 2011 hat viele (wenn auch nicht alle) Parteien, Journalisten, politischen Beobachter überrascht. Von konsternierten Blicken über Irritation bis Häme, die Reaktionen bleiben bisher oftmals an der Oberfläche. Parteien registrieren bisher kaum die Gefahr des Verlusts ihrer Kern-Themen (wie Bürgerrechte), das Aufkommen neuen Bewusstseins oder neuer Methoden politischer Arbeit, wundern sich höchstens über Aktivierung bisheriger Nicht-Wähler. Tiefergehende Analysen und Betrachtungen zu dem, was hinter dem Erfolg der Piraten stehen könnte, sind hingegen im politischen Raum noch eher selten. („Dass die Piraten einen eigenen originären Politikansatz haben könnten, scheint niemand in Betracht zu ziehen“, bemerkt treffend Michael Seemann auf ctrl-verlust).

Die Piraten (einzig) als mono-thematische Nerd-Partei oder als „one hit wonder“ abzutun könnte sich schon bald als kurzsichtig erweisen, hieße ihr Potential, die mögliche Bedeutung ihrer Ideen und Projekte zu verkennen (und zwar unabhängig davon, wie sich ihr konkretes politisches Schicksal erweist) – und Chancen zu vertun.

Aber – was hat der derzeitige Erfolg der Piraten mit Aidshilfe zu tun?
Vielleicht mehr, als auf den ersten Blick offensichtlich scheint.

Denn – Chancen durch die Piraten könnten sich m.E. auch für Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe ergeben.
Gibt es Gemeinsamkeiten in Ideen und Zielen zwischen Aids-Bewegung(en) und den Piraten?
Können Aidshilfen und Positiven-Selbsthilfe vielleicht auch von den Piraten lernen?

Ein Kommentar in zwei Teilen – heute Teil 1: „gemeinsame Sache ? Allmende und Gemeingut“, Teil 2 „Von Piraten lernen ? – Transparenz und Partizipation“ folgt in den kommenden Tagen am Montag, 10.10.2011.

Piraten und die Aidshilfen

1. gemeinsame Piraten-Sache ? – Allmende und Gemeingut

Die Piraten sind eine vergleichsweise junge Bewegung und Partei (und doch derzeit die Mitglieder-stärkste der nicht im Bundestag vertretenen Parteien). Entstanden 2006 aus einer Anti-Copyright-Bewegung (daher stammt auch ursprünglich der Name der Partei), werden sie heute immer noch überwiegend als „Internet- und Nerd-Partei“ wahrgenommen (Nerd = ‚internet-Freak‘). Tatsächlich jedoch haben sie inzwischen ihr Parteiprogramm auf beträchtlich breitere Füße gestellt (wenn auch ihre Haltungen und Forderungen z.B. in Bereichen wie Gesundheit oder Soziales immer noch nur in Ansätzen zu erkennen sind).

Dies sollte jedoch nicht daran hindern, nach potentiellen Gemeinsamkeiten zu spüren. Denn – diese zeichnen sich durchaus ab, und zwar in Kern-Feldern. Aus einem einfachen Grund: ein, wenn nicht das Kern-Element der politischen Identität der Piraten ist die Auseinandersetzung mit der Frage, was soll der Allgemeinheit gehören, was soll privat(wirtschaftlich) organisiert, gar geschützt sein. Grund-Thema der Politik der Piraten ist die Auseinandersetzung mit Allmende (Gemeinschafts- oder Genossenschafts-Besitz), mit Commons, mit Gemeingütern.

Dies aber ist ein Thema, das Aidshilfe nicht unbekannt sein dürfte. Debatten, die Aidshilfen führen, gehen oft um Begriffe wie ‚Daseinsfürsorge‘, ‚Gemeinwohl‘, um Solidargemeinschaft oder Individualisierung von ‚Risiken‘ und ‚Vorsorge‘. Auch hinter diesen Begriffen steckt u.a. die Frage, was ist Gemeingut, was darf / soll privatisiert werden, was kann wie optimal im Sinne der Interessen und Bedürfnisse der Gemeinschaft gestaltet werden?

Gemeingüter – ein Thema, dessen Bedeutung gerade in der politischen Auseinandersetzung der nächsten Jahre steigen dürfte. Ein Thema, das weit mehr betrifft als Internet und Urheberrechte: Ist Wasser ein Gemeingut? Eines, das von der Allgemeinheit zu ihrem besten Nutzen und niedrigsten Kosten organisiert werden soll? Oder soll die Wasser-Versorgung privaten Gewinninteressen überlassen werden? Ist Gesundheit, die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten, ein Gemeingut? Sollen lebensnotwendige Medikamente jedem Menschen zur Verfügung stehen? Oder sollen Patentrechte auf Wirksubstanzen sowie Profite privatwirtschaftlicher Pharmaindustrie wichtiger sein als menschliches Leben und breite Verfügbarkeit lebenswichtiger Medikamente?

Michael Seemann kommentiert auf ctrl-verlust: „Infrastrukturen, die Zugang und Teilhabe ermöglichen, müssen gestärkt und ausgebaut werden und gehören diskriminierungsfrei allen angeboten“. Und die Frage liegt nahe – warum nur Infrastrukturen, warum nicht auch Gesundheit, kulturelle teilhabe etc.?

Gemeinwohl, Gemeingüter – ein Themenkomplex, der derzeit bei den Piraten vielleicht noch sehr auf Internet, Urheberrechte und digitale Welten fokussiert wird. Aidshilfe hingegen kennt den Gedanken aus Fragen wie dem Gesundheitsbegriff, der Struktur und Aufgabe des Sozialstaats oder der Verfügbarkeit von Medikamenten.

Beiden gemeinsam aber ist die grundsätzliche Frage: was ist im Interesse der Allgemeinheit? Was sollte von, für und durch die Gemeinschaft gestaltet und geregelt werden?

Gemeingüter – das ist die Frage, was soll der Allgemeinheit dienen, zu welchen Bedingungen, und von wem gestaltet?
Gemeingüter – das ist die Frage, wollen wir wesentliche Grundlagen unserer zukünftigen Lebensgestaltung (ob das Internet oder z.B. die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten) weitgehend privatwirtschaftlichen Gewinn-Interessen und Monopolisierungs-Tendenzen überlassen, oder sie zum größtmöglichen Wohl aller, der Gemeinschaft gestalten?

Gemeingüter – diese Frage wird eines der großen Meta-Themen der kommenden Jahre sein. Ein Thema, bei dem sich Aidshilfen und Piraten (wie auch einige (bisher wenige) andere Parteien) viel zu sagen hätten. Ansätze, die beide Sichtweisen in Berührung bringen, gibt es bereits (wie etwa Projekte, die den Gedanken der Commons, der Gemeingüter auf die Welt der Medikamente übertragen).

