Egoismus als Mittel der HIV-Prävention ?

Die ‚egoistische‘ Haltung „ich will nicht HIV-positiv werden“ – kann sie Mittel der Prävention sein? Martin Dannecker schlägt genau dies vor, und begründet.

Unter dem Titel ‚Lustprinzipien‘ behandelt die aktuelle Ausgabe des Berliner Homo-Magazins ‚Siegessäule‘ verschiedene Aspekte des Lebens mit HIV heute. Highlight des HIV-Schwerpunkts: das Interview mit dem Sexualwissenschaftler Martin Dannecker.

Der seit einigen Jahren in Berlin lebende Sexualwissenschaftler Martin Dannecker schlägt in diesem Interview vor

„Es gibt eine radikale Position, die man im Zusammenhang mit Prävention vertreten kann: die egoistische Position. Unter Schwulen ist es doch klar: Jeder, der eine HIV-Infektion nicht wenigstens stillschweigend in Kauf nimmt, kann nachhaltig darauf bestehen, dass entweder ein Kondom eingesetzt wird oder bestimmte Sachen nicht gemacht werden.“

und begründet dies

„ich glaube, es ist das Fruchtbarere, die erfolgreichere Position, wenn ich sage, ich will unter keinen Umständen positiv werden und setze daher meinen Egoismus durch. Von Egoismus zu sprechen hat etwas Erleichternderes, weil es die geläufige Positionierung von verantwortlich und nicht verantwortlich umgeht.“

Martin Dannecker
Martin Dannecker

Foto: Martin Dannecker im Juli 2008 bei einer Talk-Runde zum Thema ’25 Jahre Deutsche Aids-Hilfe‘ auf dem 126. Bundes­weiten Positiventreffen im Waldschlößchen

Dannecker äußert sich auch zur Frage von Schuld-Zuschreibungen (Negative / Ungetestete erwarten von HIV-Positiven, ihre Infektion vorher mitzuteilen, machen Positive (allein) verantwortlich für Schutz):

„Dass viele real oder vermeintlich Negative die Positiven für ihre eigene sexuelle Sicherheit verantwortlich machen, ist eine reine Delegation. Und wie löst man das als Positiver auf? Indem man sich bewusst macht, dass man diese zugeschriebene Schuld nicht anzunehmen braucht.“

Zur Frage, welche Bedeutung das EKAF-Statement (siehe „keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs„) heute für sexuelle Begegnungen und strafrechtliche Relevanz hat, äußert Dannecker

„Wenn man unter der Nachweisgrenze ist, wird das in Zukunft auch strafrechtsrelevant werden. Zum Teil ist es schon so, wie ich von Ärzten gehört habe, die Gutachten erstellt haben. Kommt man dadurch aus dem Geständniszwang raus? Wenn ich mit guten Gründen annehmen kann, dass ich nicht mehr infektiös bin, muss ich es dann in bestimmten Kontexten bei kurz- oder längerfristigen Begegnungen überhaupt noch sagen? Die Antwort lautet, bei allen Restrisiken, eher nicht.“

In der aktuellen Ausgabe der Siegessäule schildern zudem fünf junge Positive „ihre ganz persönliche Sicht auf das Leben mit HIV“ (unter ihnen auch ondamaris-Autor ‚Knut‘ („sei wütend!„)), wird Nikolaj Tange Lange („The Bareback Issue“) interviewt, und Carsten Schatz, erster offen HIV-positiver Landtags-Kandidat, lädt Menschen mit HIV ein „Zeigt euch!“.

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Ein unbedingter Lese-Tipp!

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„Egoismus zum Selbstschutz“
Martin Dannecker interviewt von Peter Rehberg und Sirko Salka
Siegessäule, Ausgabe August 2011
Seiten 16 bis 18
online als pdf hier

Geschäftspartner als HIV-positiv bezeichnet – Kündigung

Seine Vorgesetzte habe die Nacht mit einem Geschäftspartner verbracht, und der sei HIV-positiv. Sie wisse ja, was sie sich da eingefangen habe. Diese Behauptungen brachten einem 52jährigen Sachbearbeiter in einem Zulieferbetrieb der Automobil-Industrie Klagen wegen Verleumdung und die Kündigung.

Die Kündigung wurde Mitte Juni 2011 vom Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein bestätigt (5 Sa 509/10). Das Landesarbeitsgericht informierte in einer Pressemitteilung:

„Der 52-jährige Kläger war bei der Beklagten, einem Zuliefererbetrieb für die Automobilbranche, seit 1986 als Sachbearbeiter beschäftigt. Seit der Trennung von seiner Familie befand sich der Kläger kurzfristig Mitte 2008 in ambulanter psychologischer Behandlung. Von Ende 2008 bis Mitte 2009 war er aufgrund eines psychischen Zusammenbruchs arbeitsunfähig. Am 08.02.2010 ermahnte die Beklagte den Kläger, seine fortlaufenden anzüglichen Bemerkungen gegenüber dem weiblichen Personal zu unterlassen. Als der Kläger zwei Tage später die mit ihm im Großraumbüro zusammen tätige Vorgesetzte und weitere Arbeitnehmerinnen mit den Worten „Besser eine Frau mit Charakter, als drei Schlampen“ beleidigte, mahnte die Beklagte ihn ab. Am 25.02.2010 forderte der Kläger seine Kollegen und Kolleginnen trotz der Mittagspause auf, zu bleiben, da er gleich eine „Bombe platzen“ lassen würde. Als seine Vorgesetzte erschien, behauptete er, dass sie die Nacht bei einem Geschäftspartner verbracht habe. Er habe ihr Auto gesehen und sie, die Vorgesetzte, wisse ja, dass der Mann HIV positiv sei und was sie sich damit jetzt eingefangen habe. Sowohl die Vorgesetzte als auch der Mann stritten dies ab und stellten gegen den Kläger Strafanzeige wegen Verleumdung. Die Beklagte kündigte dem Kläger aufgrund dieses Vorfalles fristlos. Das Arbeitsgericht Neumünster wies die Kündigungsschutzklage zurück. Im Berufungsverfahren wandte der mittlerweile unter Betreuung stehende Kläger lediglich ein, dass während eines Klinikaufenthalts im April und Mai 2010 festgestellt worden sei, dass er manisch-depressiv sei und auch am 25.02.2010 schuldlos gehandelt habe. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen.

Zur Begründung hat das Landesarbeitsgericht ausgeführt, dass es nicht darauf ankommt, ob die Vorgesetzte tatsächlich bei dem Geschäftspartner übernachtet hat, denn aufgrund der konkreten Umstände und der süffisanten Diktion der klägerischen Unterstellungen hat er seine Vorgesetzte grob beleidigt. Er hat nicht nur eine Tatsachenbehauptung aufgestellt, sondern wollte die Vorgesetzte gezielt bloßstellen, indem er vermeintliche Intimitäten in deren Anwesenheit den Kollegen gegenüber preisgibt. Der Kläger ist auch bereits einschlägig abgemahnt worden. Zwar setzt eine verhaltensbedingte fristlose Kündigung in der Regel ein schuldhaftes Verhalten des Arbeitnehmers voraus. Indessen ist es der Beklagten nicht zumutbar, die durch den Kläger andauernd sexuell gefärbte grobe Beleidigungen verursachte erhebliche Störung des Betriebsfriedens und der betrieblichen Ordnung auch künftig hinzunehmen, selbst wenn der Kläger am 25.02.2010 schuldlos gehandelt haben sollte.“

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weitere Informationen:
Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein 17.06.2011: Fristlose Kündigung trotz möglicher Schuldunfähigkeit
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Welt-Aids-Konferenz Wien: Kurz-Berichte 19.07.2010 (akt.2)

In Wien findet vom 18. bis 23. Juli 2010 die XVIII. Welt-Aids-Konferenz statt. Im Folgenden Kurzberichte über einige wichtige Themen, die auf der Konferenz behandelt wurden. Diese Übersicht wird im Verlauf der Konferenz fortlaufend aktualisiert.

Kriminalisierung der HIV-Infektion: Europa und USA an trauriger Spitzen-Position

Weltweit wurden bisher mindestens 600 Menschen deswegen verurteilt, weil sie HIV übertrugen oder andere Personen dem Virus aussetzten. Die bei weitem meisten Verurteilungen seien in Nordamerika und Europa erfolgt, wurde über einen ‚global criminalisation scan‘ von GNP+ (Global Network of People Living with HIV) berichtet.
Die Vortragende, Moono Nyambe, betonte, Norwegen und Schweden seien weltweit ‚führend‘, wenn man die Anzahl der Verurteilungen in Relation setze zur Zahl der Menschen mit HIV, die im jeweiligen Land leben.

GNP+: Global Criminalisation Scan
aidsmap 19.07.2010: North America and Western Europe lead the world in criminalising HIV transmission and exposure

Heilung von HIV muss Priorität werden

Eine Heilung von HIV sei wissenschaftlich machbar und zudem zunehmend notwendig, betonte Sharon Lewin von der Monash University in Melbourne.
Auch wenn die antiretrovirale Therapie zunehmend erfolgreich sei, die chronischen Entzündungsprozesse trügen dazu bei, dass auch erfolgreich therapierte HIV-Positive an Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden und stürben. Zudem sei antiretrovirale Therapie nicht bei jedem Patienten eine machbare Langzeit-Lösung.
Auf einer Vor-Konferenz hatte Dr. Gero Hütter erneut über die ‚Heilung‘ des so genannten ‚Berlin Patient‘ berichtet. Die zeige, dass Ansätze der Heilung machbar seien.
Die Deutsche Aids-Hilfe kommt in Sachen ‚Berlin Patient‘ zu dem Fazit „Das Verfahren ist nicht allgemein auf andere HIV-Positive übertragbar. Dazu ist die Therapie zu gefährlich und nebenwirkungsreich. Aber in der Charité scheint die erste Heilung eines HIV-Patienten gelungen zu sein.“
Medizin-Nobelpreisträgerin Francois Barré-Sinoussi hingegen skeptisch, hält das völlige Entfernen von HIV aus dem Körper eines Infizierten für “sehr schwer bis unmöglich“.

aidsmap 19.07.2010: Cure for HIV infection must now be major scientific priority, Vienna AIDS conference hears
vienna.at 18.07.2010: HIV- Entdeckerin: Heilung eher unmöglich
ondamaris 03.06.2010: Auszeichnung für Berliner Arzt – für “erste funktionale Heilung von HIV/Aids”
POZ 19.07.2010: Strategies for a Cure Reviewed in Vienna
blog.aids2010 21.07.2010: Towards a Cure: HIV Reservoirs and Strategies to Control Them
DAH 29.07.2010: Was macht eigentlich … der „HIV-Geheilte“?

Schroffe Einstellungen Treiber der HIV-Epidemie in Ost-Europa

Eine ‚Untergrund-HIV-Epidemie‘ nehme in Ost-Europa und Zentral-Asien inzwischen ein beängstigendes Ausmaß ein, betonte UNICEF. Drogengebrauch, risikoreicher Sex und gravierende soziale Stigmatisierung seien die Haupt-Gründe. Die Verantwortlichen im Sozial- und Gesundheitsbereich in zahlreichen Staaten unternähmen kaum etwas für junge Menschen, stattdessen seien diese Kriminalisierung und Strafverfolgung ausgesetzt, selbst wenn sie sich um HIV- und Präventions-Informationen bemühen.

UNICEF 19.07.2010: Young of Central Asia and Eastern Europe suffering Blame and Banishment
Aids Treatment News 19.07.2010: Harsh attitudes fuel Eastern Europe HIV epidemic
SpON 19.07.2010: Unicef-Studie: Osteuropa droht Aids-Epidemie
UNICEF 19.03.2010: HIV-positive Kinder und Jugendliche ausgegrenzt und diskriminiert
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Kurz notiert … Juni 2010

28. Juni 2010: In Kiel wird ein 47jähriger HIV-positiver Mann zu fünf Jahren Haft verurteilt wegen vollendeter sowie gefährlicher Körperverletzung.

25. Juni 2010: Ist einer Heilung von HIV/Aids möglich? Kann HIV komplett wieder aus dem Körper entfernt werden? Das US-amerikanische Magazin Technology Review untersucht diese Frage in einem umfangreichen Artikel „Can AIDS be cured?“

24. Juni 2010: Eine Kommission der Vereinten Nationen soll sich zukünftig einsetzen gegen Gesetze, die HIV-Positive und Aids-Kranke diskriminieren.

22. Juni 2010: Auch Aidshilfen können insolvent werden (auch wenn die Malaise in diesem Fall bereits eine längere Vorgeschichte hat): Aids-Hilfe steht vor dem Aus

19. Juni 2010: Courage beim Berliner CSD. Die Veranstalter wollen Judith Butler, Gender-Theoretikerin aus den USA, mit dem Zivilcourage-Preis ehren – und Butler lehnt auf der Bühne ab, der CSD sei zu kommerziell und richte sich nicht gegen wichtige Problem wie Rassismus oder doppelte Diskriminierung, z.B. von homo- oder transsexuellen Migrant/innen: Judith Butler nimmt Preis nicht an

17. Juni 2010: Kondome bei der Fußball-WM 2010 in Südafrika, oder nicht?: Erst gegen Aufklärung. Jetzt plötzlich dafür, als sei nichts gewesen. – Endlich: Fifa gegen Aids.

15. Juni 2010: Nadja Benaissa hat eine Biografie verfasst. „Alles wird gut“ soll am 9. September erscheinen. Zuvor muss sich die Pop-Sängerin vor Gericht verantworten, am 16. August beginnt ihr Verfahren wegen des Vorwurfs gefährlicher Körperverletzung.
Die Einwohner von St. Petersburg (und der Rest der Welt) staunen über die Penis-Brücke.

