Prinzipienlosigkeit? Desinteresse? Absicht? – Das Gesundheitsministerium will offensichtlich keine Selbst-Interessenvertretung von Menschen mit HIV im Nationalen Aids-Beirat

Der Nationale Aids-Beirat hat sich heute konstituiert. Viele Professoren (überwiegend Kliniker), zwei Sozialwissenschaftler/innen, zwei Mitarbeiterinnen von Aidshilfe – und keine Interessenvertreter von Menschen mit HIV (1), zeigt die Liste der Mitglieder des nationalen AIDS-Beirats. Statt mit wird wieder einmal nur über uns gesprochen – entgegen anders lautenden Aussagen.

Es gibt ein international anerkanntes Prinzip. Es nennt sich das „GIPA Prinzip“ – Greater Involvment of People with HIV and Aids: Menschen mit HIV und Aids sollten auf allen Ebenen bei sie betreffenden Entscheidungen beteiligt werden (“participation in decision-making processes that affect their lives”).

Dieses Prinzip einzuhalten ist Anliegen vieler international auf dem Aids-Gebiet arbeitenden Organisationen. Es einzuhalten gehört zu den Bedingungen, die internationale Organisationen wie der Globale Fonds ihren Zuwendungsempfängern vorschreiben. Der Global Fund schreibt als ‚minimum requirements‘ u.a. vor „The Global Fund requires all CCMs [Country Coordinating Mechanism, Instrument für Projektvorschläge] to show evidence of membership of people living with and/or affected by the diseases“ (Quelle).

Das GIPA-Prinzip wurde bereits am 1. Dezember 1994 beschlossen, auf dem ‚Paris Aids Summit‘. Es befindet sich in der auf diesem Gipfel beschlossenen und von den 42 dort hochkarätig vertretenen Staaten unterzeichneten ‚Paris Declaration‚. Unterzeichnet hat diese Paris Declaration für die Bundesrepublik Deutschland auch Horst Seehofer, CSU und damaliger Bundesminister für Gesundheit.

In dieser ‚Paris declaration‚ wird gesprochen von „ensuring their [people living with HIV/AIDS; d.Verf.] full involvement in our common response to the pandemic at all – national, regional and global – levels“, und unter III. ist zu lesen, die Unterzeichner verpflichten sich

„fully involve non-governmental and community-based organizations as well as people living with HIV/AIDS in the formulation and implementation of public policies“.

UNAIDS, das Gemeinsame Aids-Programm der Vereinten Nationen (deren Mitglied Deutschland ist), formuliert

„Das Prinzip GIPA (Greater Involvement of People Living with HIV/AIDS, stärkere Einbeziehung der Menschen, die mit dem HI-Virus / mit AIDS leben) wurde beim AIDS-Gipfel 1994 in Paris offiziell anerkannt, als 42 Länder sich dahingehend einigten, dass ein umfassendes Engagement auf nationaler, regionaler und globaler Ebene zur Entwicklung von unterstützungsorientierten politischen, rechtlichen und sozialen Umfeldern führen wird.“ (Quelle pdf)

Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer betonte nach der Verabschiedung des GIPA-Prinzips 1994 stolz in einer Presseerklärung

“Die Betroffenen selbst können oft die besten Entscheidungen treffen, die besten Anregungen geben, . . . weil sie tagtäglich persönlich erfahren, was es heißt, HIV-infiziert oder aidskrank zu sein. Die Stärkung dieser Strukturen und Initiativen . . . sollte deshalb integraler Bestandteil aller politischen Überlegungen und Programme sein.” (Quelle)

Horst Seehofer ist schon lange kein Bundesgesundheitsminister mehr. Sein Nachfolger, Philip Rösler (FDP) scheint zu hoffen, an frühere Zusagen der Bundesregierung werde sich schon niemand erinnern. Vielleicht interessiert ihn die Frage auch nicht. Oder ist ihm die Einbeziehung HIV-positiver Interessen schlichtweg egal?

Es geht gemäß dem GIPA-Prinzip darum, die Erfahrungen, Belange, Lebenssituationen HIV-Positiver im Nationalen Aids-Beirat durch diese selbst einzubeziehen. Es geht nicht um die Frage, ob einzelne Mitglieder des Nationalen Aids-Beirats – ob offen oder nicht offen – mit HIV infiziert sind. Und es geht nicht um die Frage, ob sie etwa in Aidshilfen arbeiten – Aidshilfe und Positiven-Interessen-Selbstvertretung sind zweierlei, dies sollte auch im Bundesgesundheitsministerium bekannt sein.

Es geht um die (auch: die politisch gewollte) Einbeziehung von Vertretern HIV-Positiver und ihrer Lebensrealitäten in genau dieser Funktion: Selbst-Interessenvertretung HIV-Positiver.

Und genau dies scheint das Bundesgesundheitsministerium nicht zu wollen.

Oder wie sollen wir es sonst verstehen, dass Selbst-Interessenvertretung von Menschen mit HIV und Aids im Nationalen Aids-Beirat nicht beteiligt ist? Dass die Lebenswelten und Probleme von drogengebrauchenden Menschen mit HIV oder von HIV-positiven Migrantinnen, um nur zwei Beispiele zu nennen, außen vor bleiben? Dass  in Deutschland scheinbar nicht gewollt ist, was in Lesotho oder Burkina Faso sogar vorgeschrieben wird, um internationale Mittel zu bekommen?