Gemeingüter – ein zukünftiges Meta-Thema politischer Debatten.
Ein Thema mit zahlreichen Berührungspunkten.
Ein Thema, bei dem gemeinsame Ziele und Aktionen denkbar wären.
Ein Thema, das durch zielgerichteten Dialog und Zusammenarbeit in seiner Wahrnehmung und Bedeutung in der Öffentlichkeit gestärkt werden könnte.

HIV bei Wasser und Brot

Wer diese Überschrift liest, wird sich seinen Teil denken. Und zum Teil auch recht haben, denn am vergangenen Freitag, den 16.9.2011, wurde ich standesgemäß mit »Wasser und Brot« begrüßt. Schließlich las ich – zum ersten Mal – in einer Haftanstalt.

Im Nachgang zu einer Lesung in Mainz im Mai 2011 war ich von der Straffälligenhilfe Wiesbaden angefragt worden, ob ich mir vorstellen könne, in einer Jugendstrafanstalt aus »Endlich mal was Positives« zu lesen; das Thema »HIV« sei dort natürlich auch aktuell, wenn auch sicherlich eher aus dem Bereich der Drogengebraucher als aus Gründen ungeschützten Geschlechtsverkehrs. Aber weiß man’s? Immerhin wurde mir bereits im Vorfeld gesagt, dass Homosexualität im »Knast« ebenso weit verbreitet sei wie etwa in der Fußball-Bundesliga.

Natürlich konnte ich mir eine Lesung hinter Gittern vorstellen. Allerdings ist es schwierig, ohne Verurteilung ins Gefängnis zu kommen. (Dafür ist es aber auch leichter, wieder herauszukommen.) Da ich anlässlich der 6. Frankfurt Aids-Präventionstage ohnehin zu einer Lesung in Frankfurt und den dazugehörigen Veranstaltungen im Nordwest-Zentrum eingeladen war, ließ sich der Besuch in Wiesbaden gut mit meinen Reiseplänen kombinieren.

Man macht sich im Vorfeld ja schon so seine Gedanken. Ich ahnte, dass ich mich als bekennender Schwuler und geouteter HIV-Positiver bei der Veranstaltung in einer Strafanstalt potenziell durchaus in eine – nennen wir sie mal – zwangsdefensive Haltung würde begeben müssen. Andererseits hatte ich ähnliche Gedanken vor Veranstaltungen in Hauptschulen in Problembezirken gehabt, bei denen ich dann aber die allerbesten Erfahrungen machen konnte. Also, nix wie ’ran.

Der Eintritt in diese für mich völlig fremde Welt entsprach allen Klischees, die man aus den Medien, insbesondere Krimiserien kennt. Mauern, Stacheldraht, Stahltore. Im Gelände die erste Überraschung: keine endlos langen Gebäude, sondern moderne kleinere Einheiten, »Häuser« genannt. Auf dem Weg zur »Bücheroase«, der neu eingerichteten Bücherei, doch wieder eine Portion Klischee: Gesichter, die sich an vergitterten Fenstern die Nase plattdrückten, einzelne, akustisch schlecht verständliche Zurufe. Nach dem Passieren diverser Gittertore dann endlich die »Bücheroase«. Ein nicht sehr großer, doch hell und freundlich eingerichteter Raum mit recht gut gefüllten Regalen an zwei Wänden. Nicht schlecht für eine gerade erst eröffnete Bücherei, die im Wesentlichen auf Spenden angewiesen ist. Direkt nach der feierlichen Eröffnung in Anwesenheit des hessischen Justizministers hatte ein Run auf die Bücher bzw. die Büchereiausweise begonnen, der zeigte, dass die inhaftieren 19-25jährigen Männer die Zeit hinter Gittern durchaus sinnvoll nutzen wollen. Schließlich können sie hier auch ihren Schulabschluss nachmachen.

Einige der Insassen waren bereits da, andere trudelten der Reihe nach ein. Natürlich war der Besuch freiwillig, auch wenn pro »Haus« nur maximal zehn Bewohner zugelassen waren. So saßen insgesamt etwa 30 Jugendliche und acht Mitarbeiter der Anstalt, des Fördervereins und der Straffälligenhilfe im Rund, als die Lesung begann. Im Vorfeld war mir gesagt worden, dass die Konzentration etwa für eine Stunde reichen und es nicht immer ruhig zugehen würde. Zudem könne, wer keine Lust mehr habe, einfach aufstehen und gehen. Nichts dergleichen aber geschah; und ich bilde mir ein, dass es nicht nur an der eindringlichen Ermahnung der sehr resoluten Lehrerin zu Beginn der Veranstaltung gelegen haben wird.

Nach etwa einer Stunde wurde meine Lesung mit langem Applaus bedacht, bevor sich zaghaft, aber zunehmend eine Diskussionsrunde anschloss. Fragen über die Infektion, die Therapie und mein Selbstverständnis wechselten sich ab mit Fragen über die praktische Seite der Homosexualität (»Wir haben Puffs, wie macht ihr das?«) oder die Herkunft von potenzieller Diskriminierung (»Warum ekeln wir uns davor, wenn sich zwei Männer küssen – finden das aber geil, wenn es zwei Frauen tun?«). Von Seiten eines Mitarbeiters kam die Frage, was ich einem homosexuellen Häftling rate, der von seinen Mitinsassen gemobbt wird.

Puh. Ich versuchte, mir die Situation vorzustellen, indem ich Parallelen zu einer anderen Art der männlichen Zweckgemeinschaft zog, die ich kannte: der Bundeswehr. Auf meinen Hinweis, sicherlich wäre ja niemand freiwillig her, folgte unisono ein lautstarkes »Doch!« – und alle Jugendlichen zeigten mit großer Heiterkeit auf die Mitarbeiter. So kann man auch schwierige Themen gut diskutieren. Letztlich konnte ich die Frage aber nicht wirklich beantworten; allerdings wies ich darauf hin, dass ich es gut finde, wenn auch in einer solchen hermetisch abgeriegelten Gemeinschaft offen über z.B. Homosexualität oder HIV gesprochen wird, damit auch das und vor allem auch dort zu einer »Normalität« (nicht in der Ausübung, sondern im Umgang) werden könne. Inwiefern sich das in einer Strafanstalt durchsetzen lässt, vermag ich nicht zu beantworten. Allerdings ist »Endlich mal was Positives« seit diesem Tage als Klassensatz für den Unterricht in der Strafanstalt verfügbar.

Quintessenz: Es war eine tolle Veranstaltung. Insgesamt bestanden Interesse und Konzentration über fast zwei Stunden – und es kamen gute und spannende Fragen. Der Ton: sicherlich sehr viel direkter und härter als bei anderen Lesungen. Aber meine Antworten waren ebenso direkt und deutlich. Ich glaube, das kam an. Denn die Fragen und Kommentare waren niemals polemisch, diskriminierend oder unter der Gürtellinie.