12. Juni 2010: schwule Feuerwehrleute willkommen? – „Deutscher Feuerwehrtag Leipzig – Feuerwehr weltoffen und tolerant – Homosexualität als Thema auf der Interschutz“

10. Juni 2010: In Frankreich häufen sich Probleme mit der Medikamenten-Versorgung bei anti-HIV-Therapien. „Antirétroviraux: des ruptures de stocks en France“
Deutschland blockiere immer noch die Anti-Diskriminierungs-Richtlinie der EU, klagen (nicht nur) EU-Vertreter: „Brussels keen for Berlin to unblock EU gay rights law“.

9. Juni 2010: Kleinkrieg in der Aids-Arbeit in Brandenburg? „Kontrovers – Krieg im Präventionsmilieu“, berichtet blu.

8. Juni 2010: Steiermark: Mutter vor Gericht. Sie hatte ihr HIV-positives Kind nicht behandeln lassen wollen, trotz lebensbedrohlicher Lungenentzündung. Heute steht die ‚Anhängerin eines bekannten Wunderheilers‘ in Graz vor Gericht: „Körperverletzung – Mutter von HIV-Baby heute vor Gericht“
Reifungs-Inhibitoren sind eine neue Substanzklasse mit einem völlig neuen Ansatz gegen HIV – dich der einzig verbleibende Hersteller hat nun die Entwicklung vorerst gestoppt. man wolle für die weitere Entwicklung der Substanzklasse einen Partner suchen. „Myriad halts HIV maturation inhibitor drug programme“

7. Juni 2010: Muss Chemotherapie bei HIV-Positiven unter HAART mit Krebs-Erkrankungen anders dosiert werden? „People on HIV Meds Might Need Different Chemo Doses for Cancer“, berichtet POZ vorab über ein Poster auf der Jahreskonferenz der American Society of Clinical Oncology (ASCO).

5. Juni: Infizierte ein Akupunkteur in der Schweiz zahlreiche Menschen mit HIV, womöglich mit Absicht? Was bisher ein Verdacht ist, formuliert die Boulevard-Presse als vermeintliche Tatsache: „Heiler steckte 18 Menschen mit Aids an“.

4. Juni 2010: Anlässlich der Fußball-WM in Südafrika: Philipp Lahm ruft Fans zu Schutz vor HIV/Aids auf

3. Juni 2010: Bio-Terrorismus-Vorwürfe gegen HIV-Positive auch in den USA, nicht nur in Deutschland. Vorwürfe, die gegen einen HIV-Positiven unter Verwendung eines staatlichen Bioterrorismus-Gesetzes erhoben wurden, wurden nun niedergerschlagen. „Activists, advocates applaud dismissal of bio-terrorism charges“, berichtet The Michigan Messenger.

2. Juni 2010: Annie Lennox wird zum International UNAIDS Goodwill Ambassador ernannt.

1. Juni 2010: Outing oder nicht Outing? Mit der „Ethik und Etikette des Outing“ beschäftigt sich aus aktuellem Anlass Timothy Kincaid auf Box Turtle Bulletin: „The ethics and etiquette of outing

Droht eine Rückkehr des Problems der Resistenzen, falls HIV-Medikamente in großem Umfang zur ‚Prä-Expositions-Prophylaxe‘ (PrEP) eingesetzt werden? „Treatment and PrEP could be on a ‘collision course’, warns resistance expert“, berichtet aidsmap.

USA: zwei Bundesstaaten „grausam und menschen- unwürdig“ zu HIV-positiven Häftlingen (akt.)

In den US-Bundesstaaten Alabama und South Carolina werden HIV-infizierte Häftlinge „grausam, inhuman und menschenunwürdig“ behandelt, betonen zwei US-Menschenrechtsorganisationen in einem neuen Bericht.

Alabama und South Carolina verstoßen gegen internationales Recht, indem sie HIV-Zwangstests bei Häftlingen vornehmen und anschließend HIV-positiv getestete Gefangene absondern und isolieren.

In Alabama müssen HIV-positive Insassen einem Bericht der New York Times zufolge weiße Armbänder tragen und sind in besonderen Bereichen untergebracht. In South Carolina trügen HIV-positive männliche Insassen einen blauen Punkt auf ihren Ansteckern und seien im Hochsicherheitsbereich untergebracht. HIV-positive Frauen müssten den Namen des ‚HIV/AIDS Schlafbereichs‘ auf ihrer Häftlingsuniform tragen.

Dies kritisieren die beiden US-Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch (HRW) und Amercan Civil Liberties Union (ACLU) in ihrem am 14.04.2010 vorgelegten Report „“Sentenced to Stigma: Segregation of HIV-Positive Prisoners in Alabama and South Carolina“.

Sentenced to Stigma (ACLU & HRW)
Sentenced to Stigma (ACLU & HRW)

Dem Bericht zufolge werden HIV-positive Gefängnisinsassen gezwungen, Armbänder zu tragen, die sich von denen anderer Gefangene unterscheiden – um auf ihren HIV-Status aufmerksam zu machen. HIV-positiven Gefangenen würde zudem eine adäquate Beteiligung an Beschäftigungsprogrammen im Knast verwehrt, ebenso wie eine Teilnahme an Wiedereingliederungs-Programmen für die Zeit nach der Haft.

Ähnliche Regelungen seien bis vor kurzem auch in einem dritten US-Bundesstaat, in Missouri, angewandt worden. In Missouri sind derzeit 152 HIV-Positive inhaftiert. Noch vor Publikation des Berichts seien aber die stigmatisierenden Praktiken beendet worden.

Human Rights Watch und die American Civil Liberties Union forderten Alabama und South Carolina auf, die stigmatisierende und menschenunwürdige Behandlung HIV-positiver Gefängnisinsassen unverzüglich einzustellen.

Das Departmen of Corrections des Staates South Carolina begründete Presseberichten zufolge seine als stigmatisierend kritisierten Regelungen inzwischen mit dem Schutz vor weiterer Verbreitung von Krankheiten sowie dem Bemühen, Insassen die bestmögliche Gesundheitsversorgung zukommen zu lassen. Man sehe keinen Grund, die Regelung zu ändern:

„In response, the S.C. Department of Corrections defended the practice, saying its intent is to prevent the disease’s spread inside prison walls and to provide the best possible health care for inmates.
Our system provides quality health care and treatment to HIV-positive inmates at the lowest possible cost, and it protects the public, our staff and inmates from the spread of the disease,“ Josh Gelinas, the Corrections Department spokesman, wrote in an e-mailed response to the report. „We can’t think of any reason to change such a successful system.“

Allein in South Carolina sind Angaben des Department of Corrections zufolge 420 Männer und Frauen mit HIV in Haft.

Auch das Alabama Department of Corrections verteidigte inzwischen seine Regelungen in einem Schreiben an die ACLU. HIV-positive Insassen würden nicht diskriminiert. Die Verwendung spezieller Armbänder für HIV-Positive in der Haftanstalt Tutwiler  sei inzwischen eingestellt worden. Sofern die Sicherheit es zulasse, dürften auch HIV-positive Insassen der Haftanstalt Tutwiler sich nun frei auf dem Anstaltsgelände  bewegen. Der Ausschluss von HIV-Positiven von Arbeitsmassnahmen in der Haftanstalt Limestone diene deren eigener Sicherheit. Die Insassen selbst hätten sich zu 80% gegen einen Einsatz HIV-positiver Mit-Insassen in der Küche ausgesprochen.

weitere Informationen:
NYT 14.04.2010: Groups Protest Segregation of Inmates With H.I.V.
aegis 14.04.2010: Report says HIV inmate segregation in two U.S. states
ACLU: „Sentenced to Stigma: Segregation of HIV-Positive Prisoners in Alabama and South Carolina“ (pdf)
The State 15.04.2010: S.C. defends HIV policy for inmates
Alabama Department of Corrections Brief an die ACLU vom 12.04.2010 (pdf)
Picayune Item 19.03.2010: MDOC to end segregation of HIV inmates
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Die Sehnsucht nach Normalisierung und die untilgbare Schuld

Die HIV-Infektion, einst Anzeichen einer medizinisch hilflosen Situation, eines drohenden körperlichen Desasters, wird zunehmend behandelbar. Die Erfolge der medizinischen Forschung sind unübersehbar. Medikamente gegen das HI-Virus werden zunehmend stärker wirksam, Nebenwirkungen treten in ihrer Bedeutung immer mehr in den Hintergrund. Die Lebenserwartung eines und einer HIV-Infizierten nähert sich immer mehr der einer nicht infizierten Person an, und die Beeinträchtigung der Lebensqualität durch Nebenwirkungen der Therapie werden immer mehr minimiert. HIV wird zu einer chronischen Erkrankung, zu einer ‚manageable disease‘. Mit ein wenig Glück werden zudem wirksame Therapien (vielleicht sogar nicht nur in den Industriestaaten) einst auch zu gesundheitspolitisch beherrschbaren Kosten zur Verfügung stehen. Zeichen einer zunehmenden medizinischen und gesundheitspolitischen ‚Normalität‘.

Die Folge: es ist ein Zukunftsszenario denkbar -und nicht in allzu weiter Ferne-, in der die Frage, ob ich HIV-infiziert bin, aus medizinischer und Public Health – Sicht nicht nur ihre Dramatik verliert, sondern zunehmend weniger relevant wird. Ob ich HIV habe oder nicht – eine Frage des Zugangs zum Medizinsystem, eine Frage guter Ärzte und wirksamer Pillen.

Die Folgen für Aids-Hilfe? Zweierlei Szenario wäre etwas vereinfacht denkbar:
Für diejenigen, die der Ansicht sind, Ziel von Aids-Hilfe sei es, die Zahl der Neuninfektionen zu reduzieren, womöglich gar auf Null zu bringen, wird ein Problem entstehen. Die Grundhypothese ihrer Arbeit wird ihnen auf die Füße fallen: wenn die HIV-Infektion eine ‚manageable disease‘ sein sollte, eine mit wenigen und eher (biomedizinisch, gesundheitsökonomisch) konsequenzenarmen Folgen behandelbare chronische Infektion – dann ist eine höhere Zahl an Neuinfektionen kein Skandal mehr, dann wird das Ziel der drastischen Senkung der Neuinfektionszahlen unbedeutender. Niemand finanziert mit hohen Millionenbeträgen eine Organisation, die sich der Reduzierung der Neuansteckungen mit Husten und Schnupfen widmet.
Für die Vertreter der anderen, Gesundheits-orientierten Haltung wäre die Konsequenz eine andere: Aids-Hilfe wird zu einer Organisation, die sich der Frage widmet, welchen Begriff ich von Gesundheit habe, welche Bedeutung Gesundheit für mein Leben hat, und wie ich ich sie erhalte, fördere oder wieder herstelle.
Aids-Hilfe verliert das Skandalon des „Aids“ in ihrem Namen. Aids-Hilfe wird in dieser Konstellation zu ‚Gesundheits-Hilfe‘ für bestimmte (vielleicht: marginalisierte?) gesellschaftliche Gruppen.

Alles in Butter also, und die Frage lautte angesichts der ‚Normalisierung‘ nur, ob Aids-Hilfe, egal ob als Bundes-Verband oder vor-Ort-.Organisation, untergehen, sprich bedeutungslos werden oder sich selbst auflösen wird, oder ob sie sich an Veränderungen anpassen will?

Nicht ganz.
Ein kleines Problem bleibt.
Einige kleine Fragen.

Wenn HIV eine recht unkompliziert behandelbare und vergleichsweise konsequenzenarme Erkrankung werden sollte (oder, im Empfinden einiger HIV-Infizierter, heute schon ist), warum machen wir uns dann solche einen Kopf darum?
Warum überlegen wir so intensiv, jeder HIV-Positive für sich, wem erzähle ich von meiner Infektion, wem vertraue ich es, mich an – und wem lieber nicht?
Warum wird für uns die Frage immer wieder essentiell, wie offen lebe ich mit HIV?
Warum klagen viele HIV-Positive, seit ihrem positiven HIV-Status, so sie ihn nicht völlig für sich behalten, zunehmend Probleme haben Sex-Partner zu finden, guten, ihren Wünschen und Sehnsüchten entsprechenden Sex zu haben?
Und warum machen sich immer wieder Menschen Gedanken, wie sie mit HIV am Arbeitsplatz umgehen sollen (ersatzweise: bei der Suche nach Arbeit)?
Die Liste der Fragen nach dem ‚warum‘ ließe sich fortsetzen …

Und die Liste der Fragen zeigt: So normal ist es scheinbar doch nicht, mit HIV infiziert zu sein – selbst nicht bei wirksamsten Pillen.
Irgend etwas an HIV ist anders als bei Schnupfen, Mundgeruch und Fußpilz.
Irgend etwas ist an HIV, das nicht nur mit der Medizin zu tun hat.
Irgend etwas, das weitreichende persönliche Konsequenzen hat – und durch Pillen nicht bekämpft wird.
Es ist ein Makel an HIV, genauer daran, HIV-infiziert zu sein.
Die Tatsache, HIV-infiziert zu sein, zeigt etwas an.
Sie zeigt an: Abweichung von der Norm. Männerliebe, Drogengebrauch, Dreck, Blut, Sex, Scheisse, Drogen. Einen Ausstieg aus einem gesellschaftlichen Normsystem. Einen Ausstieg, der längst vor dem Offenbaren des HIV-Status vollzogen wurde. Ich bin HIV-infiziert, weil (in Folge)  ich diesen Normen-Ausstieg längst vollzogen habe, den Ausstieg aus der Norm gesellschaftlichen Zusammenlebens, die sich bewegt irgendwo im Nebel zwischen „du sollst nicht mit Männern ficken“, „du sollst Kinder zeugen und dich fortpflanzen“, „du sollst nicht den Rausch genießen“, „du sollst nicht hemmungslos sein“.
Ein Normenausstieg, nebenbei, der nicht nur von Menschen mit HIV ‚begangen‘ wird, sondern von vielen anderen. Weswegen die Frage nach der Bedeutung dieses Normausstiegs, nach dem Umgehen, nach den Konsequenzen eben auch nicht nur Menschen mit HIV angeht.
Nur ist dieser Normenausstieg zunächst weniger sichtbar. HIV allerdings macht diesen Normenaussteig sichtbar, zeigt an – HIV wird zum Indikator. Zum Stigma [Stigma – Brandzeichen].
Und: dieTatsache dieses Normenausstiegs ist unwiderrufbar, untilgbar – und auch durch wirksamste Medikamente, tollste Therapien und bunteste Pillen nicht behandelbar.