Müssen Menschen mit HIV und Aids erst wieder vor der Tür des Bundesgesundheitsministers demonstrieren, Die-Ins oder andere medienwirksame Aktionen veranstalten, ihm laut ihre Meinung sagen, bevor sie Gehör finden?

WILL der Bundesgesundheitsminister dann wenn es – bei ihm, in ’seinem‘ Nationalen AIDS-Beirat – drauf an kommt keine Selbst-Interessenvertretung HIV-Positiver? Oder interessiert es ihn schlichtweg nicht? Sind wir, unsere Meinung, unsere Interessen ihm letztlich doch egal? Sind all die netten Worte zum Welt-Aids-Tag oder bei anderen Anlässen wenn Kameras anwesend sind, nur ministerielles Blabla? Politiker-Geschwätz?

Es wäre schade. Und es würde überraschen. Denn Themen, bei denen Interessenlagen oder Ziele nahe bei einander liegen oder gar übereinstimmen, Politik und HIV-Positive an einem Strang ziehen, ein Austauschen und ggf. gemeinsames Agieren im Interesse aller Beteiligten wäre, die dürfte es durchaus geben …

Aber auch die Beteiligten des Nationalen Aids-Beirats selbst müssen sich fragen lassen, warum sie das Anliegen, Selbst-Interessenvertretung HIV-Positiver im Nationalen Aids-Beirat zu beteiligen, nicht unterstützen. Sie müssen sich fragen lassen, ob sie es vor der Öffentlichkeit, vor Aidshilfen und Kollegen, vor ihren Patientinnen und Patienten, aber vor allem auch vor sich selbst rechtfertigen können, an dieser bedeutenden Stelle der Formulierung deutscher Aids-Politik zwar über, aber kaum mit Menschen mit HIV zu sprechen und entscheiden?

Und Mitarbeiter/innen von Aidshilfe als Mitglieder des Nationalen AIDS-Beirats sowie die Deutsche Aids-Hilfe als Verband  müssen sich fragen lassen, ob sie sich instrumentalisieren lassen – um eine Selbst-Interessenvertretung HIV-Positiver zu verhindern? Gerät Aidshilfe hier in Gefahr, eines ihrer hehrsten Prinzipien zu verraten?

„Mit uns, nicht nur über uns “ und „Wir sind nicht das Problem, sondern Teil der Lösung“ – das waren einst Grundgedanken der Aidsarbeit, realisiert oft auch in deutscher Aids-Politik. Die daraus, aus der Einbindung und Selbst-Vertretung von Menschen mit HIV und Aids, auch eine ihrer Stärken bezog und internationale Anerkennung fand. Inzwischen scheinen diese Grundgedanken der Interessen-Selbstvertretung kurz davor zu sein, zu Lippenbekenntnissen bei Pressekonferenzen und hübschen Welt-Aids-Tags-Empfängen zu verkommen. GIPA? Fehlanzeige!

Müssen wir wieder zornig werden? Oder ist es nur an der Zeit, dass der Minister die von der Bundesregierung unterzeichnete Erklärung ernst nimmt, sie in die Praxis umsetzt? Und endlich Selbst-Interessenvertretung von Menschen mit HIV und Aids beteiligt, auch am Nationalen Aids-Beirat?

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UNAIDS: The Paris Declaration – Paris AIDS Summit – 1 December 1994 (pdf)

siehe auch:
alivenkickin 08.02.2011: Liebe weichgespülten HIV Positive, liebe weichgespülte Community

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(1) Anmerkung zu „kein Interessenvertreter von Menschen mit HIV“:
Ja, Rainer Jarchow ist Mitglied im Nationalen AIDS-Beirat. Laut Mitgliederliste benannt als „AIDS-Aktivist“. Rainer hat sich jahrelang auf vielen Ebene und an vielen Stellen verdienstvoll für den Kampf gegen Aids und für Menschen mit HIV und Aids eingesetzt. Rainer ist erfreulicherweise und verdientermaßen Ehrenmitglied der Deutschen Aids-Hilfe. Und sicher ein wichtiges Mitglied im ‚Nationalen AIDS-Beirat‘.
Aber – lieber Rainer, du bist als einziger nicht (mehr) in Aidshilfe Aktiver unter dem Titel ‚Selbsthilfe‘ in den Nationalen AIDS-Beirat benannt. Neben der Funktion als
„Fachbeirat Deutsche AIDS-Stiftung“ auch als „AIDS-Aktivist“. Bist du das? Heute noch? Ist das (die ganze) Positiven-Interessenselbstvertretung? Oder wie viel Gefahr von Instrumentalisierung liegt hierin?

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Aktualisierung 16. Mai 2011:
Der Nationale Aids-Beirat wird um bis zu zwei HIV-Positive ergänzt, teilt das Bundesgesundheitsministerium mit.

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Bugchasing: Pozzen im ZDF

Eine neue Reportage-Sendung des ZDF-Ablegers ‚ZDF neo‘ beschäftigt sich am 12. Februar 2011 mit ‚bugchaising‘ oder ‚pozzen‘ – mit Menschen, die sich bewusst mit HIV infizieren.

ZDF neo ist ein seit November 2009 sendender digitaler Ableger des ZDF, mit dem das ZDF experimentiert, wie es wieder attraktiver für jüngere Zuschauerinnen und Zuschauer werden könnte – mit teils beachtlichen, interessanten Ergebnissen.

Im Februar startet ZDF neo eine neue Reportage-Reihe, ‚Wild Germany‘. Realisiert wird diese für das ZDF vom internationalen Magazin und Medien-Unternehmen ‚Vice‘. Die erste Sendung am 12. Februar 2011 (22:15, ZDF neo) beschäftigt sich mit „bugchasing“.