Wenn Männer hinter Gittern gemeinhin als »schwere Jungs« bezeichnet werden, dann machten die anwesenden Häftlinge in Wiesbaden diesem Begriff alle Ehre: Sie waren schwer in Ordnung.

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Kommentar von Matthias Gerschwitz, zuerst erschienen auf seiner eigenen Internetseite hier

Ein Albumblatt für Carsten Schatz

Kurt Hiller verdanken wir folgende Betrachtung in seinem „Eros – Leben gegen die Zeit“:

„Ich bin auf fast keine Hindernisse gestoßen. Das lag möglicherweise in der Hauptsache daran, dass ich ohne Spur von Symbolismus und Metaphorik, Indirektheit und Verschleierungstaktik, Ausweicherei und Zimperlichkeit als Jurist, Logiker und Kritiker das Kind beim Namen genannt habe. Das wurde mir honoriert. Gerade unter den Philistern dachten wahrscheinlich viele: wer so offen und unverschnörkelt spricht, meint die Sache, nicht sich. Solche Deutung meines Stils war natürlich naiv; ich meinte mich und die Sache; es existierte zwischen beiden für mein Denken kein Unterschied. Nur jenes peinlich duftende Egozentrikertum war mir fremd, das, wo das Ich interessiert ist, zu übersehen geruht, dass es ein identisch interessiertes Wir gibt. Je reicher ein Homoerotischer war, desto leichter pflegte er dieser Egozentrik zu verfallen. Ich kannte Anno Weimar und schon vorher einen etwas älteren Juristen vom Kurfürstendamm, der mit jungen Leutnants aus echt goldenen Kaffeetassen schlürfte; er verfehlte, sooft wir uns trafen, nie, mich vor der Aktivität in der Strafrechtssache zu warnen; „Nur keine Propaganda!“ lispelte er; „je mehr wir in der Öffentlichkeit von der Sache reden, desto mehr schaden wir uns!“ Ein eleganter, auch liebenswürdiger Herr, bloß doof. Hätten alle Betroffenen samt den unbetroffenen Gerechtdenkenden gehandelt, wie er verlangte, dann würde der brutale und sinnlose Paragraph noch heute in Schweden und der Schweiz, in Polen und der Techeslowakei, in England, Österreich, Deutschland gelten, genau wie er dort damals galt.“

Carsten Schatz ist der erste offen positive schwule Mann im Berliner Abgeordneten Haus. Das gibt es weder in einem anderen Landesparlament, noch im Bundestag. Erst einmal herzlichen Glückwunsch an ihn, aber auch die Stadt Berlin, selbst wenn es ihm bei den konkreten Wahlergebnissen nicht vergönnt ist, an der Regierung teil zu haben. Da hätte er bei seinen breit gefächerten politischen Interessen und Aktivitäten manchen Diskurs beleben können. Seine Tätigkeit als Abgeordneter soll und wird sicher nicht daran gemessen werden, dass er schwul und positiv ist. Aus den Erfahrungen, die wir mit ihm im Vorstand der DAH gemacht haben, wissen wir, dass er bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und bei allem Pragmatismus im Einzelfall Haltung zeigt und mit dem gesamten Vorstandsteam Veränderungen bewirkt. Das fängt bei dem für Besucher wieder spürbaren guten Betriebsklima in der DAH an, und endet dabei, dass der Verband wieder politisch sichtbar ist. An seinen politischen Fähigkeiten mangelt es nicht, so dass er auch in der Opposition ein Gewinn für die Hauptstadt-Politik sein wird.

Veränderungen geschehen in der persönlichen Begegnung. Und hier wird HIV interessant. Das hat nämlich mehrere Aspekte.

Als Antwort auf das Motto des Welt-Aids-Tages 1991 hat die DAH ein Plakat aufgesetzt: „AIDS hat ein Gesicht: Die Herausforderung sind wir“. Und auch selber waren wir vielfältig herausgefordert. Das war in einer Zeit, in der die Medizin die großen Hoffnungen nicht aufkommen ließ. Seitdem hat sich unglaublich viel verändert. Nur die alten Bilder sind noch in viel zu vielen Köpfen fest verankert. Bei jeder Wiederholung von „Philadelphia“ werden sie reaktiviert. Und auch am 16. November, wenn in der ARD die Dokumentation „Der Aids-Krieg“ von Jobst Knigge gezeigt werden wird, werden viele nicht wahrnehmen, dass die Protagonisten der Dokumentation über die Vergangenheit berichten, aber heute noch putzmunter leben. Die Rückblenden werden bei einem Bericht über vergangene Zeiten unvermeidlich diesen wichtigen Umstand überlagern. Wir brauchen neue Sichtweisen. Deswegen ist es wichtig, im pivaten und im öffentlichen Leben Gesicht zu zeigen. Heute sind nicht mehr wir die Herausforderung, sondern das Demontieren längst nicht mehr zutreffender Bilder. Und da kann die konkrete Begegnung mit einem gutaussehenden, engagierten, arbeitsfähigen Mann Einiges bewirken. Wenn er dann auch noch öffentlich exponiert ist, besteht die Chance, dass sich ein Stück Normalität in der medialen Welt wiederfindet, obwohl das Gewöhnliche eigentlich keine Nachricht wert wäre.

Neben den Bildern, die die Gesellschaft von HIV hat, haben viele HIV-Infizierte Befürchtungen, man könne in unserer Gesellschaft nicht offen positiv leben. Das innere Stigma löst sich schlecht gegen ein äußeres auf. Und natürlich ist es Fakt, dass es einen Bodensatz an Homophobie immer geben wird, an Zuschreibungen, die an Menschen mit HIV erfolgen. Aber Fakt ist ebenso, dass es einen gesellschaftlichen Konsens gibt, der Diskriminierung nicht zulassen sollte. Ein offenes Leben kann also mit Widrigkeiten durchaus verbunden sein, eröffnet aber auch Freiheiten und gibt die Luft zum Atmen. Manchmal braucht es ein breites Kreuz dafür. Aber mit jedem, der HIV in seiner ganzen medizinischen Banalität sichtbar macht, wird es leichter. Manch einer wird sich gegen das „banal“ verwehren. Rheuma, Diabetes, viele Krankheiten haben größere Einschränkungen und Beschwerlichkeiten im Gepäck. Sichtbar zu machen, dass HIV weder die Arbeitsfähigkeit beschränkt, noch zum sozialen Tod führt, macht denjenigen Mut, die an der Schwelle des Going Public stehen. Deswegen ist es ein wichtiges Politikum, dass wir einen offen positiven Abgeordneten haben, der nicht auf einem Behindertenticket sondern durch politische Arbeit auf seinem Posten gelandet ist.