So sehr die HIV-Infektion auch ’normal‘ werden mag im biomedizinischen, im Public Health – Sinn – der Makel der Schuld, der Schuld dieses Norm-Verstoßes, der Status der eigenen HIV-Infektion als Indikator für einen Normenverstoß bleibt untilgbar.

HIV mag unter medizinischen Aspekten ’normal‘ werden können. Diese Sehnsucht nach Normalität mag erfüllbar sein. Allein, der Skandal bleibt, der Skandal des -durch HIV sichtbar gemachten- Normenausstiegs, des Makels, der Schuld.

Einige Gedanken dieses Kommentars sind inspiriert durch den Workshop „Die Schuldfrage knacken“ von Dr. Stefan Nagel und Alexander Pastoors – danke!

Wenn Würde nicht gleich Würde ist – ein Spagat

„Wenn Würde nicht gleich Würde ist – ein Spagat“ – unter diesem Titel hielt Michèle Meyer, Präsidentin von LHIVE, der Organisation von Menschen mit HIV und Aids in der Schweiz, am 1. Dezember eine Rede auf der  zentralen Welt-Aids-Tags – Veranstaltung der Frankfurter Aids-Hilfe in der Paulkskirche. Die Veranstaltung fand dieses Jahr statt unter dem Motto „Die Würde ist angetastet“.
Im Folgenden die Rede von Michèle Meyer als Dokumentation:

Wenn Würde nicht gleich Würde ist – ein Spagat.

Die Würde des Menschen ist angetastet.
Wochenlang bin mit dem Titel dieser Veranstaltung schwanger gegangen. Was ist Würde? Wie fühlt sie sich an? Wo ist sie? Wer hat das Wort  erfunden und warum tu ich mich so schwer damit?
Über die Aufklärung führte mein Weg ins alte Rom zu Cicero.
Ich kann nicht viel anfangen mit bedingungsloser Menschenwürde, die doch dauernd mit Füssen getreten wird. Auch wenn sie in den Menschenrechten und in der Verfassung hochgehalten wird, stolpere ich immer wieder über die Lässigkeit mit der sie mir und uns abgesprochen wird.
Ich bin überzeugt, dass wir heute viel näher an Ciceros Würdebegriffen leben, als wir uns eingestehen.
Würde bekommt man und Würde wird einem genommen. Das heisst: ich muss sie mir verdienen und ich muss etwas tun, um sie nicht zu verlieren. Nur: ganz so einfach ist es dann auch wieder nicht, denn ich bin nicht im Besitz von Würde, sie wird mir nur verliehen und einfordern ist tabu.

Seit ein gewisser Sigmund Ehrmann, SPD Abgeordneter und unter anderem  Mitglied der Kreissynode des evangelischen Kirchenkreises Moers, mich  resp. uns Menschen mit HIV/ AIDS als Biowaffe bezeichnet hat, bin ich gar nicht mehr sicher, dass das alles in meiner Hand liegt.
Welche Würde hat eigentlich eine Biowaffe?

Ich bin also eine Biowaffe. Vielleicht stimmt es ja und ich tue auch bloss so als wäre ich Mensch. Immerhin kommt der Verdacht öfters auf nicht mehr ganz Mensch zu sein. Sondern bloss HIV-positiv. Reduziert darauf ein Virenträger zu sein. Oder wieder mit Cicero: der Gesellschaft  nicht dienlich genug zu sein, um überhaupt Würde zu verdienen.
Heute  stellt Gesundheit ein mechanisches Problem dar und Funktion  ist das Ziel, nicht Würde.

„Wie haben sie sich angesteckt“ fragt die Schulleiterin und in ihrem Tonfall lauert vulgäre Neugier und die Lust mich zu entwerten. Sag ich jetzt: „Ich hatte Sex, mehr als genug und ich hab’s genossen.“ wird sie vielleicht erröten, sich jedoch bestätigt fühlen: „Die Frau ist ein Flittchen, wusst’ ich’s doch!“. Sag ich: “Mein erster Mann ist an den Folgen von AIDS verstorben“, dann stockt ihr wohl kurz der Atem und sie müsste schon sehr dreist sein, um weiterzufragen. Das wäre dann unter ihrer Würde. Wahrscheinlich.

Welchen Platz in der Gesellschaft haben wir denn, in Zeiten in denen Recht auf Gesundheit in aller Munde ist, aber Recht auf Krankheit als Polemik abgetan wird?
Wenn Verantwortung, die Schuldfrage meint, glaube ich nicht an Würde.. New Public Health ist das Ziel. Und ich bin ein Corpus delicti. *
Und kriminell. Noch immer mache ich mich strafbar, für etwas was de facto nicht möglich ist.

Ein Exempel statuieren. Immer wieder. Nadja Benaissa kam da gerade recht, krank sein und dann auch noch erfolgreich sein wollen? Ein gefallener Engel fällt tiefer. Amt und Würden. Wo denn? Eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit, nichts anderes, sei sie… schmutzig, schuldig, verrucht.
Andere mit Schmutz zu bewerfen und zu entwürdigen, damit sind wir manchmal verdammt schnell.

Wer Schuld und Scheitern verkörpert, hat in unserer Gesellschaft längst ausgespielt. Und alle spielen mit. Auch ich. Auch ich habe Moral und Werte verinnerlicht wie alle anderen. Und Selbstentwertung macht mich dann doch wieder interessant. Zumindest als Klientin von Sozialarbeitern, Psychologen und Fürsorgern. Eine ganz Maschinerie lebt gut davon!
Ich könnte mich fügen und eventuell doch noch so was wie Würde erlangen, zumindest Mitleid und Möglichkeiten der Rehabilitation. Eigentlich ist es ganz einfach:
„Gib dein Gesicht für Prävention, als abschreckendes Beispiel, opfere dich selbst und du hast wieder einen Platz mit etwas Würde unter uns Menschen. Hilf der Gesellschaft, schütze sie vor dir und Deinesgleichen“; „ Verstecke dich, aber zeige dein Stigma, das fördert die Spendengelder“… und als Zückerchen gibt’s das volle Programm: Sonderstellung und x- Möglichkeiten sie für mich zu nutzen, Sekundärer Krankheitsgewinn, zum Beispiel jede Menge Mitleid.
Ich kann verzichten auf diese Ersatzwürde. Sie ist an Konditionen gebunden, die mir nicht schmecken. Ich muss mich nämlich reduzieren lassen, verschämt, reuig, unauffällig und vorbildlich der Gesellschaft zu dienen, die mir die Würde trotzdem abspricht. Die an Bilder festhält, die längst überholt sind, falls sie je gegolten haben. Die Sündenböcke braucht um sich Selbst zu rechtfertigen in ihrem Zwang nach Normierung, ihrer Verkrüppelung zur funktionierenden Maschine, die Geld, Erfolg und Unsterblichkeit ausspuckt.

Und solange ich  – in der Schweiz- selbst in der Aids-Arbeit nicht gewürdigt werde, kann ich auch verzichten auf Kommissionssitzungen, Subventionen und meine Stellung als Quoten-Positive. Ich gehöre ja nicht mal einer Hochprävalenz-Gruppe an, wen will ich denn vertreten, heisst es immer wieder.

Zudem: „Wer nicht Kondome und Therapietreue predigt, hat nichts zu sagen.“ Was mir natürlich schwerfällt und wohl auch nicht im Sinne des Erfinders von Selbsthilfe wäre… aber wen interessiert Freiheit und Würde des Einzelnen, wenn Machbarkeit nach Gleichschritt verlangt?

Ganz anders schwer drückt manchmal die Würde, wenn nach wiederholter Medienpräsenz, das Telefon klingelt. Wenn Menschen mit HIV und AIDS sich darüber beklagen, dass ich zu gesund aussehe, dass ich zu wenig das Leiden betone und selbstbewusst Forderungen stelle; Wenn mir meine Integration vorgeworfen wird.
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Die Würde des Menschen ist angetastet.

Wie komme ich eigentlich dazu, trotzdem an Würde festzuhalten?
Habe ich  eine die mir gehört und wenn ja, wie viel Fremdbewertung erträgt  sie, meine eigene Würde? Wie viel Demütigung und Reduktion? Kann ich sie behüten, vor Diebstahl sichern und kann ich sie davon abhalten, sich Selbst zu vergessen?  Wie kann ich sie wahren, wenn ein gelber Punkt die Türe zu meinem Spitalzimmer ziert und vom Chefarzt bis zur Zugehfrau alle vorgewarnt sind. Wie, wenn ich kurz nach der Geburt meiner Tochter, die Sozialarbeiterin am Wochenbett stehen habe, die unauffällig meine Mutterqualitäten zu prüfen versucht? Wie, wenn ich von meinen Nächsten zielsicher und zutiefst verletzt werde, fremdgeoutet und ohne recht auf Abgrenzung. Wenn alle Konflikte dahin gelenkt werden, dass ich HIV-positiv bin. Da sind die Andern fein raus und ich stehe am Pranger. Würdelos.
Wie kann ich die Würde leben lassen, wenn ich selbst denke mein Mann sei deshalb etwas besonderes, weil er sich mit einer Positiven eingelassen hat?

Nur: was wissen die Andern denn von meiner Würde? Und was weiss ich selbst? Woher kommt diese Zielsicherheit, diese Überzeugung, ich hätte sie selber verspielt? Durch kondomlosen Sex?  Oder eher durch das Ver-fehlen.
Dieses ausserhalb-sein, diese Entwürdigung  ermöglicht Narrenfreiheit, manchmal. Was hat Abschaum noch zu verlieren?
Ich brauche mich auch nicht mehr zu tarnen oder so zu tun als gehöre ich wieder zu den Guten, den Reuigen.
Was mich rettet ist Widerstand. Widerstand gegen Fremdbewertung, übergestülpte Hilfe und Kontrolle bis ins Schlafzimmer.

Ich muss stinkfrech den Bildern trotzen, manchmal leise, manchmal laut.
Die passenden Schubladen gibt’s nicht: ich bin integriert, ich bin aussortiert, ich habe keine Würde, ich nehm sie mir.

Dieses Borstige, Widerspenstige rettet mich. Und frei nach dem Lehrbuch gibt’s Empowerment nie ohne Eigenwilligkeit. Wem sag ich das?
Und darum bin ich gefährlich, Ich verführe dazu Fehler zu machen.
Manche behaupten, ganz im Schutz der Meinungsfreiheit, ich sei ein Massenmörder. Irre, hinterhältig und brandgefährlich. Ganze Völker könnten mir folgen.

Dieses inszenierte Entwerten tut weh, macht wütend, aber viel treffender und schmerzlicher ist die Ohnmacht, das Gefühl eine Gesetzlose zu sein und der Schmerz nicht genug bewegen zu können, obwohl die Welt in meinem Kopf Würde verlangt **
( unter uns: mutig war diese Kampagne von Regenbogen e.v. nicht. Weltbank ( dieser Gedanke gehört dem Dirk) , Politiker, Profit&Geiz, Ignoranz sind Massenmörder…
Oder: welche Menschenwürde meinen wir, wenn wir nicht teilen was wir haben? Wieviel sind denn Menschen in Afrika, Asien und Osteuropa wert?
Wieviel Würde ist noch spürbar und wieviel Scham, wenn mir die Pillen im Hals stecken bleiben, angesichts meiner Brüder und Schwestern weltweit…da macht Compliance Spass.

Und allem Unsichtbar raten auf den Aids-Hilfen zum Trotz: ich steh dazu, ich bin ich und meinen HIV-Status gibt’s nicht gesondert davon.  Mir muss nicht geholfen werden zum Preis der Fremdbestimmung.
Auch wenn es anstrengend ist, sichtbar, fassbar zu sein; aber wer sagt denn das Anpassen nicht anstrengend wäre.
Dauernde Selbstentwertung macht krank, alt und an Lebensqualität bleibt da nicht mehr viel übrig. Von Würde ganz zu schweigen.

Manchmal überrascht mich das Leben. Zum Beispiel im Dorf wo ich lebe, dort hat Zivilcourage einen hohen Stellenwert und ich habe unverhofft wieder Würde.
Vor wenigen Tagen kam eine Nachbarin auf mich zu. Meine Töchter waren mit anderen Kindern bei ihr zum Essen und spielen eingeladen gewesen. Sie berichtete mir lachend, dass Sofia, die ältere der beiden, bei der Gelegenheit Aufklärungsarbeit geleistet hätte. Sie lachte herzlich zwischen den Sätzen und erzählte wortgetreu, was meine Tochter zu sagen wusste:“ „Mama ist oft im Fernsehen, weil sie ein Virus hat. Aber sie schämt sich nicht, nicht so wie andere, darum wird sie gefilmt. Und wisst Ihr wie man das Virus bekommen kann? Beim „Schätzele“, aber mein papa kann sich nicht anstecken, Mamas nimmt Medikamente.“
Die Selbstverständlichkeit dieser Rückmeldung hat mich sehr berührt.