Als ‚bugchasing‘ wird im englischen Sprachgebrauch häufig bezeichnet, was im Deutschen gern ‚pozzen‘ genannt wird: sich bewusst und absichtlich mit HIV infizieren. ‚Bugchasing‘ ist wenig wissenschaftlich untersucht. Eine deskriptive US-Studie an 1.228 ‚bugchasing‘-Internetprofilen auf US-Internetseiten im Jahr 2006 identifizierte 7,5% der Profil-Besitzer als HIV-negativ und tatsächlich überzeugte ‚bugchaser‘ und 0,4% (5 von 1.228) als HIV-positiv und überzeugte ‚bugchaser‘. Insgesamt kommen die Forscher zu dem Resüme

„These data suggest bug chasing and gift giving do exist; however a sizable portion of both bug chasers and gift givers were not intent on spreading HIV.“

Wie häufig dieses Phänomen in der Realität in Deutschland tatsächlich auftritt, ist nicht bekannt – oft gewinnt man den Eindruck, die mediale Aufmerksamkeit für ‚pozzen‘ oder ‚bugchaser‘ ist weitaus höher als die Realität.

ZDF neo schreibt selbst als Ankündigungs-Text zur Sendung zu ‚bugchaising‘:

„AIDS ist eine der gefährlichsten Krankheiten der Welt. In den 80ern und 90ern ist eine ganze Generation von homosexuellen Männern jämmerlich daran gestorben. Nur durch groß angelegte Aufklärungskampagnen konnte die Verbreitung verlangsamt werden. Später tauchten Gerüchte über so genannte „Bugchaser“ in den Medien auf, Männer, die sich willentlich mit dem HI-Virus infizieren lassen. Manuel Möglich will wissen, ob dieses Phänomen wirklich existiert und was einen gesunden Mann dazu bringen kann, todkrank sein zu wollen.

Als ZDFneo-Reporter begibt er sich in die Schwulenszene. Dort trifft er Claude. Er ist aidskrank, was ihn nicht davon abbringt, verhütungsfreie Sexpartys in seiner Wohnung zu veranstalten. Regelmäßig melden sich HIV-negative Männer bei ihm an, die sich von ihm anstecken lassen möchten. In Leipzig trifft Manuel Tobias und René, beide HIV positiv, die ihm die Leipziger Szene zeigen. Sie erzählen, dass sie schon andere Männer mit deren Einverständnis angesteckt haben. Zuletzt schaut Manuel sich das an, wovon er bisher nur gehört hat: die Darkrooms der Stadt, der ideale Spielplatz für Bugchaser.“

‚Vice‘-Deutschland- Herausgeber Benjamin Ruth kündigt die Reportage-Reihe „Wild Germany“ an als „eine Reise an die obszönsten Orte des Landes“ …

Der Reporter des Beitrags, ‚Manuel Möglich‘, wird als Autor oder Mitarbeiter u.a. genannt bei dem ‚Magazin für Pop-Kultur‘ Spex (2006/07), dem WDR-Radio – Ableger 1Live (2007) und der WDR-Sendung ‚Funkhaus Europa‘ (2010), war Autor in der ‚Berliner Zeitung‘ (2008) oder der ‚Zeit‚ (2010). Beiträge, die ihn als sachkundig zu HIV / Aids ausweisen, sind auf den ersten Blick nicht zu finden.

Autor des Beitrags ist Tom Littlewood, Chefredakteur der Reportage-Reihe ‚Wild Germany‘ bei ‚Vice‘.

Produziert wird die Reportage-Reihe von ‚Vice‘ (Vice: etwa: Laster, Fehler). Das 1994 in Kanada gegründete ‚Szene-Magazin‘ (früher ‚Voice of Montreal‘) hat sich längst zu einem global agierenden Medien-Unternehmen gewandelt – Magazin, Internet-TV (vbs.tv), TV-Beiträge für andere Sender. Das Print-Magazin erscheint in 26 Ländern in einer Auflage von insgesamt 1,2 Millionen Exemplaren. Die SZ schreibt über das Magazin „Jeder findet etwas, das ihn abstößt, fast jeder etwas, das ihn fasziniert. Ein Gesamtkonzept gibt es nicht.“
Die deutsche Redaktion des Magazins (2005 gegründet) sitzt in Berlin, Herausgeber in Deutschland ist Benjamin Ruth.

Zuständig für ‚Wild Germany‘ beim ZDF: Andrea Windisch, stellvertretende Redaktionsleiterin bei ZDF Neo.

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weitere Informationen:
ZDF neo 12.02.2011 22:15 Uhr: „Wild Germany – Bugchasing“
Manuel Möglich auf 1Live
SZ 28.09.2010: Erfolgsmodel: „Vice“-Magazin – Obszön geschlitzte Früchte
Christian Grov, Jeffrey T. Parsons: Bug Chasing and Gift Giving: The Potential for HIV Transmission Among Barebackers on the Internet. in: AIDS education and prevention, Dezember 2006 (abstract)
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Über können Sollen und wollen Dürfen – Gedanken zur Zukunft der Interessenvertretung HIV-Positiver

Über können Sollen und wollen Dürfen – Gedanken zur Zukunft der Interessenvertretung HIV-Positiver

Meine Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

Ich freue mich, hier an diesem besonderen Ort zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Ich möchte Ihnen erläutern,
– warum ich die Gefahr sehe, dass Selbsthilfe demnächst am Ende ist,
– und was wir dagegen unternehmen können.
– Und warum unser Problem zentral mit dem Verhältnis von Selbsthilfe und Aidshilfe zu tun hat.