Als Abgeordneter ist man ja allerlei Begehrlichkeiten ausgesetzt. Und so habe auch ich eine in eigener Sache. Der Berichterstattung über die Piraten habe ich mit Freude entnommen, dass sie sich für die Legalisierung weicher Drogen einsetzen. Wenn dies sicher auch drogenpolitisch eine viel zu kurz gegriffene Forderung ist, so könnte das ja immerhin schon mal ein Anfang sein. Sicher ist das Betäubungsmittelrecht eine Bundesangelegenheit. Aber in vielen Städten ist es bei dem Kampf um Methadon und Originalstoffvergabe in der Vergangenheit zu tragfähigen kommunalen Absprachen über Toleranz an den runden Tischen zwischen Staatsanwaltschaft, Polizei, Gesundheitsämtern, Drogenhilfe und Politik gekommen. Berlin mag zwar arm sein, aber sexy. Vielleicht kann es ja auch lustvoller Vorreiter in der Aufweichung einer völlig verfehlten Prohibition sein. Es könnte mir meine Berlinbesuche noch weiter verschönern.

Carsten, es ist gut, dass es Dich gibt

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Anmerkung der Redaktion:
Dieser Kommentar wurde geschrieben zu einer Zeit als es nahezu sicher schien, das Carsten Schatz ein Mandat als Abgeordneter errungen hat. Inzwischen (21.9.2011) sieht es eher so aus ist es weiterhin unklar, als ob Schatz doch kein Mandat errungen hat (näheres im aktualisierten Artikel „Berlin: offen HIV-positiver Kandidat bei Wahl zum Abgeordnetenhaus 2011 erfolgreich ?„).
Wir brauchen neue Sichtweisen“, schriebt Bernd Artez ins einem ‚Kalenderblatt‘. Und begründet, warum. Dies ist nach wie vor aktuell. Ein Grund  mehr, dass der Text weiterhin online steht.

Bernd Aretz

Nach der Seuche ist vor der Seuche ?

„Nach der Seuche ist vor der Seuche“, konstatiert Jörg Hacker in einem Gast-Kommentar an prominenter Stelle in der ‚Süddeutschen Zeitung‘ vom Wochenende (Ausgabe 20./21.8.2011; Seite 2; Text leider nicht online). Ich stutze. Bitte was?

Jörg Hacker kommentiert mit dieser Aussage (die gleichzeitig Titel des Gastbeitrags ist) die Situation nach dem EHEC-Ausbruch 2011. Jörg Hacker, Professor für Mikrobiologie, ist Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften in Halle (Saale). Und Jörg Hacker war von März 2008 bis März 2010 als Nachfolger Reinhard Kurths Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI). Das Robert-Koch-Institut ist die zentrale Forschungs- und Überwachungs-Anstalt der Bundesregierung für Infektionskrankheiten. Also zum Beispiel für EHEC. Und zum Beispiel für HIV.

„Nach der Seuche ist vor der Seuche“, sagt Hacker. Ohne Fragezeichen. Postulierend.
Greift damit eine Formulierung auf, die insbesondere in der Veterinär- und Agrarmedizin der letzten Jahre (z.B. Schweinepest) häufiger zu finden ist, als Titel von Tagungen, Symposien, Veranstaltungen.

Nach der Seuche ist vor der Seuche? Formal dürfte Hacker damit nicht so unrecht haben. Ja, immer wieder wird die Gesundheit von Menschen (wie auch Tieren und Pflanzen) durch Bakterien, Viren bedroht werden.

Aber – was will Hacker mit der Verwendung dieser Formulierung sagen?

Hackers Worte erinnern mich bestürzend an eine andere – nahezu gleichlautende – Formulierung:
„nach dem Krieg ist vor dem Krieg“.
Mit einem Unterschied: der Reaktion.

Würde ein prominenter Politiker in Deutschland heute die Meinung äußern „Nach dem Krieg ist vor dem Krieg“, er würde sich vermutlich eines Sturmes an Kritik ausgesetzt sehen, des Militarismus geziehen, der Kriegstreiberei. Zu offensichtlich hat die Geschichte gezeigt, dass eine solche Denkweise nur zu leicht in totalitäre Strukturen mündet, selbst in den Krieg führen kann.

Hackers Worte hingegen bleiben scheinbar weithin unkommentiert.
Eine Formulierung, wie man sie halt häufiger findet
Von der Schweinepest ist sie nun zu Infektionen des Menschen ‚weitergewandert‘.
Metaphern, die in der Politik unerhört wirken mögen – sind sie im Gesundheitswesen selbstverständlich?

„Nach der Seuche ist vor der Seuche“, was will Hacker damit sagen?
Sollen wir im permanenten Zustand der (epidemiologischen) Mobilisierung leben?
Brauche  wir eine Kultur des permanenten Kriegs (gegen Mikroben)?
Die fortwährend andauernde Prävention?

Es mag die Aufgabe des Epidemiologen sein, warnend sein Wort zu erheben, vorbeugend.
Aber mit der Sprache des Militarismus, des Krieges?
Und – es geht um mehr als ’nur‘ Sprache.
Hinter den Worten steckt eine Haltung.
Eine Haltung, vielleicht auch Intention des permanenten Alarmismus?

Welche Gesellschaft ist das, die einen solchen permanenten Alarm-Zustand zum Ziel hat? Die in – durch diese Haltung aufgebauten – ständigen Bedrohungs-Szenarien lebt?
Und wie geht diese Gesellschaft des permanenten Alarm-Zustands mit ihren Mitgliedern, mit ihren Bürgern um? Welchen Preis zahlen wir dafür?

Wollen wir in einer solchen Gesellschaft des permanenten Alarms leben?

Wenn nicht, dann sollten wir auch nicht ihre Sprache benutzen.
Und bei entsprechende Haltungen aufmerksam sein.

Sonst wird das Leben irgendwann selbst zum Risiko, zur Bedrohung, der Begriff der Gesundheit verabsolutiert.

Oder, wie ondamaris-Gastautor Matthias 2008 (im Kontext des EKAF-Statements) satirisch anmerkte: „Die Summe der Restrisiken ist daher zu hoch, als dass wir jedem erlauben dürften, damit selbständig und unkontrolliert umzugehen. (…) Schließlich geht es um Sicherheit und Gesundheit unserer Menschen!“

Aids und die subtile Kontrolle der Lüste

Aids-Prävention, weitgehend auch von schwulen Männern zum eigenen Schutz ‚erfunden‘, hat viele positive Folgen. Und Aids-Prävention hat sich zum mächtigen Instrument der ‚Kontrolle der Lüste‘ entwickelt. Brauchen, wollen wir das eigentlich so noch?

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In direkter Reaktion auf die sich stark ausweitende und unsere Existenz als Schwule bedrohende Aids-Krise haben u.a. schwule Männer einst ’safer sex‘ erfunden. Dieses Konzept erwies sich bald als erfolgreich und wurde auch von staatlichen Stellen aufgegriffen, in Public Health Kampagnen eingebunden und promotet. Mit weitreichenden Folgen – positiven, aber auch hinterfragenswerten.