Nein, ich schäme mich nicht und draussen in der Welt, kann ich notfalls den einen Trick immer anwenden: ich ziehe mir meine Clownnase an, immer dann wenn sich die innere Würde zu vergessen droht, wenn sie meint der anderen, längst verlorenen oder nie erreichten Würde nachrennen zu müssen.
Nicht zufällig habe ich nach jahrelangen vergeblichen Versuchen, wieder auf den Arbeitsmarkt zu kommen, mich entschieden Clown zu werden.

Der Clown lebt vom Spiel mit den Tücken, er verkörpert die Kunst des Scheiterns und ist zutiefst menschlich: er macht Fehler. Und Fehler. Er  spielt und kümmert sich nicht um Normierungen. Er hält dem Mensch den Spiegel hin und wird dafür liebevoll mit Applaus und einem ehrlichen Lachen gewürdigt.
Dann schlage ich selbst dem alten Römer Cicero einen Haken… und lächle in mich hinein – in Würde.

Und gemeinsam können wir was bewegen, wenn JedeR einzelne für seine Würde aufsteht.
Michèle Meyer 1.12.2009

*das Buch gehört Julie Zeh
** der Satz gehört Barbara Starret
*** der Gedanke gehört Dirk

Die Würde ist angetastst (Plakat der Veranstaltung in der Frankfurter Paulskirche am 1.12.2009)
Die Würde ist angetastet (Plakat der Veranstaltung in der Frankfurter Paulskirche am 1.12.2009)

Dank an Michèle und Michael (AH Frankfurt) für den Genehmigung !

Cori Obst: „Bürgerrechte müssen für alle gewahrt sein, jenseits vom Serostatus, Hautfarbe, Geschlecht und Religion“

Als Dokumentation die Rede von Cori Obst (früher: Tigges) anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuz am Bande durch Oberbürgermeister Peter Jung im Rathaus Wuppertal am 27. Mai 2009

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Peter Jung, sehr geehrte sonstige „offizielle“ Damen und Herren rund um oder aus der schönen Hauptstadt des Bergischen Landes: Wuppertal, meine Heimatstadt.
Liebe ehemalige Kolleginnen und Kollegen, Bekannte, mir mehr oder – so hoffe ich – noch mehr wohlgesonnene Menschen, Freundinnen und Freunde.
Liebe Nana, lieber Papi, lieber Männe.

Ich möchte die mir nun zur Verfügung stehenden Redezeit nicht mit den sonst üblichen Danksagungen ausfüllen. Nicht weil es Nichts und Niemandem zu danken gäbe. Auch nicht, weil eine solche Ansprache immer die Gefahr in sich birgt, Irgendjemanden oder Irgendetwas zu vergessen.
Sondern, weil das Thema um das es mir hier und heute geht, es erfordert, eventuell vorhandene persönliche Eitelkeiten zurückzustellen und den Focus auf etwas zu richten, dass uns alle als eine auf demokratisch basierenden Grundsätzen lebende Gemeinschaft herausfordert: Der Umgang mit den Menschen, die hierzulande mit HIV und AIDS leben!

Schlimm genug, dass das Thema AIDS in den letzten Jahren aufgrund vermeintlich oder tatsächlich verbesserter medizinischer Therapien in den Hintergrund geraten ist. Für nahezu unverantwortlich halte ich es jedoch, dass wenn das Thema AIDS in die breite Öffentlichkeit gerät wie jüngstens am Fall Nadja B. geschehen es sich ausschließlich um eine Diskussion über Schuld und Verantwortung der HIV-Infizierten handelt. (Um es kurz zu erklären: Nadja B. ist Sängerin der Popgruppe No Angels, die nur aufgrund des Verdachts auf eine bereits länger bestehende HIV-Infektion und in diesem Zusammenhang angeblich bewusster Weitergabe der Infektion an Sexualpartner von der Hessischen Justiz in Untersuchungshaft genommen wurde)
Das ist nicht nur ein Affront gegenüber dem Gesamtverband der Deutschen AIDS-Hilfen und der deutschen HIV- und Aidsbekämpfung, die seit über 20 Jahren eine beispielhafte und vor allem sehr erfolgreiche Aufklärungspolitik betreiben – immer im Verständnis der Verantwortung JEDES Einzelnen und in der Bekämpfung jeder Art von Stigmatisierung und Diskriminierung.
Nein, diese Art der Berichterstattung ist eine längst überholte, vor allem aber falsche Skandalisierung von Aids, bei der die gleichen archaischen Regungen geweckt werden wie zu Beginn der AIDS-Hysterie Anfang der 80er Jahre oder um es noch deutlicher zu machen wie einst im Mittelalter (die Kuh wird durchs Dorf getrieben und öffentlich hingerichtet)
Damit ist es –zugespitzt formuliert – auch ein Angriff auf uns alle. Auf uns als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, die wir uns vor nunmehr 60 Jahren (und das dürfte uns spätestens seit diesem Jahr klar geworden sein) auf demokratische Grundsätze als Handlungsmaxime verständigt haben.

So möchte auch ich „die Gunst der Stunde“, besser gesagt der Geburtsstunde unseres Geburtstagskindes BRD mitsamt Verfassung und Grundgesetz nutzen und – wie zu Beginn angekündigt – ein HIV und AIDS bezogenes Schlaglicht auf unsere viel zitierte Verfassung werfen.

Betrachten wir beispielsweise den Bekanntesten, sozusagen „die Mutter“ aller Artikel. Den Artikel 1des Grundgesetzes:
Hier lautet es „Die Würde des Menschen ist unantastbar“
Hm. Jetzt könnte man natürlich in einen philosophischen Exkurs darüber ausschweifen was ist eigentlich Würde? Woher kommt sie? Wie definiert sie sich? Und der Skeptiker könnte fragen: Gibt es überhaupt Würde? Wer legt eigentlich fest was Würde ist bzw. was beinhaltet sie? Kritiker könnten diesem Artikel 1 Schwammigkeit vorwerfen und dass es mit der Würde und deren Unantastbarkeit somit Auslegungssache ist. Eine durchaus überdenkenswerte Fragestellung. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es weiter heißt: „… Sie zu achten und zu pflegen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.
Im besten Sinne begründet sich eine gewisse Schwammigkeit darin, Fortschritt, gesellschaftliche Entwicklungen und Prozesse aufgreifen und anpassen zu können. Im schlimmsten Fall aber führt sie zu Willkür. Wie – um noch einmal darauf zurück zu kommen – der Fall Nadja B. mutmaßen lassen könnte, da hier eine eindeutige Vorverurteilung durch die Justiz vollzogen wurde (Stichwort: Unschuldsvermutung).

Ich gebe zu bedenken, dass Letzteres (ich meine Willkür) nicht im eigentlichen Sinne dem Grundgedanken unserer Verfassung entspricht. Schon aufgrund unserer Historie nicht.

Gehen wir also davon aus, dass die Freiheits- und Gleichheitsrechte unseres Grundgesetzes im besten Sinne verfasst worden sind.
So besonders auch der Artikel 3, in dem heißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“.
Wieder ein nachdenkliches „Hm“. Diesmal jedoch nicht wegen seiner vermeintlichen Schwammigkeit, sondern mehr wegen seiner eher konkreten Anweisungen, mit den in einer Gesellschaft lebenden Menschen umzugehen. Ich denke, ich sage vielen von Ihnen und Euch, die im sozialen Bereich arbeiten nicht Neues, wenn ich anmerke, dass diese im Artikel formulierten Absichten nicht unbedingt der bundesdeutschen Wirklichkeit entsprechen. Insbesondere dann nicht – um im meinem Themenfeld zu bleiben – wenn es die Lebensentwürfe und Lebensbereiche von Menschen mit HIV und AIDS betrifft. Hier sei explizit auf den letzen Satz „… Keine Benachteiligung durch Behinderung“ verwiesen, was verschiedene Formen der Erkrankung mit einschließt. Bezogen auf den gesamten und sehr existentiellen Komplex Arbeit inkl. das Recht auf Arbeit ist die Benachteiligung von Menschen mit HIV und AIDS eher an der Tagesordnung.
Nur ein Beispiel: Seit der verbesserten medizinischen Therapiemöglichkeiten, die in vielen Fällen eine höhere Lebenserwartung bedeuten kann, ist seit dieser Umstand bekannt ist, die Aussicht, eine vorzeitige Rente auf Erwerbsunfähigkeit bewilligt zu bekommen, deutlich geringer geworden. Das wäre nicht so schlimm, weil die meisten Menschen ja durchaus gerne arbeiten, wenn denn die entsprechenden Möglichkeiten dazu gegeben wären. Miteinbezogen der Einschränkungen, die durch eine Erkrankung möglicherweise entstehen können. Das betrifft viele Menschen mit Behinderungen. Hinzu kommt jedoch bei HIV-Infizierten die berechtigte Angst vor Ausgrenzung und Stigmatisierung am Arbeitsplatz.

Diese Angst, ist nicht nur irgendein subjektiv empfundenes Gefühl, sondern Folge vielfältig dokumentierter tatsächlicher Erfahrungen. Diese Form der negativen Erfahrungen stellt genau genommen auch alle anderen Freiheits- und Gleichheitsrechte für Menschen mit HIV und Aids zumindest auf den Prüfstand.

Sehr erfahrbar war dieser „Prüfstand“ für die Frauen, die mit HIV und AIDS leben. Ich möchte, nein, ich muss an dieser Stelle noch einmal auf die wahrscheinlich am kontroversesten geführte Debatte aus dem Jahre 1994 verweisen. Dabei ging es um das Thema Frauen, und ihr Recht, sich für oder gegen eine Schwangerschaft zu entscheiden. Eine Debatte, die bis dahin von Frauenrechtlerinnen mit Erfolg geführt worden ist. Soll heißen, jeder Frau muss das Recht zugesprochen werden, sich für oder gegen ein Kind zu entscheiden. Jede Frau, so war auch unser Ansatz, bezieht HIV-positive Frauen mit ein. Eben auch die Entscheidung für ein Kind. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Diskussion über das grundsätzliche Recht einer Frau dafür oder dagegen einseitig. Es ging nur noch darum, ob HIV-Infizierte Frauen überhaupt ein Recht auf Schwangerschaft -und damit auf ein Kind haben. So war es nicht verwunderlich, dass wir, die sich für die Rechte HIV-infizierter Frauen engagiert haben, plötzlich in einem Boot mit so genannten „Lebensschützern“ befanden. Ging es doch schnell um lebens- und nicht lebenswertes Leben. Wer hat das Recht Kinder zu bekommen? Wer nicht? Was ist unverantwortlich? Was nicht? Eigentlich ging es auch uns nur um das generelle Recht von Frauen auf eine freie Entscheidung. Allerdings mussten wir mit einiger Vehemenz damals erst einmal darum kämpfen, dass HIV-positive Frauen gleichermaßen das Recht auf ein Kind haben. Auch jenseits aller Statistiken, z. B. mit wieviel prozentiger Wahrscheinlichkeit möglicherweise das entstehende Leben selber infiziert ist. Unsere Haltung dazu ist bis heute, dass auch wenn mit 100% Sicherheit das Kind infiziert sein würde, es weder das grundsätzliche Recht von (auch HIV-positiven) Frauen in Frage stellen darf, noch das Leben eines „versehrten“ Menschen. D.h. für die gegenwärtige Situation, dass jenseits einer besseren Statistik, was die Übertragung der Infektion von der Mutter auf das Kind angeht, die Rechte von Frauen davon nicht abhängig gemacht werden dürfen.

So ist zusammenfassend vielleicht zu sagen, dass der erste Absatz des Artikel 1 des Grundgesetzes möglicherweise so zu verstehen ist, dass der elementarste Bestandteil der Menschenwürde das Recht auf Leben ist und unantastbar eben dieses.

Dies gilt für alle, auch für Menschen die mit HIV und AIDS leben. Bürgerrechte müssen also für alle gewahrt sein, jenseits vom Serostatus, Hautfarbe, Geschlecht und Religion.

Dies kann als Leitmotiv für unser Handeln verstanden werden.

Ich freue mich – zum Ende hin – sinngemäß die Worte des Mannes zu zitieren, der, wenn ich dem offiziellen Schreiben des Presseamts der Stadt Wuppertal Glauben schenken darf – unter anderem dafür verantwortlich ist, dass ich hier und heute diese Auszeichnung entgegen nehmen durfte – unseren alten und neuen Bundespräsidenten Prof. Dr. Horst Köhler (Glück gehabt, wer weiß ob Frau Gesine mit mir noch einverstanden gewesen wäre…)
Anlässlich des 60ten Geburtstags unseres Grundgesetzes sagte er: „Unser Grundgesetz lebt von den Bürgern, welche dieses mit Leben füllen“.

D.h. für mich im Umkehrschluss, dass auch so etwas wie unsere Verfassung im Grunde immer so gut ist, wie wir, die Menschen selbst.

Oder, um mit den Worten eines echten Politikwissenschaftlers zu sprechen: „Eine Bevölkerung, die sich den Werten des Grundgesetzes verpflichtet fühlt, muss sich auch an ihren Worten und Taten messen lassen.“

Das verstehe ich als Motivation, als Aufforderung zum Handeln.

Dies gilt selbstredend auch für mich selbst.