Erinnern wir uns kurz. Erste Berichte aus den USA 1981, bereits im Juli 1982 der erste Aids-Patient in Deutschland, hier in Frankfurt. „Tödliche Seuche Aids“ beschrieb der ‚Spiegel‘ 1983 das damalige Gefühl. Eine kaum greifbare Bedrohung zunächst unbekannter Ursache.

Ausgrenzung und Diskriminierung waren damals in viel größerem Umfang als heute konkret erlebbar.

Schwule Männer nahmen „die Sache“ selbst in die Hand: ab September 1983 wurden in Deutschland Aidshilfen gegründet, auch – vor 25 Jahren – hier in Frankfurt.

Das Erleben des massenhaften Erkrankens, Sterbens von Freunden, Weggefährten hat auch mich Ende der 80er Jahre vom Schwulenbewegten zum Aids-Aktivisten gemacht.

Aidshilfe entwickelte sich in Dialog und Auseinandersetzung mit Selbsthilfe. Die Bundesweiten Positiventreffen entstanden 1986, gerade weil Positive sich nicht in Aidshilfe wiederfanden.

Festzuhalten bleibt:
– Selbsthilfe war eine Notwendigkeit.
– Sie begann als Gegenwehr – weil sich sonst niemand kümmerte.
– Selbsthilfe und die Auseinandersetzung mit ihr waren konstitutiv für Aidshilfe

Von Beginn an hatte Aidshilfe allerdings mehr Aufgaben als die Unterstützung von Selbsthilfe, wurde bezahlt vor allem für Primärprävention.
Selbsthilfe hingegen hat einen engeren Fokus: Menschen mit HIV und ihre Interessen. Sie umfasste von Beginn an gegenseitige Unterstützung und aktive Interessen-Selbstvertretung – und fand bald zu überregionaler Zusammenarbeit und politischer Selbstorganisation.

Im September 1990 trafen sich hier in Frankfurt 250 HIV-Positive unter dem Motto „Keine Rechenschaft für Leidenschaft“ zur ersten „Bundes-Positiven-Versammlung“. Ihr Grundgedanke:

„So unterschiedlich wir auch leben mögen, wir lassen uns nicht auseinanderdividieren, gerade nicht in dem zentralen Punkt: Unser Leben – und sei es auch zeitlich noch so begrenzt – wollen wir selbst bestimmen und in allem, was unser Leben von außen beeinflusst, wollen wir selbstbewusst und selbstverständlich mitentscheiden …“

Hier werden die Kern-Anliegen damaliger Positiven-Selbsthilfe sichtbar:
– wir wollen selbst bestimmen,
– wir wollen mit entscheiden,
– und wir sind solidarisch.

Einen deutlichen Ausdruck fanden dieses Anliegen in den ACT UP Gruppen. Sie entstanden Ende der 1980er Jahre auch in Deutschland, auch hier in Frankfurt. Angst sowie Wut über Ignoranz waren Motoren dieser aktivistischen Selbsthilfe HIV-Positiver.

Lasse ich diese Erinnerungen an eine Vergangenheit, die gerade einmal zwanzig Jahre her ist, heute Revue passieren, staune ich – war die Zeit damals so anders?
Ja, sie war es.

Die Angst von damals ist nicht mehr – „der Druck ist raus“.
Von Zorn, von Wut weit und breit keine Spur.
Im Gegenteil, die Lage scheint „entspannt“ – Gegenwehr nicht mehr erforderlich.

Eine Frage kommt mir in den Sinn: Wollen HIV-Positive heute überhaupt – wie 1990 hier in Frankfurt formuliert – auch heute noch ihr Leben als Positive selbst bestimmen, über die Gestaltung sie betreffender politischer Rahmenbedingungen mit entscheiden? Und solidarisch?

Das Kern-Anliegen positiver Selbsthilfe – selbst bestimmen, mit entscheiden, Solidarität – trägt es auch heute noch?

Etwas hat sich, meine Damen und Herren, entscheidend verändert.
Etwas, dem wir längst den problematischen Namen ‚Normalisierung‘ gegeben haben.

‚Normalisierung‘ – dieser Begriff umschreibt, wie viele Positive ihre heutige Lebensrealität erleben, in der grundlegende Bedürfnisse meist befriedigend gedeckt sind. Für manche Positive am Rand der Gesellschaft gilt allerdings selbst dies nicht, z.B. Illegalisierte, Menschen in Haft oder psychisch Kranke.

HIV und Aids haben viele Jahre eine überproportional hohe Aufmerksamkeit erhalten, hohen Einsatz von Ressourcen, großes mediales Interesse. Je „normaler“ HIV wird, desto deutlicher wird dieses außerordentliche Interesse zurück gehen – mit weitreichenden Folgen, auch für Selbsthilfe. Die Zeit des „Aids-Exzeptionalismus“ geht ihrem Ende entgegen. Die HIV-Infektion verliert zunehmend ihren Sonderstatus.

‚Normalisierung‘ bringt Banalisierung mit sich.

Bei aller vermeintlichen ‚Normalisierung‘, eines wird sich nicht ändern.
Noch immer scheut sich die Mehrzahl der Positiven, offen mit ihrem Serostatus umzugehen. Wie reagiert der Typ, der mir gefällt, wenn ich ihm sage, ich bin positiv? Was würde mein Arbeitgeber machen? Und behandelt mich mein Zahnarzt dann noch?
Tabuisierung, Diskriminierung haben sich grundlegend nicht verändert.