Schwuler Sex lag einst – vor Aids (und auch als Ergebnis der 1970er Schwulenbewegungen; spätestens seit der Strafrechtsreform; und für Schwule über 18 Jahren) – weitgehend außerhalb staatlicher Regulierung und Kontrolle. ‚Wir‘ hatten unseren Freiraum, den viele auch leidlich nutzen, experimentierten, ausprobierten. Begriffe wie ‚Subkultur‘ brachten diese dezidierte Ferne von Mainstream wie auch staatlicher Kontrolle und Regulierung auch sprachlich zum Ausdruck.

Dann kam die Aids-Krise. Durch Aids, Konzepte wie safer sex und deren bereitwillige Übernahme durch staatliche wie nichtstaatliche Stellen wurden viele positive Erfolge erzielt (wie eine weitgehend niedrige Rate an HIV-Neuinfektionen, gemessen an ursprünglichen Horror-Prognosen). Doch ein Preis dieser Erfolge war: schwuler Sex befand sich plötzlich weit in Reichweite staatlicher Regelung und Kontrolle. Nein, er ‚befand‘ sich nicht etwa überraschend dort, wir selbst hatten ihn – ob aus eigenem Überlebens-Interesse, in ‚Notwehr‘ oder als ‚Diktat der Vernunft‘ – dorthin manövriert.

Inzwischen ist schwuler Sex ein weitgehend staatlich normiertes Feld. Was ist ‚gut‘ (sprich: ‚gesund‘, ‚Neuinfektionen vermeidend‘ etc.)? Dies wird definiert durch staatliche Agenturen und durch (meist) von staatlichen Stellen bezahlte Nichtregierungsorganisationen. Was ist ’nicht gut‘ (sprich: ‚Infektionen riskierend‘, ‚ungesund‘)? Auch dies wird von ihnen definiert – und bei Bedarf skandalisiert (siehe Debatten um ‚Bareback‘ etc., aber auch stillschweigend nicht diskutierte Verbote von bestimmten ‚zu expliziten‘ Broschüren). Diese Kontrolle – mal war und ist sie mehr subtil (wie in Form von Botschaften des ‚guten Sex‘), mal ganz direkt (wie in Form von Verboten von Broschüren, Verhindern oder Verzögern von Kampagnen oder Skandalisieren von Personen und Verhaltensweisen). Aber immer ist sie da, die Kontrolle schwuler Lüste.

Inzwischen ist weitgehend akzeptiert, dass es ‚externe Stellen‘ gibt, die definieren, was an Sex ‚gut für uns‘ ist (anstatt dass wir das selbst machen). Nichts mehr mit ungeregeltem Experimentieren. Nichts mehr mit ‚hemmungslos‘, mit ‚fallen lassen‘, mit ‚Aufhebung von Gesetzen und Verboten‘.

Die externen politischen und sozialen Regelsysteme des schwulen Sex – wir haben sie längst akzeptiert, und an sie gewöhnt. Einschließlich ihrer Sanktions-Mechanismen.

Und wir haben lange nicht hinterfragt, ob das, was einst angesichts der Aids-Krise zu unserem Schutz gut für uns war, auch heute noch in unserem Interesse ist.

Mehr noch: einige Schwule haben diese Kontroll-Mechanismen als selbstverständlich akzeptiert – und internalisiert. Und so fällt es den Strukturen zunehmend leichter, bei einer sich abschwächenden wahrgenommenen Bedrohung durch HIV als ‚Ersatz‘ andere Stressoren zu präsentieren, von Syphilis bis Hepatitis C. Eine Fremd-Kontrolle, die auch bereitwillig akzeptiert wird, statt ein ‚Zurück zum selbst-kontrollierten Zustand‘ zu fordern, zu wagen – oder gar selbst zu gehen.

Michel Foucault, offen schwuler und 1984 an den Folgen von Aids gestorbener französischer Philosoph,  hätte diese Situation vielleicht mit seiner Formulierung von der „fehlgeleiteten Philantropie“ beschrieben: In anderem Kontext (Umgangs mit Geisteskranken) sprach Foucault von Wissenschaften, deren Anwendung einst aufgeklärt und human schienen, sich aber letztlich als subtile und heimtückische neue Formen sozialer Kontrolle erwiesen hätten …

Dabei wäre heute anderes denkbar.

Hier verbirgt sich die Frage nach Möglichkeiten der ‚Überwindung von Aids‘ und seiner Folgen für uns. Wie können schwule Männer etwas von dem, was infolge von Aids die Situation Schwuler negativ beeinflusste, einschränkte, fremd-bestimmte, regulierte, wie können wir das überwinden? Wie können Schwule ein Stück dieser (vielleicht notwendigerweise) aufgegebenen Freiheit (z.B. Freiheit von Regulierung, staatlichen Eingriffen) wieder gewinnen?.

James Miller bezeichnet in seiner Biographie „Die Leidenschaft des Michel Foucault“ den Philosophen als „in seinem radikalen Zugang zum Körper und einen Lüsten eigentlich eine Art Visionär“. Und Miller spricht von der

„Möglichkeit … daß hetero- und homosexuelle Männer und Frauen in der Zukunft … jene Art von körperlicher Experimentation, die ein integraler Bestandteil seines philosophischen Unternehmens war, wieder aufnehmen werden.“

Miller schrieb dies 1993, nur wenige Jahre nach dem Tod Michel Foucaults ( der an den Folgen von Aids gestorben war), geradezu visionär mit dem expliziten Zusatz, diese Möglichkeit ergäbe sich wieder

„nachdem die Bedrohung durch Aids zurückgegangen sein wird“.

Die reale Bedrohung durch HIV und Aids ist – gemessen an Horror-Szenarien der ersten Aids-Jahre – in Deutschland und West-Europa längst deutlich zurück gegangen.

Und doch, es gibt immer noch interessierte Stellen, die Horror-Gemälde an die Wand werfen – aber warum? Auf Basis einer realen Gefahr? Oder vielmehr z.B. um ihre einst durch Aids errungene Macht weiterhin aufrecht zu erhalten?

Hören wir auf Sie? Lassen wir uns weiter Angst-Gemälde vorhalten, internalisieren sie gar? Oder befreien wir uns, holen uns ein Stück Autonomie über uns, unsere Körper, unsere Leben zurück?

Egoismus versus Risikomanagement

Egoismus als Mittel der Prävention„, diesen Gedanken hat der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker vor Kurzem zur Diskussion gestellt. „Egoismus versus Risikomanagement“, fragt heute Steven in einem Gast-Kommentar:

Egoismus versus Risikomanagement

Die Diskussion um den richtigen Schutz vor einer HIV-Infektion ist fast so alt wie die Kenntnis um HIV selbst. Ficken nur mit Gummi, nicht im Mund abspritzen, blutige Sexpraktiken meiden, keine Partnerwechsel, auf Sex verzichten, Einhaltung der EKAF-Regeln und anderes mehr wurde und wird empfohlen.