Ich möchte diese Auszeichnung zum Anlass nehmen, meine Ressourcen zu aktivieren und meine Erfahrungen, mein Wissen und meinen tiefen Glauben daran, Welt tatsächlich verändern und damit verbessern zu können wieder vermehrt in den „Dienst der Sache“ zu stellen. D. h. den Anliegen der Menschen mit HIV und AIDS eine Stimme zu verleihen.

Dabei möchte ich mich in meiner Motivation stets an den Schwächsten orientieren. In meinem Handeln jedoch mit den Stärksten messen.

Ich will dazu beitragen, dass unsere Gesellschaft ein Klima schafft, dass es Menschen mit HIV und AIDS ermöglicht, offen mit ihrer Infektion umgehen zu können. In der sie keine Benachteilung erfahren und ihre Grundrechte tatsächlich gewahrt werden.

Nur ein solches Klima wird langfristig das einzig wirksame Mittel im Kampf gegen AIDS sein.

Im Vermächtnis der bereits Verstorbenen widme ich dieses Bundesverdienstkreuz (in der Ladyversion) allen Menschen, die mit HIV und AIDS leben.

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siehe auch
DAH-Blog 17.07.2009: Bundesverdienstkreuz: Coris Rede online
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Biowaffen und Meinungsfreiheit

HIV-Positive dürfen als Bio-Waffe bezeichnet werden. Der SPD-Abgeordnete und stellvertretende Vorsitzende des Medienausschusses Ehrmann hat mit dieser Äußerung sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung genutzt.

Der SPD-Bundestagsabgeordneten Siegmund Ehrmann wurde Mitte April 2009 von einer Boulevard-Zeitung (Ausgabe 17.04.2009) im Zusammenhang mit der Verhaftung einer Sängerin zitiert mit der Aussage

„Wenn jemand seinen Körper als Bio-Waffe einsetzt, ist umfassende Berichterstattung ein dringendes öffentliches Anliegen und wichtiger als die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen.”

Ist man mit HIV vogelfrei?, und darf man HIV-Positive als ‚Bio-Waffe‘ bezeichnen?, diese Fragen stellten sich viele nach diesen Aussagen.

Man darf, kann muss nun  resümiert werden.
Die ‚unbeantwortete Frage‘ ist nun beantwortet.

Am 24. April 2009 hatte ich aufgrund seiner Äußerungen via Internetwache gegen Herrn Ehrmann Strafanzeige wegen Verdachts der Volksverhetzung gem. StGB gestellt.

Gestern, am 11.6.2009, traf ein Schreiben der Staatsanwaltschaft Berlin ein. Wie bereits erwartet teilte sie mit, man habe das Ermittlungsverfahren eingestellt. Es bestehe kein Anlass, in strafrechtliche Ermittlungen einzutreten:

„Die von Ihnen geschilderte Äußerung des Beschuldigten mag auf Unverständnis und Befremden stoßen, eine strafrechtliche Relevanz hat die Äußerung jedoch nicht.“

Die Äußerung sei

„vor dem Hintergrund, vor dem sie gefallen ist, noch vom Grundrecht der freien Meinungsäußerung gedeckt“.

Ich schätze unser Grundgesetz und seine Grundrecht, auch das auf freie Meinungsäußerung. Ich kann mit der Entscheidung der Staatsanwaltschaft leben.
Die Äußerung Ehrmanns empfinde ich allerdings weiterhin als prekär und bestürzend, auch nach seiner seltsamen ‚Klarstellung‘ (pdf). Bestürzend besonders auch, da sie von einem Politiker stammt, und zudem nicht einem mit Medien wenig erfahrenen Politiker, sondern dem stellvertretenden Vorsitzenden des Medienausschusses.
Und wie diese Äußerung mit seiner kirchlichen Tätigkeit vereinbar ist, wird wohl auch sein Geheimnis bleiben …

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Kriminalisierung von HIV – aus Angst und Abscheu?

Was bewegt gerade schwule Männer, eine Kriminalisierung von HIV zu fordern? Eine britische Studie kam zu aufschlussreichen Ergebnissen, bis zu „Angst und Abscheu“.

Die fahrlässige HIV-Infektion eines Sexpartners müsse auch mit Mitteln des Strafrechts verfolgt werden, diese Meinung ist immer wieder häufig zu hören. Gerade in Zeiten von Medienhypes wie jüngst nach der Verhaftung einer Sängerin sind oftmals sogar Rufe nach Verschärfungen bestehender Gesetze zu hören.

Gegen die Verbreitung von HIV müsse auch mit den Mitteln des Strafrechts vorgegangen werden, diese Haltung vertreten gerade auch Homosexuelle nicht nur gelegentlich. In Großbritannien ist sogar die Mehrzahl der Homosexuellen dieser Ansicht, wie eine britische Studie zeigte.

Experten verschiedenster Organisationen von Aidshilfe bis UNAIDS betonen seit langem, dass das Strafrecht nicht als Mittel der HIV-Prävention taugt. Woher also diese Haltung, in dieser Häufigkeit?

Der Studie „sexually charged“ zufolge befürworteten 57% der Befragten die Strafverfolgung und Inhaftierung von Menschen, die leichtsinnig einen Sexpartner mit HIV infizieren.

Sigma Reserach: Sexually Charged
Sigma Reserach: Sexually Charged

Die Studie zeigte, dass Männer, die sich noch nie auf HIV testen ließen, diese Ansicht besonders häufig vertreten (63,5%). Männer, die angaben HIV-negativ zu sein, befürworteten diese Ansicht zu 56,3%.
Besonders hoch war die Zustimmung zu Strafverfolgung bei Menschen unter 30 Jahren; bei Menschen mit höherer Bildung (Universität) war die Zustimmung zu Strafverfolgung niedriger als bei Menschen mittlerer oder schlechterer Bildung.

Hingegen zeigten sich kaum Unterschiede hinsichtlich ethnischer Kriterien. Allerdings war eine Befürwortung von Kriminalisierung häufiger als Einstellung anzutreffen bei Männern, die Sex mit Männern und Frauen haben, als bei Männern, die angaben ausschließlich homosexuell zu sein. Je mehr Sexpartner ein Mann im letzten Jahr hatte, desto eher lehnte er eine Kriminalisierung ab.

Männer, die Kriminalisierung befürworteten, waren oftmals auch der Ansicht, der HIV-Positive sei in der alleinigen Pflicht, eine HIV-Übertragung zu verhindern. Einer der Befragten brachte seine Ansicht auf den Punkt „wenn du einmal HIV hast, ist es von da an deine Pflicht dafür zu sorgen, dass du es nicht weitergibst“.

Zudem zeigten die Kriminalisierungs-Befürworter überwiegend deutlich stigmatisierende Ansichten über HIV und hatten kaum zutreffende Ansichten über die Wirksamkeit moderner antiretroviraler Therapien. Viele Befragte gaben als Grund für ihre Ansichten an, eine HIV-Infektion sei immer noch tödlich; einige bezeichneten die Übertragung von HIV als Mord.

Im Rahmen des jährlichen „Gay Men’s Sex Survey“ wurden die Teilnehmer im Jahr 2006 unter anderem auch zu ihren Einstellungen zur Strafverfolgung bei HIV-Übertragung befragt. Insgesamt 8.152 Männer beantworteten die diesbezüglichen Fragen.
Eine Mehrheit dieser Männer (57%) äußerte, es sei „a good idea to imprison people who know they have HIV [and] pass it on to sexual partners who do not know they have it“. Nur 26% lehnten diese Aussage ab, und 18% hatten keine Meinung.

Die Autoren der Studie betonten, aus der Studie ließen sich wichtige Konsequenzen für die weitere HIV-Prävention ableiten. Insbesondere wiesen sie darauf hin, dass die überwiegende Mehrheit der Männer, die eine Kriminalisierung von HIV befürworteten, der Ansicht seien, HIV sei unabwendbar tödlich.
Die Forscher äußerten die Befürchtung, dass ein Aufrechterhaltend dieses Bildes vom „tödlichen Aids“ dazu beitrage, die Stigmatisierung von HIV aufrecht zu erhalten. Dies wiederum beeinträchtige das Umfeld, in dem Prävention stattfinde.

Zudem wiesen die Forscher darauf hin, dass ein Großteil der Männer, die Kriminalisierung befürworten, auch der Ansicht seien, der HIV-Positive sei verpflichtet, dem Sexpartner seine HIV-Status offen zu legen. Angesichts der Tatsache, dass etwa ein Drittel der HIV-Infizierten nicht von ihrer eigenen Infektion wüssten, zudem viele Positive vor einem Offenlegen zurückschreckten, erweise sich diese Meinung als unrealistisches Modell.

Die Autoren der Studie kamen zu dem Schluss, die Realität des Lebens mit HIV werden vielfach immer noch falsch wahrgenommen. Angst und Abscheu, mit der Männer, die Kriminalisierung befürworten, diese „anderen Schwulen“ betrachten, seien offensichtlich. Die Veränderung von HIV und Leben mit HIV sei und bleibe eine der großen gegenwärtigen Herausforderungen.

Die Ansichten, die die Forscher in Großbritannien untersuchten, sind auch bei uns zu finden, ob bei Homo- oder Heterosexuellen. Bedeutender noch, sie sind auch bei Staatsanwälten, Richtern und Politikern zu finden, wie Ermittlungsverfahren und Gesetzesinitiativen immer wieder zeigen.

Ein Grund mehr also, dass sich auch Aids-Hilfen und HIV-Positive mit der Frage beschäftigen sollten, welche Haltungen Menschen dazu bringen, eine Kriminalisierung von HIV zu fordern.

Einen der Wege, mit dieser Situation umzugehen, sie vielleicht aufzubrechen, haben die Forscher implizit aufgezeigt: Bilder des Lebens mit HIV zeigen. Bilder eines Lebens, das inzwischen facettenreicher, vielfältiger geworden ist – und bei weitem nicht nur von Tod und Leid geprägt ist. Bilder vom Leben mit HIV – wer könnte sie treffender zeigen als HIV-Positive selbst?

weitere Informationen:
aidsmap 26.01.2009: Ignorance and stigma provide foundation for gay men’s support of criminalisation of HIV transmission
sigma research: Sexually charged: the views of gay and bisexual men on criminal prosecutions for sexual HIV transmission (pdf)
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Darf man HIV-Positive als „Bio-Waffe“ bezeichnen?

„Körper als Bio-Waffe“ – darf man, darf ein MdB, darf ein stellvertretender Vorsitzender des Medienausschusses so Menschen mit HIV bezeichnen?

Der SPD-Bundestagsabgeordneten Siegmund Ehrmann wird von der BILD-Zeitung (Ausgabe 17.04.2009) im Zusammenhang mit der Verhaftung einer Sängerin zitiert mit der Aussage

„Wenn jemand seinen Körper als Bio-Waffe einsetzt, ist umfassende Berichterstattung ein dringendes öffentliches Anliegen und wichtiger als die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen.”

Die Aussage ist u.a. dokumentiert beim Medien-Journalisten Stefan Niggemeier.

Herr Ehrmann ist seit 2002 Mitglied des deutschen Bundestags (SPD-Fraktion, direkt gewählt Krefeld II – Wesel II) und seit 2005 ordentliches Mitglied im Innenausschuss und stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Kultur und Medien.

Herr Ehrmann hat in einer auf den 23.4.2009 datierten schriftlichen Stellungnahme (pdf) seine Äußerungen inzwischen bestätigt.

In seiner Stellungnahme äußert Herr Ehrmann, er würde „die Formulierung ‚Körper als Biowaffe‘ … heute so nicht mehr verwenden, weil sich durch ihn die weit überwiegende Zahl der sich verantwortlich verhaltenden HIV-Infizierten diskreditiert werden können.“ Dies liege ihm fern.

Herrn Ehrmann scheint nicht daran zu liegen, seine Äußerung als falsch, unzutreffend oder politisch gefährlich zu bezeichnen. Sich zu entschuldigen. Bei der betreffenden Person, oder bei allen HIV-Infizierten. und sei es nur für Stigmatisierung und Diskriminierung.

Seine Entschuldigung lässt m.E. zudem den Schluss zu, dass Herr gegenüber HIV-Positiven, die sich nicht „verantwortlich verhalten“ (ohne zu erläutern, was das denn sei), diese Bezeichnung weiterhin für angebracht hält.

Paragraph 130 Absatz 1 Strafgesetzbuch lautet:

„Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören,
1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder
2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet,
wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“

Abgesehen davon, dass gerade von einem stellvertretenden Vorsitzenden des Medienausschusses ein umsichtigeres Umgehen mit Persönlichkeitsrechten und der öffentlichen Bezeichnung HIV-Infizierter erwartet werden kann: Ich fühle mich durch die Äußerungen von Herrn Ehrmann (‚Bio-Waffe‘) böswillig verächtlich gemacht und in meiner Menschenwürde angegriffen. Die Bezeichnung von HIV-Positiven als ‚Bio-Waffe‘ ist eindeutig geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören.

Aus diesem Grund habe ich heute Strafanzeige wegen Verdachts der Volksverhetzung gem. StGB gestellt.

Ein Bekannter schrieb mir heute folgende Gedanken:

Wie werden es nicht mehr zulassen das man uns weiterhin stigmatisiert, diskriminiert und kriminalisiert. Wir werden es nicht mehr zulassen das die Medien weiterhin unsere Würde mit den Füßen treten. Wir werden es nicht mehr zulassen das die Medien sich zum Sprachrohr derjenigen machen die HIV Positive als Virenschleudern und Bio Waffen bezeichnen. Wir werden es nicht mehr zulassen das die Medien über uns Mythen und Lügen erzählen, das die Medien die Wahrheit verzerren.
Ich bin das Schweigen leid, also werde ich darüber sprechen. Und ich will, das auch Ihr darüber sprecht.