Die Stigmatisierung bleibt bestehen.

‚Normalisierung‘ und Banalisierung bei einer weiterhin bestehenden Stigmatisierung können eine zusätzliche Konsequenz für HIV-Positive haben:
Wenn HIV nichts ‚Besonderes‘ mehr ist, sind es vielleicht bald auch Positive nicht mehr. Wenn allerdings das Stigma Aids weiter besteht, und mit ihm Stigmatisierung und Diskriminierung – dann liegt der Gedanke nahe, dass aus dem Sonderstatus schnell die Rand-Position, die des Weggedrängten werden kann.

‚Normalisierung‘ kann zur Marginalisierung führen.

Banalisierung – Stigmatisierung – Marginalisierung, eine Lage, die nach Selbsthilfe förmlich zu schreien scheint. In welchem Zustand also sind Selbsthilfe und Selbstorganisation von Menschen mit HIV heute?

Vor einigen Wochen entdeckte ich beim Bummeln durch meinen Berliner Kiez diese Postkarte: ein staunend dreinblickendes Kind denkt:

Wenn ich nur darf, wenn ich soll,
aber nie kann, wenn ich will,
dann mag ich auch nicht, wenn ich muss.
Wenn ich aber auch darf, wenn ich will,
dann mag ich auch, wenn ich soll,
und dann kann ich auch, wenn ich muss.
Denn schließlich: Die können sollen,
müssen auch wollen dürfen.

Diese Worte erinnerten mich an die Situation von Selbsthilfe.
Ich hatte zu Beginn meiner Rede die Befürchtung geäußert, dass Selbsthilfe demnächst am Ende ist. Darauf möchte ich nun zurück kommen und aufzeigen, warum ich diese Gefahr sehe.

Sicher, aus Aidshilfe-Kreisen sind gelegentlich Sätze zu hören wie „Selbsthilfe ist unsere tragende Säule“. Aber wie viel Wunsch-Denken und political correctness sind hier im Spiel? Die gelebte Realität scheint mir anders auszusehen.

Ja, auch heute gibt es funktionierende Selbsthilfe. Aber …

Selbsthilfe regt sich, oftmals fernab von Aidshilfe, zum Beispiel in Internet-Foren, in virtuellen Netzwerken, aber auch in privaten Gruppen. Diese ‚private‘ Selbsthilfe widmet sich meist gegenseitiger Unterstützung. Selten findet sie zur Artikulation eigener Interessen, noch seltener zu politischer Interessen-Vertretung.

Und es gibt überregionale Selbsthilfegruppen, teils sogar institutionell in Strukturen wie Aidshilfe eingebunden. Wie sieht es hier aus?

– Da gibt es Gruppierungen mit hochtrabenden Namen, die kaum ein einziges HIV-positives Mitglied zu haben scheinen – wohl aber Sozialarbeiter und andere nur von, aber nicht mit HIV Lebende.
– Es gibt Gruppen mit bundesweitem Anspruch, die kaum genügend aktive Mitglieder aufweisen, um ihre Treffen zu füllen.
– Oder Gruppen, die nur noch ihrem Namen nach existieren.
– Und es gibt Organisationen, die gute Arbeit leisten – jedoch nur in ihrer Region, zu ihrem Themengebiet, zu Lasten vieler anderer Themen, die liegen bleiben.

Zu sagen, es gebe heute keine funktionierende Selbsthilfe mehr (wie gelegentlich zu hören ist), geht an der Realität vorbei. Es gibt stellenweise eine aktive regionale oder themenspezifische Basis.

Auf überregionaler Ebene jedoch sieht es düsterer aus:

– Wir haben Selbsthilfe-Gruppen, die wir nicht brauchen.
– Wir haben Gruppen, die scheinbar keine Selbsthilfe sind – oder nur noch dem Namen nach.
– Und wir haben Gruppen, die auf ihrem begrenzten Gebiet einen halbwegs guten Job machen.

Aber wir haben nicht, was wir brauchen:
eine engagierte, mutige, bundesweite Positiven-Selbstorganisation und -Interessenvertretung.

An diesem Zustand sind wir Positive selbst mit schuld: wir verschwenden unsere Energien. Wir tun, was wir nicht brauchen – und wir tun nicht, was wir brauchen.

Bemerkenswert ist: trotz dieses beklagenswerten Zustands – das Märchen einer vitalen Positiven-Selbsthilfe wird weiter aufrecht erhalten. Eine Situation, die an die ‚potemkinschen Dörfer‘ erinnert. Die Behauptung, es gäbe vitale Selbsthilfe, steht im Raum – aber real ist da viel heiße Luft, nur vor sich her getragener Anspruch!

Diese Situation ist, wie ich zu Beginn bereits angedeutet habe, meiner Ansicht nach im Verhältnis von Selbsthilfe und Aidshilfe begründet.

Selbsthilfe verleiht Legitimation. Legitimation der ‚Basis‘, der ‚Betroffenen‘. Selbsthilfe hilft, den eigenen Mythos aufrecht zu erhalten. Zum Beispiel den Mythos einer von unten, von den Lebenssituationen und Bedürfnissen der Betroffenen getragenen Organisation.
Das Aufrechterhalten der Illusion einer lebendigen Selbsthilfe dient wohl auch einer Organisation, die selbst einen großen Teil ihrer Legitimation daraus bezieht: der Aidshilfe. Für Aidshilfen ist es attraktiv, das Bild aufrecht zu erhalten, sie seien Organisationen mit umfangreicher Beteiligung HIV-Positiver, mit florierender Selbsthilfe.