Martin Dannecker, Sexualwissenschaftler in Berlin, bereichert nun die Diskussion um einen weiteren Ansatz:

Es gibt eine radikale Position, die man im Zusammenhang mit Prävention vertreten kann: die egoistische Position. Unter Schwulen ist es doch klar: Jeder, der eine HIV-Infektion nicht wenigstens stillschweigend in Kauf nimmt, kann nachhaltig darauf bestehen, dass entweder ein Kondom eingesetzt wird oder bestimmte Sachen nicht gemacht werden.

Ich glaube, es ist das Fruchtbarere, die erfolgreichere Position, wenn ich sage, ich will unter keinen Umständen positiv werden und setze daher meinen Egoismus durch. Von Egoismus zu sprechen hat etwas Erleichternderes, weil es die geläufige Positionierung von verantwortlich und nicht verantwortlich umgeht.

Ondamaris berichtet darüber unter der Überschrift Egoismus als Mittel der HIV-Prävention?

Die Diskussion um die HIV-Prävention findet meiner Wahrnehmung nach überwiegend in geschlossenen Kreisen statt. Der „Endverbraucher“, namentlich der HIV-negative Endverbraucher, bekommt nur die auf Schlagworte und einfache Formeln reduzierten Präventionsbotschaften, meistens in Gestalt von Plakaten, Fernseh- und Kinospots sowie Zeitungsanzeigen, zu Gesicht. Die damit verbundenen Bemühungen, Vorverurteilungen und Schuldzuweisungen an die Adresse HIV-positiver Menschen abzubauen, werden von Zeit zu Zeit durch tendenziöse Berichterstattungen in den Medien konterkariert. Anhand spektakulärer Einzelfälle wird suggeriert, dass Prävention allein Sache HIV-positiver Menschen wäre und diese letztlich die Verantwortung trügen, falls es zur Übertragung von HI-Viren käme.

Dannecker möchte nun mit seinem Präventionsansatz der „egoistischen Position“ die „geläufige Positionierung von verantwortlich und nicht verantwortlich umgehen“. Ich habe Zweifel, ob das gelingt. Dannecker überträgt die Aufgabe, für risikolose Sexpraktiken und/oder für die Benutzung von Kondomen zu sorgen, den vermeintlich und tatsächlich HIV-negativen Menschen, also zum Beispiel auch mir. Übernehme ich die Aufgabe nicht, bin ich nicht egoistisch genug und kommt es zu einer HIV-Übertragung, dann steht ganz automatisch der mir geltende Vorwurf im Raum, nicht wie empfohlen gehandelt zu haben und damit für die Folgen verantwortlich zu sein. Nun will ich mich nicht vor der Verantwortung für mein Wohlergehen und das der Menschen, mit denen ich sexuell interagiere, drücken. Ich gebe aber zu Bedenken, dass Präventionskonzepte, die für den Fall des Scheiterns im Einzelfall die Schuldfrage schon geklärt haben, nur schwer überzeugen können.

Es gibt noch andere Aspekte der „egoistischen Position“, mit denen ich mich nicht anfreunden kann:

Man kann sich um gelehrte Deutungen des Wortes „Egoismus“ bemühen, man kann den Begriff aber auch schlicht und ergreifend mit „Rücksichtslosigkeit“ übersetzen. Denn in der Tat ist ein egoistischer Menschen jemand, der auf die Belange und Interessen anderer keine Rücksicht nimmt; er stellt seine eigenen Wünsche und Ziele in den Vordergrund. Diese Wünsche und Ziele sind selten langfristige. Meistens geht es darum, Augenblicksziele zu verwirklichen. Konkret: „Ich will unter keinen Umständen positiv werden“, wird kaum Bestandteil einer auf lange Sicht angelegten, rationalen persönlichen Gesundheitsstrategie sein, sondern ist Zielvorstellung für das aktuelle Date, den One-Night-Stand, den Quickie. Damit entspringt die Unter-Keinen-Umständen-Haltung eher einer emotionalen Regung und berücksichtigt nicht die Belange des Sexpartners.

Auch wenn Sex heute eine leicht verfügbare Massenware ist – für schwule Männer obendrein fast immer kostenlos -, sehe ich in meinen Sexpartnern doch immer noch Menschen mit eigenen Wünschen und Vorstellungen. Das gilt auch, wenn der Kontakt, der sexuellen Kontakt nur eine halbe Stunde oder so andauert. Ich möchte von anderen Menschen als Mensch – und nicht als Fickmaschine – wahrgenommen werden und ich unterstelle meinen Sexpartnern, dass es ihnen nicht anders ergeht. Damit einhergehend möchte ich mir die Option auf kondomfreien Sex zumindest offen halten. Man mag diese Sichtweise als Gefühlsduselei abtun und dem unpersönlichen Orgasmus den Vorzug geben – eine Haltung, die sich gut mit dem von Dannecker erwähnten Egoismus paaren lässt. Man mag auch einwenden, dass gerade in Spontansexsituationen kaum ein anderes Schutzmittel als Kondome oder der Verzicht auf bestimmte Sexpraktiken verfügbar sei. Eine langwierige Diskussion über Serostatus und Infektiosität steht dem schnellen Sex jedenfalls im Wege.

Mitten im Wege steht aber auch die vermeintlich erfolgreiche Position (Dannecker!): „Ich will unter keinen Umständen positiv werden.“

Diese Haltung, konsequent umgesetzt, schließt viele Sexpraktiken, wenn nicht sogar jeden Sex aus. Es gibt keinen hundertprozentigen Schutz, schon gar nicht durch Kondome. Ich gehe soweit zu sagen, dass diese Position Selbstbetrug darstellt: Der Egoist hat zwar seinen kurzfristigen Willen durchgesetzt, weil zum Beispiel Kondome benutzt werden, wiegt sich aber in falscher Sicherheit, denn er erkennt nicht, dass er keine erfolgreiche Position, sondern eine gefährliche Risikoposition eingenommen hat. Mit einem vernünftigen Risikomanagement hat sie jedenfalls nichts zu tun. Risikomanagement heißt nicht, alle Risiken zu vermeiden, sondern (vereinfacht) Risiken zu bewerten und Risiken bewusst einzugehen. Welche Risiken eingegangen werden können, hängt von der persönlichen Risikotragfähigkeit und Risikobereitschaft ab. Man kann hierfür vielleicht Faustregeln aufstellen, aber keine allgemeingültigen Verhaltensmaßstäbe definieren.

Egoismus ist auf lange Sicht unergiebig. Wer alle Risiken beim Geschlechtsverkehr ausschließen will, darf keinen Sex haben, ebenso wie jemand, der alle Risiken beim Straßenverkehr ausschließen will, nicht am Straßenverkehr teilnehmen darf. Wer unter keinen Umständen etwas riskieren will, hört am besten auf zu leben.