Ich kann nur sagen, er hat mir aus der Seele gesprochen …

siehe auch:
Andreas Bemeleit 21.05.2009: “Biowaffe Mensch” – unbeantwortete Fragen
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HIV ist ein Virus, kein Verbrechen!

Ist Kriminalisierung von HIV, von HIV-Positiven ein geeignetes Mittel, die HIV-Infektionszahlen zu senken? Einige Beiträge angesichts der Verhaftung einer Sängerin wegen HIV-Übertragung erwecken den Eindruck. Was ist HIV – ein Verbrechen? Oder ein Virus?

Der Fall einer Sängerin, die wegen des Verdachts verhaftet wurde, einen Sex-Partner mit HIV infiziert zu haben, geht breit durch die Medien. Mancher Artikel, einige Berichte wägen ab, argumentieren, überlegen. Viele hingegen spitzen zu, überzeichnen, kaprizieren sich auf vermeintliche Horror-Geschichten. Einige benutzen eine Sprache, die eher von Terrorbekämpfung bekannt ist, reden von Virusschleuder, Todesengel oder Biowaffe. Manche schwingen die ganz große Keule, phantasieren von ‚lebenslang‘ oder fordern Verschärfung des Rechts, mehr Kriminalisierung.

Worum geht es?
Ist HIV ein Virus?
Oder ein Verbrechen?
Kriminalisierung – was bedeutet das bei HIV, und was sind ihre Konsequenzen?

Justitia
Justitia - nicht immer ohne Ansehen der Person?

Kriminalisierung von Positiven

In zahlreichen Staaten häufen sich Urteile gegen HIV-Positive. In manchen Staaten wird gar eine Verschärfung des Strafrechts gefordert. Die Kriminalisierung von HIV scheint immer breiteren Raum zu gewinnen – aber ist sie ein probates Mittel? Mit Justitia gegen Positive?

„HIV ist ein Virus, kein Verbrechen!“, betonte Edwin Cameron auf der XVII Internationalen Aids-Konferenz in Mexiko am 8. August 2008 in seiner Rede „Criminal Statutes and Criminal Prosecutions in the Epidemic: Help or Hindrance?“. Er forderte eine ‚Kampagne gegen Kriminalisierung‘.
Edwin Cameron ist Richter am Supreme Court of Apeal in Südafrika. Er lebt offen HIV-positiv und ist u.a. Autor des Buches „Witness to AIDS“ (deutsch: ‚Tod in Afrika – mein Leben gegen Aids‘).

In Deutschland wendet sich u.a. auch Pro Familia gegen Kriminalisierung. „Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass Kriminalisierung ein Klima des Leugnens, der Verheimlichung und der Angst schafft und damit einen Nährboden für kontinuierliche und schnelle Ausbreitung von HIV“, betonte der Bundesverband Pro Familia Ende November 2008.

Und auch UNAIDS, die Aids-Organisation der Vereinten Nationen, betont (policy paper „Criminalization of HIV Transmission“, pdf) das Strafrecht sei nicht dazu geeignet, die HIV-Übertragungsrate zu senken. Es gebe keinerlei Evidenz dafür, dass mit einer breite Anwendung des Strafrechts bei der HIV-Infektion HIV-Übertragungen verhindert werden könnten. Vielmehr müssten die allgemeinen Menschenrechte auch für HIV-Positive gewahrt werden. Zudem empfiehlt UNAIDS HIV-Tests und vertrauliche Beratungsangebote.

Kriminalisierung hingegen wird – z.B. nach der (von der Deutsche Aids-Hilfe kritisierten) Verhaftung einer Sängerin – von interessierter Seite gelegentlich auch hierzulande gefordert, eine Verschärfung des Strafrechts angemahnt. So bezeichnet der Osnabrücker Strafrechts-Professor Arndt Sinn HIV-Positive im Interview mit der FR (17.04.2009) als „Gefährdungspotenzial“ und fordert die Einführung eines „Gefährdungstatbestands“.

Folgen der Kriminalisierung der HIV-Infektion

Wenn nun angesichts des Falles der Verhaftung einer Sängerin von manchen Stellen eine verschärfte Kriminalisierung gefordert wird – welche Folgen mag diese haben?

Die gesellschaftlichen Folgen, die aus zunehmender Kriminalisierung resultieren, hat u.a. der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Rolf Rosenbrock beschrieben:

„Ich bin immer davon ausgegangen, dass diese polizeistaatlichen Vorstellungen, mit Gewalt könne man das Risiko in der Bevölkerung auf Null bringen, in totalitären Wahnphantasien enden.“ (Rolf Rosenbrock, „Entscheidend ist die Kommunikation, in Deutsche Aids-Hilfe (Hg.): Jahrbuch 2007/2008)

Und die Folgen für Aids-Prävention und die Vermeidung von HIV-Neuinfektionen?

Nur eine Person, die weiß, dass sie HIV-positiv ist, kann strafrechtlich belangt werden. Welche ‚Anreize‘ setzt dann eine zusätzliche Kriminalisierung?

Bizarre Folgen hätte eine Verschärfung der strafrechtlichen Bedrohung von HIV-Positiven, darauf weisen Kritiker hin: Nicht-Wissen wird wieder attraktiver als Wissen, nicht zuletzt aus Angst vor Repression – mit all seinen Konsequenzen.

Wer nicht weiß, dass er HIV-Positiv ist, weiß sich sicher vor strafrechtlicher Bedrohung, angesichts seines Nicht-Wissens. Auch wenn er sich beim Sex unsafe verhält, er mag sich selbst gefährden, ist aber von rechtlichen Folgen (einer Gefährdung Dritter) sicher.

Dies kann zu gravierenden Konsequenzen führen. Bereits jetzt, so zeigen zahlreiche Studien, ist ein Großteil der HIV-Neuinfektionen auf Personen zurück zu führen, die selbst bisher nichts von ihrer eigenen HIV-Infektion wissen. Die Zahl der ungetesteten HIV-Positiven, sie dürfte steigen durch zunehmende Kriminalisierung, warnen Präventionsexperten.

Und, ergänzen Behandler, wer nicht von seinem Status als HIV-Positiver weiß, bekommt keine entsprechende medizinische Betreuung, keine Behandlung, keine antiretrovirale Therapie. Ist nicht nur als nicht behandelter Positiver infektiöser, sondern vor allem selbst im Risiko einer Verschlechterung seines Gesundheitszustands, einer Verschlechterung seiner späteren Behandlungsmöglichkeiten, eines vorzeitigen Todes.

Nicht von seinem HIV-Status zu wissen, kann potenziell ein Risiko sein. Für die eigene Gesundheit (als HIV-Infizierter, der von seiner eigenen Infektion nicht weiß), aber auch für die öffentliche Gesundheit insgesamt.

Nicht von seinem HIV-Status zu wissen wird wieder attraktiv, wenn Positive noch mehr als bisher stigmatisiert, kriminalisiert werden.

Die Kriminalisierung der HIV-Infektion erschwert Prävention, verschlechtert die medizinische Situation Betroffener und riskiert eine Verschlechterung der epidemiologischen Situation.
Und damit geht es in der aktuellen Debatte um weit mehr als ’nur‘ den‘ Staatsanwalt in meinem Bett‚ – es geht darum, ob die Aids-Bekämpfung in Deutschland weiterhin auf Aufklärung, Information, Selbstbestimmung und Verantwortung  setzt und damit erfolgreich ist. Oder ob populistische Impulse von Boulevard-Presse und Präventions-Nicht-Experten zu einem Rollback führen.

Dies, darauf weisen Kritiker hin, ist die bizarre, bestürzende Konsequenz von Vorschlägen à la Sinn. Sie warnen vor rechtspolitischem Populismus mit drastischen Public-Health-Konsequenzen.

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Es ist zu hoffen, dass verbale Geisterfahrten und journalistische Amokläufe der vergangenen Tage sich bald wieder legen (oder der nächsten Sau zuwenden, die durch das mediale Dorf getrieben wird). Debatten über eine Weiterentwicklung und Optimierung von HIV-Prävention sind oft sinnvoll, manchmal erforderlich. Gerade das Statement der Deutschen Aids-Hilfe (‚HIV-Therapie und Prävention‚) zur Frage der Präventionsmethode ‚Viruslast unter Nachweisgrenze‘ zeigt, dass diese Debatten auch geführt werden. Allerdings ist diesen Debatten statt aufgeregter Platitüden und auflagengeilem Populismus eher ein Klima von konstruktivem Dialog, Nachdenklichkeit und zielorientiertem Handeln förderlich.

In der Diskussion über HIV und Strafrecht wird gerne unterschlagen, dass in Deutschland wie auch in unseren europäischen Nachbarstaaten bereits seit Jahren Rechtsvorschriften existieren, die u.a. regeln wie zu verfahren ist, wenn eine Person einer anderen Schaden für Leib und Leben zufügt. Diese allgemeinen Regelungen können auch auf HIV angewendet werden – und werden es auch, wie gelegentliche Prozesse, ein aktuelles Urteil in Kanada und eine aktuelle Studie (Pärli 2009) zeigen. Es gibt keinerlei Hinweise, dass diese bestehenden rechtlichen Regelungen nicht ausreichen.

Wo sie im bestehenden Recht Lücken sehen, erklären und begründen die Kriminalisierungs-Befürworter nicht. Weswegen ein Sonder-Recht besser als allgemein gültige Vorschriften sein sollte, ebenfalls nicht.

Und die Folgen, die solcherlei Verschärfungen haben könnten?
Über potenzielle Folgen für HIV-Prävention, für HIV-Positive, für die Entwicklung der Infektionszahlen machen sie sich oftmals scheinbar keine Gedanken. Oder doch?  Schielen sie schon auf die steigenden Zahlen, um dann zum nächsten Schlag ausholen zu können?

So laufen die Apologeten einer zunehmenden Kriminalisierung Gefahr, sich als Brandstifter zu betätigen, als Brandstifter einer Verschlechterung der Situation von HIV-Positiven, vor allem aber auch als Apologeten einer Verschlimmerung der HIV-Epidemie in Deutschland. Und mittelfristig zu einem ‚law-and-order-Staat, zu ‚old-school- Public Health‘, zu Gauweilereien und anderen längst in ihrem Versagen als untauglich erkannten Konzepten.

Polizeistaatliche Vorstellungen weisen nicht nur -wie Rosenbrock treffend betont- den Weg in totalitäre Wahn-Phantasien. Sie gefährden auch die Erfolge, die 25 Jahre Aids-Prävention in Deutschland erreicht haben. Erfolge, die nicht mutwillig und leichtsinnig riskiert werden sollten.

Erfolgreiche Aids-Bekämpfung braucht nicht mehr, sie braucht weniger Kriminalisierung!

siehe auch
ondamaris 26.01.2009: Zehn Gründe, die gegen die Kriminalisierung von HIV-Exposition oder -Übertragung sprechen
Ärztezeitung 21.04.2009: Aids ist kein Verbrechen
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Aids-Vorwurf: Diffamierungs-Klage gegen Facebook

Eine Highschool-Schülerin klagt in New York gegen ehemalige Mitschüler sowie das Social Network Facebook – wegen Diffamierung. In einer Facebook-Gruppe hatten Mitglieder u.a. geschrieben, sie leide an Aids.

Denise F. klagt vor den New York Supreme Court gegen Facebook sowie gegen vier ehemalige Mitschüler aus Long Island. In einer im Januar 2007 von einem der Beklagten gegründeten Facebook-Gruppe sollen diese Mitschüler u.a. behauptet haben, Denise habe ein „abweichendes Sexualverhalten einschließlich Geschlechtsverkehr mit Tieren“, nehme Drogen und sei an Aids erkrankt.

Die Angeklagte wird in der Gruppe allerdings niemals beim Namen genannt – aus Kontext und Photos gehe aber hervor, dass sie gemeint sei.

Denise F. klagt auf eine Entschädigung in Höhe von insgesamt 3 Millionen US-$.

Facebook sei der Ansicht, für den von Nutzern eingestellten Inhalt nicht verantwortlich zu sein, so ein Bericht der ‚Student Press Law Center‘.

[via Shawn’s POZ blog]
Weitere Informationen:
Student Press Law Center: Student files defamation lawsuit against former classmates, Facebook over online comments
Klage von Denise F. gegen Facebook und Mitschüler (pdf)
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Ein Fall, der ein wenig bizarr scheint.

Ein Fall jedoch, der auf einfache Weise deutlich macht, wie viel Potenzial an Stigmatisierung und Diskriminierung auch heute noch in der Tatsache, gar nur der Möglichkeit liegt, das jemand HIV-infiziert oder an Aids erkrankt ist. Ein Stigmatisierungs-Potenzial, das auch durch einen offenen Umgang mit der eigenen HIV-Infektion oft nur gemindert, nicht völlig ausgeschaltet werden kann.

Ein Fall allerdings auch, der zeigt, welche Gefahren in zunehmenden Verlagerungen von sozialem Leben in virtuelle Welten weltweiter Netze liegen können – und wie wichtig es (nicht nur, aber auch) für Menschen mit HIV ist, überlegt und bewusst mit ihren Daten umzugehen.

‚Der Schwanz als Diktator‘ – oder: Männer sind gefährlich (akt.)

Die Münchner Aids-Hilfe hat eine neue Kampagne gestartet, „Der Schwanz als Diktator“ – eine Kampagne, die kontroverse Reaktionen hervorruft.