Das Problem dabei: dieses ‚potemkinsche Dorf‘ vergeudet Ressourcen, zum Aufrechterhalten überholter Strukturen. Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen, besser eingesetzt werden sollten, um realen Freiraum für Selbst-Interessenvertretung zu ermöglichen.

So dämmert Selbsthilfe vor sich hin, in manchmal liebevoller, manchmal berechnend-kühler Umarmung der Aidshilfen – die so das Siechtum der Selbsthilfe fördern und bestärken.

Hält Aidshilfe den Mythos Selbsthilfe aufrecht – um dessen positiven Effekte für sich zu nutzen?
Wir befinden uns mitten in der Partizipationsfalle!
Genau hier liegt ein Kern des Problems von Selbst-Interessenvertretung!

Dabei zeigt ein kurzer Blick über den deutschen Gartenzaun, dass Selbstorganisation heute attraktiv und wirksam sein kann – und das im Dialog mit Aidshilfe, kritisch und konstruktiv:
– Gruppen wie „The Warning“ in Frankreich vertreten positive Interessen wahrnehmbar, auch in Dissens zu Gruppen wie Aides.
– Die holländische Gruppe „poz & proud“ trägt HIV-positives Selbstbewusstsein nicht nur im Namen, sondern lässt es auch durch Aktionen, Publikationen und Veranstaltungen erlebbar werden.
– Die Schweizer Gruppe „LHIVE“ (deren Präsidentin Michèle Meyer hier letztes Jahr gesprochen hat) ist sehr erfolgreich auch politisch aktiv, war z.B. am Entstehen des EKAF-Statements beteiligt.

Und Deutschland?
Wir verlassen uns darauf, dass Aidshilfe stellvertretend die Interessen von Menschen mit HIV vertritt.

Dabei sollten wir aus eigener Erfahrung wissen, wie riskant dieses Verlassen auf Stellvertreter ist. Es spekuliert auf unveränderte Rahmenbedingungen. Es unterstellt, dass Stellvertreter willens und kompetent sind, unsere Interessen zu vertreten. Es wird spätestens bei konträren Interessenlagen problematisch .
Eine sichere Bank ist dieses Verlassen auf Stellvertreter nicht.

Aidshilfe ist immer maximal der zweitbeste Vertreter der Interessen von HIV-Positiven. Der beste sind – wir selbst!

Wir haben an diesem Punkt zwei Möglichkeiten:

Wir machen weiter wie bisher. Meine Prognose: in zwei bis drei Jahren gibt es dann überregionale Positiven-Interessenvertretung überhaupt nicht mehr, mangels Masse. Positive Interessen werden ausschließlich stellvertretend durch Aidshilfe wahrgenommen. Selbsthilfe ist dann am Ende.

Kann das unser Weg sein? Ich denke nein.
Ein „weiter so“ kann nicht in unserem Interesse sein.

Können wir Positive es uns überhaupt erlauben, weiterhin ohne starke Selbst-Interessenvertretung dazustehen?

Wollen wir, dass Debatten um Normalisierung, Banalisierung und Marginalisierung geführt werden – über uns, vielleicht gegen uns, in jedem Fall aber ohne uns?

Wollen wir uns weiter auf das gemachte Nest aus Schwerbehindertenausweisen, bezahlten Positiventreffen etc. verlassen? Und falls es – ob durch Normalisierung oder Spar-Debatten – in Gefahr gerät, können wir es uns leisten, dann ohne eigene Interessenvertretung dazustehen?

Wollen wir, wir Menschen mit HIV und Aids, uns bei der Formulierung, bei der politischen Vertretung unserer ureigensten Interessen weiterhin stellvertretend auf Aidshilfe verlassen? Reicht das?

Wollen wir weiter Bilder von ‚verantwortungslosen Positiven‘, von ‚Biowaffen‘ und ‚Todesengeln‘ unwidersprochen hinnehmen? Wollen wir die Herstellung der Bilder, die sich die Gesellschaft vom Leben HIV-Positiver, von uns macht, wirklich ausschließlich anderen überlassen – während Positive weiter brav den Mund halten?

Wollen wir anstehende Debatten um Mittelkürzungen, um Medikalisierung der Prävention, Debatten mit einem hohen Potential zusätzlicher Diskriminierung, ausschließlich anderen, Politikern, der Pharmaindustrie überlassen – über unsere Köpfe hinweg, ohne eine eigene starke Stimme?

Können wir das wirklich wollen? In unserem ureigensten persönlichen Interesse?

Ich denke nein.

Die Schlussfolgerung ist für mich klar:

Wir haben heute eine leistungsfähige Aidshilfe – und das ist gut!

Was wir jetzt brauchen, ist eine
organisierte Selbsthilfe und Selbst-Interessenvertretung
neben der Aidshilfe, kritisch und solidarisch –
aber unabhängig.

Ich danke Ihnen.

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Der Text entspricht bis auf geringe Änderungen der Rede, die ich unter dem Titel „Grenzen der Selbsthilfe – Begrenzte Selbsthilfe?“ am 1. Dezember 2010 anlässlich der Welt-Aids-Tags-Veranstaltung 2010 der Frankfurter Aids-Hilfe in der Paulskirche gehalten habe.