Man mag meinen Risikomanagementüberlegungen ob ihrer abstrahierten Schilderung Lebensferne vorhalten. Ich halte entgegen, dass in zwei, drei Sätzen formulierte Empfehlungen oft auch nur den Anschein der Lebensnähe und Machbarkeit für sich haben. Zum Beispiel geht Danneckers Herleitung des Fruchtbaren, des Erfolgreichen offenbar von der Annahme aus, dass der Verzicht auf bestimmte Sexpraktiken und die Kondombenutzung für die allermeisten Männer kein Problem darstellt. Für mich stellt er aber ein Problem dar. Ich möchte ohne Kondome ficken und gefickt werden und ich möchte auf keine der mir liebgewordenen Sexpraktiken verzichten. Und ich biete meine Lebenserfahrung als Beweis an, dass ich mich damit nicht in einer verschwindend geringen Minderheit schwuler Männer befinde. Schon deshalb komme ich mit der Egoismus-Methode nicht weiter. Sie würde zu der paradoxen Situation führen, auf gewollte Sexpraktiken zu verzichten, um dann höchst egoistisch ungewollte, aber vermeintlich sichere Sexpraktiken und/oder die Benutzung von Kondomen durchzusetzen.

Ich möchte nicht missverstanden werden: Selbstverständlich können Kondome und Minimalsex für Sofortsexsituationen das Mittel der Wahl sein. Risikomanagementüberlegungen schließen das nicht aus – ganz im Gegenteil!

Dannecker stellt in dem Siegessäule-Interview, auf das sich ondamaris bezieht, zunächst den Egoismus als Präventionsmethode vor und meint, es gehe nur über die egoistische Schiene, um dann zu bekräftigen:

Die Vorstellung, es würde aus dem Altruistischen funktionieren, ist in dieser kapitalisierten egoistischen Kultur aberwitzig.

Wenn es tatsächlich so ist, dass wir in einer egoistischen Kultur, einer kapitalisierten gar, leben und dieser Zustand ein beklagenswerter ist – so jedenfalls verstehe ich Dannecker -, dann kann die Lösung doch nicht in noch mehr Egoismus bestehen. Mehr Egoismus bedeutet auch, mehr Verantwortung abschieben – also genau das Gegenteil dessen, was bezweckt werden soll.

Ich bezweifle allerdings schon, ob die Erkenntnis von der kapitalisierten egoistischen Kultur so pauschal richtig ist und für alle Bevölkerungsteile und alle Regionen Deutschlands gilt. Sicher haben die kulturellen, die wirtschaftlichen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Einfluss auf das Verhalten der Menschen – auf der Straße und im Bett. Ich hoffe es ist nur der gestauchten Interviewform geschuldet, aber allen schwulen Männern das Prädikat „egoistisch“ und damit „rücksichtslos“ aufdrücken zu wollen, geht an der Lebenswirklichkeit zahlloser schwuler Beziehungen, mögen sie ein Leben lang oder nur ein paar Stunden halten, vorbei und wird den Präventionsdiskurs kaum fördern können.

Positive gehen mit Polizei gegen Positiven vor

Zu einem bemerkenswerten Polizei-Einsatz gegen einen HIV-Positiven in Berlin heute ein Gast-Kommentar von Michael:

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Positive gehen mit Polizei gegen Positiven vor

Am 20.06. 11.07.2011 fand im Café PositHiv das Positivenplenum der Berliner Aids-Hilfe (BAH) statt, besucht von fast 40 Mitgliedern und Nutzern von Angeboten der BAH.

In der Pause, zwischen einem Vortrag von Renate Künast und versuchter (aber mangels erzielter Mehrheiten gescheiterter) Neuwahl der Positivensprecher, tauchten 3 Polizisten am Versammlungsort auf. Sie waren herbeigerufen worden – vom wem? Vom teils persönlich anwesenden BAH-Vorstand ?, vom ebenfalls anwesenden HIV-Referenten der BAH ?, oder von einem der Betreiber des Café PositHiv ?

Diese drei Polizisten waren gerufen worden, um ein Hausverbot gegen einen auf diesem Positivenplenum anwesenden HIV-Positiven und ehemaligen Positivensprecher durchsetzen. Und dies taten sie auch. Er, der bis zu diesem Zeitpunkt an diesem Plenum ohne Störungen und friedlich teilgenommen hatte, ging erst, nachdem die Polizisten ihm Gewalt angedroht hatten. Der Großteil der Anwesenden kümmerte sich überhaupt nicht darum und benahm sich so, als sei ein solcher Vorgang ganz normal.

Dieser Positive wurde letztes Jahr vom Plenum der Berliner HIV-Positiven zum Positivensprecher gewählt. Er wurde dann aber nach wenigen Wochen Tätigkeit als Positivensprecher aus der BAH ausgeschlossen, weil – wie ich hörte – er unter seinem Pseudonym Mitglied wurde und der Vorstand sich getäuscht fühlte.So jedenfalls sei die offizielle Begründung. Dieser ehemalige Positivensprecher erhielt daraufhin sogar Hausverbot für die BAH. Dieses Hausverbot wurde nun wohl im Café PositiHiv (einer Einrichtung der BAH) mit Hilfe der Polizei durchgesetzt.

Ein Vorgang, den ich als Skandal empfinde.

Erstens sollte sich jeder Positive schämen, der Polizei gegen einen anderen Positiven einsetzen läßt. Diese Polizei hat schon Positive verhaftet, weil sie angeblich willentlich andere infiziert hätten. Eine solche Kraft hat in Versammlungen von Positiven positiv nichts zu suchen.

Zweitens, ist es Ausdruck der – auch von uns selbst – so oft eingeforderten Solidarität, einen von uns, einen HIV-Positiven aus einen Positiven-Plenum auszuschließen? Wie geht das zusammen? Wie viel Kritik und andere Meinung halten wir aus? (Zumal die betreffende Person sich während des Plenums völlig friedfertig verhielt).

Als skandalös empfinde ich auch, dass der Großteil der Anwesenden einfach herum stand, alles geschehen ließ und nicht eingriff. Als nach der Pause ein Anwesender ironisch dazu aufrief, einfach einen der Polizisten zum Versammlungsleiter zu machen, gab es auch dazu keine Reaktion.