Eines der Motive der Kampagne:

"Der Schwanz als Diktator" - neue Kampagne der Münchner Aids-Hilfe
"Der Schwanz als Diktator" - neue Kampagne der Münchner Aids-Hilfe (c) Münchner Aids-Hilfe

Die Münchner Aidshilfe schreibt zu ihrer neuen Kampagne:

„Natürlich ist es ein ganz übles Klischee!
Aber sicher auch eines, bei dem sich viele Schwule schon mal gefragt haben, ob es nicht doch ein Körnchen Wahrheit beinhaltet: Männer werden von ihrem Schwanz gesteuert! Also sind wir mal davon ausgegangen, dass es so ist: Dass ein kleiner Diktator zwischen unseren Schenkeln sagt, wo es lang geht. Und dass dies zu Problemen führen kann, kann man sich ja denken…“

Die Kampagne entstand aus einer Werbeagentur heraus: „Die Idee und die wunderbare Umsetzung ist uns von der Werbeagentur .start! zur Verfügung gestellt worden.“

„Der Schwanz als Diktator“ – eine Kampagne der Münchner Aidshilfe. Dazu ein Gastbeitrag von Martin Klatt:

Auch im Jahr 2009 ist in AIDS-Hilfe noch etwas drin, was man dort nicht auf den ersten Blick vermutet und es gibt viele Botschaften, die mir in den letzten Tagen begegneten. Im Folgendem handelt sich um Gedanken, die von mir interpretiert wurden und nichts mit der Kampagne zu tun haben müssen aber von ihr inspiriert sind:

· Männer sind gefährlich.

· (Männliche) Sexualität ist unberechenbar, gemeingefährlich und unterdrückend.

· Der Schwanz macht viele Probleme und ist ein Fremdkörper, mit dem „Ich“ nichts zu tun habe.

· Die Autonomie des einzelnen kann in Frage gestellt werden (auch wenn man es nicht will…)

· HIV-positive sind dafür verantwortlich, die Infektion nicht weiterzutragen.

· Sexualität ist gefährlich und muss zumindest aus seuchenmedizinischer Sicht kontrolliert werden (Herr Gauweiler und Co hatten doch nicht so unrecht…).

· Ist das (Begleitscheiben) von der oder für die katholischen Kirche?

· Ist das für die Kampf-Fraktion der Frauen in der Emanzipationsbewegung geschrieben?

· Warum ist Herr Gauweiler eigentlich nicht der abgebildete Diktator?

· Hat das irgendwas mit Schwulen zu tun? Waren vielleicht Diktatoren der angedeuteten Staaten MSM?

· Gibt es das auch mit Hitler?

· Der HIV-Schnelltest hilft (gegen oder für … ja was eigentlich ?- Diktatoren, die zwischen den Schenkeln schaukeln?)

· Alle MSM in diesem Lande, die ihr euch von AIDS-Hilfe nicht angesprochen fühlt – habt ihr es gut….es wird weiterhin dafür gesorgt, dass ihr gute Gründe habt, es dabei bewenden zu lassen.

· Was hat das mit Schnelltest zu tun? Auch in Diktaturen wird schon mal schnell geschossen.

· Eine Kampagne kommt gut ohne sinnvolle Botschaft aus.

· AIDS-Hilfe ist neben den Hochglanz-Leitbildern und wirklich gut klingenden Ansätzen auch noch etwas ganz anderes…
(es lohnt sich immer, hinter die Fassaden zu schauen…in diesem Fall bekommt man Inneres sogar frei Haus)

· Man muss auch Männer, die ihrem Schwanz ausgeliefert sind, dort abholen wo sie stehen.

· Diktaturen sind gut für eine leichte und witzige Werbekampagne.

· Braun als (Grund-)Farbe des Motivs muss nicht politisch gewertet werden und braucht nicht mit einer irgendwie gearteten Geschichte in Verbindung gebracht werden (außerdem gibt es dass ja auch in grau).

· Menschen, die aus politischen Gründen oder wegen ihrer homoerotischen Neigungen in Diktaturen verfolgt werden und wurden sind keine Gruppe, auf die Rücksicht genommen werden muss.

· Die Würde des Menschen ist unantastbar (sozusagen per Definition) und Angriffe dagegen muss eine Demokratie aushalten bzw. sind dann per Definition gar nicht möglich und beruhen logischerweise auf der Überempfindlichkeit derer, die sich als Opfer wähnen.

· Leitbilder in ihrer Tiefe zu verstehen und zu leben ist nachrangig, wenn es darum geht sich Gehör verschaffen zu wollen.

· Authentizität gegenüber eigenen Leitbildern ist nachrangig, wenn die Werbeindustrie mal wieder einen Coup gelandet hat.

· Man kann der Werbeindustrie nicht sagen: „Das geht gar nicht, das nehmen wir nicht“ – leichter ist es, die eigenen Werte zu verraten.

· Die Würde des Menschen ist ein Kostenfaktor und disponierbar.

· Man muss sich nicht dem Vorwurf aussetzen, feige zu sein (wenn man sich nicht mit der Werbeagentur anlegt), schließlich hat man ja eine mutige Kampagne gestartet.

· Der Zweck, ach nein – pardon, Geld heiligt die Mittel.

· Wandel in Geschichte kann in abgedroschenen Klischees durchaus ignoriert werden.

· In einer Diskussion (rund um den Test) erworbenes Renomee bürgt nicht für Qualität einer Einrichtung (man lasse sich nicht von schönen Worten blenden).

· „Der Farbige an sich schnackselt halt gerne“ wie man spätestens seit Frau von Thurn und Taxis weiß.

· Die einzelne AIDS-Hilfe ist grenzenlos autonom.

· Die einzelne AIDS-Hilfe muss es nicht kümmern, wenn sie verbandsschädigende Botschaften/Kampagnen verbreitet.

· AIDS-Hilfen (d.h. die Menschen darin) sind es selber schuld, wenn sie sich mit den Botschaften/Kampagnen anderer AIDS-Hilfen identifizieren (wollen).

· Der Karikaturen-Streit ist adaptierbar.

· Kampagnen in AIDS-Hilfe sind auf den ersten Blick gerne ohne klare Botschaften und sind bevorzugt für Menschen zugänglich, die sich (zeitlich und inhaltlich) intensiv und intellektuell mit Medien auseinandersetzen (können) und gerne zwei bis x mal um die Ecke denken.

· Mit genügend Ausdauer werden wir die verstandesgesteuerte, misstrauenbesetzte Sexualität schon noch hinbekommen.

· Vertraue keinem, auch dir selbst nicht – du kannst nie wissen, was du tust.

· Vermeide Leben, du könntest von ihm diktiert werden und schlimmer, es könnte dir schaden.

· Die Michael-Stich-Stiftung ist doch in guter Gesellschaft…

· Kann ein großer Diktator auch ein kleines Problem sein? – und wie ist das mit der Demokratie?… …ist mein Schwanz stimmberechtigt?

…ich schweife nun endgültig ab…ich liebe diese Kampagne…

also zurück zur Kampagne, die zwei Preise verdient:

Den „Schimmligen Schwanz 2009“ in Gold für die beste „Schlechteste Kampagne einer AIDS-Hilfe“.

Die „Goldene Irgendwas 2009“ die nicht mit Lob spart, wie toll diese mutige Kampagne doch zu einer offenen Diskussion anregt und somit dem Thema Aufmerksamkeit beschert und sich die Macher nicht scheuten, dazu in leichter und witziger Art kontrovers erlebte Motive aufzugreifen.

Gastbeitrag von Martin Klatt (nicht als Geschäftsführer der AIDS-Hilfe Gießen e.V., nicht als Vorstand der AIDS-Hilfe Hessen e.V.)

queer.de 27.02.2009: ‚Münchner Aids-Hilfe schwanzfixiert
TheGayDissenter 27.02.2009: ‚Das Diktatorentreffen zu München‘

Nachtrag 07.03.2009: Die Münchner Aids-Hilfe hat inzwischen in ihrem Forum eine Diskussions-Seite zur Kampagne „Der Schwanz als Diktator“ eingerichtet

‚Böse Bilder‘ oder: Wie Stuttgart den Mut verlor

Zum Thema „Bilderstreit – über Stigma, ein abgehängtes Bild und Toleranz“ im Folgenden ein Artikel des neuen ondamaris-Mit-Autors Matthias Hinz:

Ländliche Polit-Posse oder klein(geistig)e Kunst-Zensur?– irgendwie ist es von beidem etwas, was sich neulich in der Schwaben-Metropole Stuttgart zugetragen hat.

Die Stadt Stuttgart hat die „größte Selbsthilfekonferenz Europas“ (Programmheft) zu sich ins Rathaus eingeladen, die von der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) veranstalteten „Positiven Begegnungen 2009“. Und da es offenbar noch immer keine Selbstverständlichkeit ist, „so eine“ Veranstaltung in der guten Stube der Stadt willkommen zu heißen, sei es auch hier lobend bemerkt.
Man ist freundlich und offen zu den über 400 (meist HIV-positiven) Gästen, der Oberbürgermeister übernimmt die Schirmherrschaft, und zur Eröffnung gibt es warme Worte der Bürgermeisterin Müller-Trimbusch.
Das Schwerpunkt-Thema der Konferenz ist „Stigmatisierung und Diskriminierung“, und so erklärt denn die Bürgermeisterin auch:
„Die Entstigmatisierung von Menschen mit HIV und AIDS ist eine der großen Aufgaben der nächsten Jahre. (…) Die Stadt Stuttgart unterstützt dieses Anliegen (…) Dass die Konferenz hier im Rathaus stattfindet, unterstreicht die besondere Bedeutung, die wir dem Thema beimessen.“

Alles sehr gut, sehr schön und wunderbar! – wäre da nicht diese peinliche Posse am Rande; am Rande zwar, aber doch mitten im Thema der Konferenz:
Noch vor Beginn der Veranstaltung, während draußen auf dem Platz die Fahnen der Aidshilfe gehisst werden, kommt es drinnen im Rathaus zum Eklat.
Im Foyer wird die Konferenz-Ausstellung „Bilder eines Stigmas“ von den Amtsträgern begutachtet und stößt auf Mißfallen.

(„Das Stigma ruft Ablehnung, Beklemmung oder Unbehagen bei Dritten hervor.“ Programmheft)

Bürgermeisterin Müller-Trimbusch verlangt vom Veranstalter DAH, daß etliche Fotos abgehängt werden müssen, so etwas ginge in einem schwäbischen Rathaus nicht.
Mit „so etwas“ sind Bilder von Frauen gemeint, die den Mut haben, sich und ihr Stigmatisiertsein zu zeigen, zu inszenieren, und damit offensiv und selbstbewußt ihre Würde und ihre Schönheit dem Stigma entgegen zu stellen.
Wunderbare Bilder einer begabten Photografin. Und, ja: diese Frauen sind teilweise unbekleidet!

(„In aller Regel versuchen Menschen, die von Stigmatisierung betroffen sind, sich ‚unsichtbar zu machen’. D.h. sie verbergen die sie stigmatisierenden Merkmale.“ Programmheft)

Nur kurz unterbrochen vom oben zitierten Auftritt der Bürgermeisterin bei der Eröffnungsveranstaltung, geht hinter den Kulissen der Tagung das Ringen zwischen Rathaus und Aidshilfe weiter. Die Frage ist: wieviel Entstigmatisierung verträgt die Gastfreundschaft des Rathauses? Das Ergebnis: die Bilder „dürfen“ doch gezeigt werden, alle, bis auf eines!
Dazu wird der anfänglich vorgeschobene Vorwurf des Sexismus nun von der Bürgermeisterin fallengelassen, und ersetzt durch den Hinweis, die religiösen Gefühle von Minderheiten schützen zu wollen.

(„Der Vorgang der Stigmatisierung verläuft häufig auf der Ebene von Vorurteilen und Klischees.“ Programmheft)

Und also geht das peinliche Theater des Rathauses weiter: der Hinweis „Zensiert“, welchen die Aidshilfe an die Leerstelle gehängt hat, die das zensierte Bild in der Ausstellung hinterlassen hat, wird von diensttuenden Geistern immer wieder entfernt. Man fürchtet um den guten Ruf der Stadt, der dadurch aber nur noch mehr Blessuren bekommt.
Der Ton verschärft sich, und schließlich steht die Drohung des Rathauses im Raum, die gesamte Ausstellung zwangsweise abzubauen, schlimmstenfalls auch die Konferenz einfach zu beenden.

(„Stigmatisierung und Diskriminierung gehen in der Regel Hand in Hand.“ Programmheft)

An diesem Punkt kommen einige Konferenzteilnehmer der DAH ungebeten und auf eigene Faust zu Hilfe und informieren durch kleine Aushänge überall im Rathaus über den Vorfall.

(„Engagierte Selbsthilfegruppen und funktionierende Netzwerke sind unverzichtbar.“ Programmheft, Grußwort der Landessozialministerin Stolz)

Es kommen Gespräche unter den Teilnehmenden über die Ausstellung und das Verhalten des Rathauses in Gang ( – gottseidank aber ohne die eigentliche Arbeit zu übertönen, schließlich ist es nur ein Randgeschehen). Unverständnis und eine gewisse Empörung machen sich Luft.

(„Damit machen sie vielen Menschen Mut und helfen mit, dass sachgerechte und auf Erfahrung basierende Entscheidungen getroffen werden können.“ Programmheft, Grußwort der Landessozialministerin Stolz)

In der folgenden Plenarsitzung erläutert nun der DAH-Vorstand (der die Sache bisher aus Rücksicht auf die Gastfreundschaft hinter den Kulissen ausgefochten hat) den 400 Teilnehmenden die Vorgänge.
Das inkriminierte Foto, das ohne das ganze Theater dezent unter zwanzig anderen in der Ausstellung gehangen hätte, strahlt jetzt als 12 Quadratmeter-Diashow im Großen Sitzungssaal und wird vom Publikum mit ausgiebigem Beifall bedacht.