Die ‚Paulskirchen-Veranstaltung‘ der Frankfurter Aids-Hilfe ist seit vielen Jahren eine der eher wenigen Gelegenheiten, zu denen Aidshilfe Diskurs (auch kritischen Diskurs) sucht und bietet – danke, wir bräuchten mehr davon!

Ich wünsche mir eine angeregte, gern auch kontroverse Debatte zu dem Thema ‚Zukunft der Selbst-Interessenvertretung von Menschen mit HIV‘. Schließlich, es geht darum, wie wir unsere eigenen Interessen zukünftig vertreten wissen wollen.
Also – ran an die Kommentare 🙂

Für Anregungen und Hinweise danke ich Andreas, Manfred, Matthias Michèle, Stefan, Wolfgang – und besonders Frank für Geduld und Unterstützung !

Der Original-Text der Rede steht auch als pdf im Bereich „Downloads“ zur Verfügung.

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siehe auch:
diego62 02.12.2010: Nachlese zum Welt-Aids-Tag
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Positiv – oder? Gedanken zur neuen Stellungnahme der DAIG zum EKAF-Papier

Die Deutsche Aids-Gesellschaft hat eine neue DAIG-Stellungnahme zum EKAF-Statement vorgelegt. In diesem äußert sie sich ausführlich zum EKAF-Statement (keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs). Was bedeutet diese Stellungnahme im einzelnen? Einige persönliche Gedanken …

Die Frage der Reduzierung der Infektiosität und die Bewertung der Konsequenzen daraus

Die DAIG äußert sich zur Frage der Reduzierung der Infektiosität in Folge wirksamer antiretroviraler Therapie, sie stimme

„Aussagen der UNAIDS zu, dass die HIV-Therapie prinzipiell die HIV-Übertragung reduziert“,

und erläutert

„Verschiedene Studien zeigen, dass der Einsatz der HIV-Therapie mit einer Reduktion der sexuellen HIV-Übertragung assoziiert ist, wahrscheinlich vergleichbar zum Effekt des korrekten Kondomgebrauchs.“

sowie

„Das im EKAF-Statement benannte Risiko von ca. 1:100.000 oder weniger pro Kontakt bei effektiver HIV-Therapie aber ohne Kondom erscheint prinzipiell plausibel.“

Nichts inhaltlich wesentlich anderes sagt die Deutsche Aids-Hilfe in ihrem Positionspapier (HIV-Therapie und Prävention – Positionspapier der Deutschen AIDS-Hilfe), und zieht daraus die Konsequenz

„Das heißt: Das Risiko einer HIV-Übertragung ist unter den oben genannten Bedingungen so gering wie bei Sex unter Verwendung von Kondomen.“

Die DAIG formuliert zurückhaltender und betrachtet auch das verbleibende Einzelfall-Risiko, wenn sie das Fazit zieht, dass

„das Risiko für eine sexuelle HIV-Transmission von Menschen unter effektiver HIV-Therapie in Populationsstudien fester Partnerschaften und nach mathematischen Kalkulationen sehr gering ist, kumulativ und im Einzelfall aber bezifferbar und relevant bleibt.“

Eine Aussage, die nicht in Widerspruch zum Fazit des DAH-Positionspapiers steht, dass das Risiko einer HIV-Übertragung bei Viruslast-Methode so gering ist wie bei Kondom-Benutzung.

Anders ausgedrückt: das Kondom war bisher (und bleibt) der ‚Gold-Standard‘ der HIV-Prävention. Mit der Viruslast-Methode gibt es nun eine zweite Methode, die eine ebensolche Schutzwirkung erreichen kann. Beide Methoden haben ihre Schwächen – und ihre Stärken (siehe DAH-Positionspapier, Punkt 3.5).

Entsprechend kommt auch die DAIG zu der Einschätzung, dass

„in festen diskordanten Partnerschaften nach eingehender Information und Beratung dem HIV-negativen Partner letztlich die Entscheidung obliegt, auf weitere Schutzmaßnahmen zu verzichten, wenn

1. die antiretrovirale Therapie (ART) durch den HIV-infizierten Menschen konsequent eingehalten und durch den behandelnden Arzt regelmäßig kontrolliert wird;
2. die Viruslast (VL) unter ART seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze liegt;
3. keine Infektionen mit anderen sexuell übertragbaren Erregern (STD) bestehen.”

Wobei die DAIG zur Frage des Rest-Risikos darauf hinweist, dass

„das Risiko der Übertragung einer HIV-Infektion auch bei konsequenter und effektiver HIV-Therapie nach unserer Meinung nicht vernachlässigbar ist.“

Ein Rest-Risiko, das auch bei Kondomen besteht – die wir bereits seit über 20 Jahren zum Schutz gegen eine HIV-Infektion verwenden, nur weitgehend ohne uns dieses Rest-Risikos bewusst zu sein oder es zu thematisieren. Ein Rest-Risiko, das genau der Grund ist, warum wir von „safer“ Sex sprechen, und eben nicht von „safe“ Sex.

Die Frage der Verantwortung

Die DAIG betont erfreulicherweise mehrfach die

„gleichberechtigte Verantwortlichkeit bei sexuellen Handlungen“.

In einer sexuellen Begegnung haben beide Partner Verantwortung für die Frage, wie sie mit dem Schutz vor Infektionen umgehen wollen.

‚Gleichberechtigte Verantwortung‘ – eine Formulierung, die so manchem Boulevardblatt leider noch fremd zu sein scheint, wie die Berichterstattung über Nadja Benaissa in den jüngsten Tagen zum wiederholten Male zeigte. Eine klare Formulierung, die umso mehr begrüßenswert ist.