Die betreffende Person hatte Hausverbot, war aus dem Verein ausgeschlossen worden. Zu dem Plenum haben auch Nicht-Mitglieder Zutritt, bleibt also das Haus-Verbot. Was für mich die Frage aufwirft: was berechtigt eine Organisation, die für Menschen mit HIV arbeitet und sich einsetzt, einem solchen Hausverbot zu erteilen? Hat er „goldene Löffel geklaut“? Ich glaube kaum. Hat er Gewalt in der BAH ausgeübt, sich sexistisch, nazistisch verhalten? Soweit ich weiß, auch nicht.
Ich höre, er habe ein Pseudonym benutzt im Mitgliedsantrag, dies sei der Grund des Ausschlusses. Nun, sollte nicht jede/r Positive wissen, in welchem ‚diskriminierungsfreundlichen‘ Land er/sie hier lebt? Kann ein Pseudonym nicht ein legitimes Mittel sein, sich zu schützen? Stand nicht bisher auch Aidshilfe oft ein für das Recht auf Anonymität?
Oder gab es ganz andere Gründe hinter dem Hausverbot? Ich höre Gerüchte, er sei halt sehr aktiv gewesen, habe sich mit möglichen Durchstechereien und Vetternwirtschaft auseinander gesetzt. Nun, Transparenz – hatten wir sie nicht selbst immer wieder gefordert?

Was ist mit einer AIDShilfe los, die mit Polizei gegen einen Positiven vorgeht?
Kann es ein Positiven-Plenum hinnehmen, dass gegen eines ihrer eigenen Mitglieder mit Polizei vorgegangen wird?
Ich frage mich, wenn wir dieses hinnehmen, wird dann bald auch die Polizei ins Positivenplenum gerufen, um nichtdeutsche Positive ohne Papiere abschieben zu lassen?

Ich empfinde dies alles als einen äußerst abstoßenden Vorgang.
Und das bisherige weitestgehende Schweigen der Positiven hierüber bedrückt mich.

Mir stellt sich hier die Frage: Was soll überhaupt noch ein Positivenplenum dieser Art? Welche Interessen vertritt es?

Sehr zornig

Michael

„treatment as prevention“ – Konzept mit latent freiheitseinschränkenden Tendenzen?

Aids-Forscher, Epidemiologen, Gesundheits-Politiker, Pharma-Industrie – sie alle diskutieren zunehmend und zunehmend begeistert ein neues Präventions-Konzept, ‚treatment as prevention‘. „treatment as prevention. Die Erfolge von HPTN052 wurden diskutiert; was sind die nächsten Schritte?“, wird schon begeistert auf der 6. Internationalen Konferenz der IAS in Rom gefragt (was manchem Beobachter zynisch erscheinen mag, wenn gleichzeitig Millionen HIV-Positiver weltweit die Aids-Medikamente, die sie dringend benötigen, nicht erhalten).

‚treatment as prevention‘  ist eine Umsetzung des EKAF-Statements und seiner Konsequenzen auf die Prävention: wenn bei HIV-Positiven durch eine erfolgreiche antiretrovirale Therapie (ART) die Infektiosität drastisch sinkt – müsste es dann nicht möglich sein, durch eine möglichst weitreichende und umfassende Behandlung aller HIV-Positiven die Zahl der HIV-Neuinfektionen nahe Null zu bringen?

Für die Pharma-Industrie scheint ein Traum wahr zu werden – Gesunde nehmen Medikamente. Und auch in Positiven- und Aidshilfe-Kreisen werden dieses Konzept und seine potentiellen Konsequenzen diskutiert. Eine dringend notwendige Debatte. Darf man aus Nebenwirkungen der ART „präventives Kapital“ schlagen?, fragte das DAH-Blog vor einigen Tagen. Corinna Gekeler und Karl Lemmen vertraten pro und contra, versuchten jeweilige Argumente aufzuzeigen.

Ein Gedanke wird meines Erachtens in der Debatte bisher zu wenig, und von Menschen mit HIV zu wenig beachtet: wohnt dem Konzept „treatment as prevention“ gravierende Beschränkung von Freiheitsrechten inne?

Warum dies?

Damit „treatment as prevention“ wirklich funktionieren kann (sprich: die Zahl der HIV-Neuinfektionen deutlich gesenkt wird), sind zahlreiche Prämissen zu erfüllen:

  • die Rate an HIV-Tests muss deutlich gesteigert werden, und
  • die Zahl der nicht als solche diagnostizierten Menschen mit einer HIV-Infektion muss auf ein Minimum reduziert werden, und
  • die Menschen, bei denen eine HIV-Infektion diagnostiziert wird, müssen möglichst alle und möglichst sofort an HIV-Behandlungszentren angebunden werden, und
  • sie müssen alle möglichst zügig antiretrovirale Therapie erhalten, und
  • sie müssen sämtlich angehalten werden, diese Medikamente auch entsprechend den Richtlinien einzunehmen, und
  • ihre Gesundheit und Werte müssen regelmäßig überwacht werden, um sicherzustellen, dass ihre Viruslast unter der Nachweisgrenze bleibt.

Wenn nur eine dieser Prämissen nicht erfüllt werden kann, gerät das Ziel einer deutlichen Senkung der HIV-Neuinfektions-Rate bereits in’s Wanken: wenn nur eine Bedingung suboptimal erfüllt ist, wird die Zahl der HIV-Positiven, die aufgrudn von ART nicht-infektiös sind, zu deutlich sinken.
Nur wenn alle oben genannten Prämissen erfüllt sind, wird sich mit „treatment as prevention“ die Zahl der HIV-Neuinfektionen deutlich senken lassen.

Doch – zu welchem Preis?

Was wird aus

  • dem Recht, als HIV-Positiver selbst zu entscheiden, ob ich eine Therapie beginnen will?
  • dem Recht, eine Therapie erst dann zu beginnen, wenn sie medizinisch erforderlich ist – und  nicht, wenn und wann es „der Volksgesundheit dient“?
  • dem Recht, eine Therapie zu unterbrechen (unabhängig von medizinischer Sinnhaftigkeit – was wird aus dem Recht, es aus welchen Gründen auch immer als Patient zu tun)?
  • dem Recht, vor dem beginn einer ART zunächst andere Verfahren z.B. aus dem Bereich der alternativ-komplementären Medizin ‚auszuprobieren‘?
  • um nur einige Beispiele zu nennen …

Und wenn ‚treatment as prevention‘ salonfähig wird, sich breit durchsetzt – was wird aus denjenigen HIV-Positiven, die sich widersetzen? Die nicht oder noch nicht Medikamente nehmen wollen? Werden sie zu den neuen Parias der HIV-Epidemie?

Die Freiheit droht bei diesem Konzept auf der Strecke zu bleiben – insbesondere auch Freiheiten, die für Positive heute eine Selbstverständlichkeit scheinen.

Dies sind nur einige erste Fragen an das Konzept ‚treatment as prevention‘, und vermutlich nicht die letzten.

Schon diese ersten Fragen zeigen eines:
es ist in massivem Interesse von uns HIV-Positiven, sich mit diesem Konzept auseinander zu setzen, Positionen zu diskutieren und finden und sie zu vertreten – bevor andere vollendete Tatsachen schaffen.

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siehe auch
Der Teilzeitblogger 26.07.2011: Therapiezwang: Volksgesundheit vs. Entscheidungsfreiheit!

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