(„ Sich dem Fremd- und Selbststigma zu stellen, erfordert Mut und eine gewisse Kraft zur Auseinandersetzung. Am Ende des Prozesses kann jedoch eine neu gewonnene (innere) Freiheit stehen, die mehr Unabhängigkeit, Selbstzufriedenheit und Identitätsstärkung beinhaltet.“ Programmheft)

Kann man nun aus dieser Posse etwas lernen?
Zumindest hat sich einmal mehr gezeigt, daß sich Zensur nicht lohnt, daß sie im besten Fall sogar – wie hier – den Zensor bloßstellt.
Und für die Aidshilfe war es gewiss gut, wieder einmal zu erleben, daß sie sich gegen Versuche, ihre Arbeit aus sachfremden (meist parteipolitischen) Gründen zu behindern, erfolgreich wehren kann – mit Unterstützung ihrer „Zielgruppen“.
Insofern gehört auch dieser kleine „Bilderkampf“ zu den fruchtbaren Erlebnissen, die die Schwabenmetropole möglich gemacht hat.
Ob aber im Stuttgarter Rathaus auch etwas gelernt wurde, ist zu bezweifeln…

mehr Mut – Wege aus Stigmatisierung und selbst-Stigmatisierung

Eines der zentrale Themen der ‚Positiven Begegnungen 2009‘ war die Frage von Stigmatisierung und Selbst-Stigmatisierung HIV-Positiver. Ein ganztägiger Workshop widmete sich der Frage, was Stigma bedeutet und welche individuellen und kollektiven Wege aus der Stigmatisierung führen können.

Mit ‚Stigma‚ (griech.) wurde ursprünglich ein Mal, ein körperliches Zeichen bezeichnet, ein Zeichen das erkennbar macht. Im Mittelalter beispielsweise wurden Verbrecher mit Brandzeichen gekennzeichnet (Brandmarken). Doch der Begriff Stigma ist ambivalent: neben der negativen Ausprägung als Makel kann er auch die Facette der Auszeichnung haben, wie z.B.Menschen die die Wundmale Christi aufwiesen in religiösen Kontexten als etwas ganz Besonderes betrachtet wurden.

Stigmatisierung ist von Diskriminierung zu unterscheiden: Stigmatisierung ist die Bewertung (Zuschreibung von Werten) eines Makels durch die Gesellschaft oder einen selbst. Diese Bewertung kann aber muss nicht zu Diskriminierung, zu diskriminierendem Verhalten führen.

„HIV und Aids gehören zu den Krankheitsbildern, die in besonderem Maß Anlass für Stigmatisierungsprozesse gegeben haben. Diese Prozesse dauern leider immer noch an. Die Fülle der sog. ‚Normabweichungen‘ (Homosexualität, Drogengebrauch, Promiskuität usw.) gepaart mit Sexualität sind hierfür ein reichhaltiger Fundus … In aller Regel versuchen Menschen, die von Stigmatisierung betroffen sind, sich ‚unsichtbar zu machen‘. … Um den Folgen von Stigma und Selbststigma und der damit verbundenen Diskriminierung … entgegen zu wirken, ist es unabdingbar, dem eigenen Selbststigma auf die Schliche zu kommen, es immer wieder auszuloten und zu überwinden.“ (aus der Workshop-Ausschreibung)

Stigmatisierung betrifft bei HIV sowohl durch die eigene HIV-Infektion als auch z.B. durch das erneute Sichtbarwerden von HIV, z.B. durch Fettansammlungen an Hals oder Nacken oder die ‚eingefallenen Gesichter‘ in Folge von Lipoatrophie.

Stigma und Realität

Das Problem bei Stigma: das -zu bekämpfende- Stigma ist zugleich auch real existierende Realität. Die HIV-Infektion ist nun einmal vorhanden. Die Löcher im Gesicht, das fehlende Fett am Arsch, die Fettansammlung im Nacken, sie lassen sich nicht einfach weg-leugnen.
Das Stigma hat reale Ebenen, die man nicht einfach loswerden kann – einschließlich der damit verbundenen Zuschreibungen und Wertungen.

Die Konsequenz: die Strategie des ‚positive thinking‘, die Strategie ‚es sich schön zu reden‘ (z.B. das morgendliche ‚eigentlich seh‘ ich doch schön aus‘ vor dem Badezimmer-Spiegel), die Strategie die Realität zu leugnen, diese Strategie funktioniert bei diesem Stigma nicht – man ist ‚zwangsvergesellschaftet‘ mit dem Makel, und dies kann auch durch die ‚richtige‘ Einstellung nicht verändert werden.

Wege aus der Selbststigmatisierung

Der Weg des ‚Ungeschehen-Machens‘ ist also versperrt – HIV bleibt nach derzeitigem Stand der Medizin ein dauerhafter Begleiter, und vermutlich auch die Löcher im Gesicht, das Fett an verkehrten Körperstellen. Der Makel ist da – und er wird bleiben, er ist real.

Erster Schritt einer Lösung, eines Entkommens aus der Tretmühle von Stigmatisierung und Selbststigmatisierung könnte also sein, die Un-Hintergehbarkeit der Realität, dieses Makels zu akzeptieren.

Allerdings: das Mal mag real sein, nicht abänderbar. Aber auch die Bewertung? Die ist (persönlich oder gesellschaftlich) zugeschrieben. Ist das Mal tatsächlich ein Makel? Und ist dieser Makel wirklich mit all den negativen Zuschreibungen verbunden? Auch für die eigene Person selbst?

Alles hängt davon ab, wie das Mal interpretiert wird – als Makel? oder als Auszeichnung?

Diese Möglichkeit der Interpretation des Mals – sie kann vielleicht auch neue Wege aus der Selbststigmatisierung eröffnen.

Neben einer Interpretation werden auch diverse andere Versuche von Lösungsstrategien gelebt. Dazu gehören z.B. die ‚Flucht zu den gleichen‘ oder damit verwandt das Konzept, sich anderen Gruppen als der früheren eigenen sozialen Gruppe zuwenden (z.B. der ‚Fetisch-Szene‘), wenn man empfindet dass dort der Makel weniger Gewicht hat, weniger negativ bewerten wird, weniger wichtig ist.

Die Positiven-Cafés, die Positiven-Frühstücke, auch (in einer Nuance) die Positiven-Treffen – hier haben sie einen wesentlichen Kern ihrer Attraktivität. Sie sind Rückzugs-Räume, letzte Räume ohne oder doch mit deutlich weniger Stigmatisierung. Und für viele der letzte Ausweg, bevor sie sich völlig aus der Gesellschaft zurück ziehen.

Doch in einer (dauerhaften, ständigen) Separierung liegt kein Ausweg aus der Stigmatisierung. Wohl aber vielleicht in der Frage der Schwerpunkt-Setzung. Ist vielleicht anderes im Leben wichtiger geworden? Sind die Bereiche, in denen Stigmatisierung empfunden wird, wirklich immer im Kern des Seins, des Lebens?

Wird wirklich in jeder Situation gleichermaßen eine Folgen dieses ‚Makels‘ erlebt? Wo waren Unterschiede? Wo wurden vielleicht auch positive Erfahrungen gemacht? Diese positiven Beispiele und Erfahrungen zu erkennen, zu schätzen kann ein Schritt auf dem Weg aus der Selbststigmatisierung sein.

Welche inneren Normen befördern die eigene (Selbst-) Stigmatisierung?
In wie weit werden in der Selbststigmatisierung (unhinterfragt?) Bilder und Normen selbst übernommen, die mir von außen aufgesetzt wurden?

Wie gehen wir selbst mit unserer Andersartigkeit um? Das ist eine der zentralen Fragen, aus der Selbststigmatisierung erwächst.

Die Schuldfrage

Warum treten diese Probleme von Stigmatisierung, Diskriminierung bei HIV und Aids in besonderem Maß auf? Warum bei Krebs oder Diabetes wesentlich geringer, in anderer, niedrigerer Ausprägung?

Krebs, Aids, Diabetes – alle drei sind potenziell lebensbedrohliche Erkrankungen. Wo ist der Unterschied?
Anders ist zunächst die Angst – die Angst vor der Ansteckung.
Und: bei HIV, bei Aids geht es um Sex, um schwulen Sex, und das Bild der Gesellschaft „schwuler Sex ist schlecht“.

Der eigentliche Wesens-Unterschied jedoch liegt in einem anderen Merkmal. Krebs, Diabetes – sie sind etwas „Schicksalhaftes“. Bei HIV, bei Aids jedoch wird nicht diese Schicksalhaftigkeit unterstellt, sondern eine Verursachung. ‚Aids kriegt man nicht, Aids holt man sich‘. Eine Verursachung, die mit Verantwortungs-Bildern arbeitet und schnell landet bei der Frage nach – Schuld.

In dieser Schuld liegt das eigentliche stigmatisierende Element. In Bilder von Schuld, die nicht nur von außen an die Person heran getragen werden, sondern Bilder, die auch selbst von ihr, innerlich reproduziert werden. In Bildern von Schuld, auf die reagiert wird mit Versuchen, die eigene Unschuld zu beweisen.

Die Frage nach einem Weg aus der Selbststigmatisierung muss sich also mit dem Thema Verantwortlichkeit beschäftigen. Dabei liegt der Weg aus der aus Verantwortungs-Bildern resultierenden Stigmatisierung nicht darin, die eigene Unschuld zu beweisen. Sondern darin, die Zuschreibung zu verändern. Genau jene „Schuld“ anzunehmen (im Sinn einer Ursache, z.B.: ‚ja, aus dem und dem Verhalten könnte meine Infektion resultieren‘) – aber keine Scham zu empfinden, sich nicht schuldig zu fühlen.
‚Ja, ich habe Schuld – aber ich fühle mich nicht schuldig.‘

der Weg von den individuellen zu kollektiven Lösungen

Der WeG aus der Stigmatisierung und Selbst-Stigmatisierung ist jedoch nicht nur ein Weg des Einzelnen. Sondern von Individuen, die in Gesellschaften leben.

Der Weg geht von innen nach außen – und zurück. Wenn ich meine eigene Selbststigmatisierung erkenne und verändere, abbaue, kann ich auch die Gesellschaft mit meinem Stigma konfrontieren – und mit etwas Glück auch eine Reaktion bekommen, die mein eigenes Inneres wieder stärkt, meine eigene Selbst-Stigmatisierung abbauen hilft.

Daher gilt es, nicht nur einzeln individuelle Wege aus dem Stigma zu entwickeln, sondern auch kollektiv.
Vereinfacht formuliert: „Wenn wir selbst nicht offen über HIV reden, auch über ‚unser‘ HIV, wie wollen wir dann erreichen, dass in der Gesellschaft offen und ohne Stigmatisierung, Diskriminierung über HIV geredet wird?“

Hier stellt sich auch die Frage, wie viel Stigma im modernen Dogma „nur wer gesund lebt ist glücklich“ liegt.
Zu wie viel zusätzlicher Stigmatisierung führt die zunehmende Verabsolutierung des Ziels ‚Gesundheit‘ in der aktuellen Gesundheitspolitik? Insbesondere, wenn sie zunehmend mit der ‚Schuldfrage‘ verknüpft wird, wie z.B. bei Rauchern oder zu ‚ungesundem‘ Essen?

Auf kollektiver Ebene stellt sich auch die Frage, welche indirekten Folgen die Präventions-Kampagnen der DAH haben. So sinnvoll es präventionspolitisch sein mag, HIV-Prävention mit Abbildern junger, knackiger, gesund aussehender attraktiver Männer zu betreiben – wie viel Potenzial für Stigmatisierung liegt hierdrin auch? Werden hier nicht auch gerade diejenigen Bilder geprägt, an denen der Positive sich dann messen lassen muss, sich selbst misst – und in Stigmatisierung und Selbststigmatisierung landet?
Sind -neben den knackigen jungen Männern auf safer-sex-Plakaten- auch Plakate erforderlich, die die Realität darstellen, in all ihren angenehmen und weniger angenehmen Facetten?

Braucht  es wieder Fotografen wie den z.B. den 1993 verstorbene Jürgen Baldiga, Plakate wie die mit Ikarus und seinen Kaposis (‚Ich will mich nicht verstecken‘)? Bilder die das Leben mit HIV so zeigen wie es ist? Unverzerrt, ungeschönt, aber auch nicht reduziert auf nur die hässlichen Seiten?
Und – wenn oft der zurückgehende Zusammenhalt in den Communities beklagt wird, der zunehmende Rückzug ins Private – brauchen wir wieder mehr „Miteinander“?

Auswege aus der Stigmatisierung

– die Schuldfrage knacken
gesellschaftliche Werte, Normen und Zuschreibungen hinterfragen (wie berechtigt sind sie? Für mich selbst?)
einseitig negative Zuschreibungen vermeiden (Vielfarbigkeit einfordern, Leben mit HIV ist ein ‚Panoptikum‘ – ist nicht nur Nebenwirkungen und Leid, ist auch Lebensfreude, Sex, Liebe)
mehr Mut :-).

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Bericht über den Workshop und anschließenden Themen-Treff „Schlechtes Karma? – Coping und Stigmamanagement“ am 31.01.2009 bei den Positiven Begegnungen 2009 in Stuttgart, Leitung Dr. Hella von Unger (Berlin) und Dr. Dr. Stefan Nagel (Dresden)

weitere Informationen:
Lesetipp thewarning 04.02.2009: ‚Pute‘ et ‚barebacker‘: analyse comparative de 2 stigmates
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