Die Sache mit dem Strafrecht

Die DAIG betont gleich zu Beginn, sie sei

„der festen Überzeugung, dass es keinen Sinn macht, der Herausforderung der HIV-Epidemie mit strafrechtlichen Mitteln zu begegnen“.

Zur Frage, welche Konsequenzen das EKAF-Statement juristisch haben könnte, formuliert die DAIG vorsichtig

„Es ist möglich, dass sich ein potentiell reduziertes Infektionsrisiko durch eine HIV-Therapie in individuellen Fällen auf das Strafmaß auswirkt. Ob es strafabwendend wirkt, muss die Rechtsprechung im Einzelfall entscheiden.“

Resümee

Was bedeuten die einzelnen Punkte der DAIG-Stellungnahme? Letztlich, trotz aller Wenns, aller Abers, aller Beurteilungen als ‚befremdlich‘ oder ’nur schwer nachvollziehbar‘ – in der Substanz ist das neue Statement der DAIG m.E. positiv und begrüßenswert: Es findet sich bei genauerem hinsehen viel Übereinstimmung. In seinem Kern ist das Statement der DAIG in weiten (wenn auch nicht allen) Teilen nicht sehr entfernt vom Inhalt des Positionspapiers der Deutschen Aidshilfe – das wohl (besonders in den Botschaften, die es daraus ableitet) über das Statement der DAIG hinaus geht. Entsprechend begrüßt auch die DAH in ihrer Reaktion die Stellungnahme der DAIG und betont weitreichende Übereinstimmungen.

Die wesentliche Aussage des DAH-Positionspapiers („Das heißt: Das Risiko einer HIV-Übertragung ist unter den oben genannten Bedingungen so gering wie bei Sex unter Verwendung von Kondomen“) findet im DAIG-Statement keinen Widerspruch, die dem zugrunde liegende Risikoeinschätzung wird als „plausibel“ betrachtet. Viruslast-Methode und korrekter Kondom-Gebrauch sind in ihrem Effekt hinsichtlich der Verhinderung der HIV-Übertragung vergleichbar. In den Bedingungen für die Anwendung der Viruslast-Methode stimmen DAH und DAIG überein.

Sehr erfreulich ist darüber hinaus, dass die DAIG klare Worte zur Kriminalisierung der HIV-Infektion findet und klarstellt, dass es „keinen Sinn macht, der Herausforderung der HIV-Epidemie mit strafrechtlichen Mitteln zu begegnen”.

Auch zur Frage der Verantwortung für Schutz findet die DAIG mit der Formulierung „gleichberechtigte Verantwortlichkeit bei sexuellen Handlungen“ begrüßenswert klare Worte – und erteilt einseitigen Zuweisungen (i.d.R. an den / die HIV-Positive/n) implizit eine klare Absage.

Es wäre begrüßenswert, wenn DAIG und DAH – wie die DAH in ihrer Reaktion erneut vorschlägt – nun einen erneuten Anlauf nehmen, ein gemeinsames Positionspapier zu erstellen.

Insgesamt scheint mir so das Positionspapier der DAIG begrüßenswert und ein Fortschritt auf dem Weg des EKAF-Statements in die Praxis. Ein Weg, den wir seit nun beinahe drei Jahren gehen, ein Weg der mühsam und manchmal beschwerlicher als erwartet ist – aber auf dem auch dieses Statement einen Fortschritt darstellt.

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Nebenbei: ich freue mich, dass auch ein ondamaris-Artikel (Freispruch oder Verurteilung – und das Schweigen der Fachgesellschaften) die DAIG zu ihrer Stellungnahme veranlasst hat – und zu einer fünfseitigen (wenn auch stellenweise sehr kritischen) Auseinandersetzung mit dem Artikel. Zu einem  Gedankenaustausch stehe ich auch weiterhin gerne zur Verfügung.

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Freispruch oder Verurteilung – und das Schweigen der Fachgesellschaften (akt.)

Eine erfolgreiche Therapie reduziert die Infektiosität – aber welche Konsequenzen hat das? Insbesondere vor Gericht? Zwei Fachgesellschaften können nicht zu einer gemeinsamen Haltung finden. Die Leidtragenden: die Rechtssicherheit – und Menschen mit HIV, die mit dem Vorwurf der Körperverletzung vor Gericht stehen.

Wenn HIV-Positive vor Gericht stehen, spielt bei der Beurteilung der Frage, wie eine etwaige bzw. mögliche Übertragung von HIV juristisch zu beurteilen ist, neben vielen anderen immer wieder auch die Frage eine Rolle, ob der Positive infektiös war – oder ob aufgrund erfolgreicher Therapie ein reales Infektionsrisiko kaum gegeben war.

Gerichte haben diese Frage in Deutschland in den letzten beiden Jahren immer wieder in unterschiedlichem Umfang berücksichtigt – und sind zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Verkürzt gesagt, von Verurteilung trotz erfolgreicher Therapie bis Freispruch, eben aufgrund erfolgreicher Therapie (und fehlender Infektiosität) – das Spektrum der Urteile ist breit.

Ein Unding, findet der Blogger „diego62“, und wundert sich. Irritiert wendet er sich an die Bundesregierung, bittet um Klarheit. Wie steht es mit der Frage des EKAF-Statements, der Frage der stark reduzierten Infektiosität bei erfolgreicher Therapie, und deren Einbeziehung und Bewertung vor Gericht?
Der Blogger betont in seiner Anfrage an das Bundesministerium für Gesundheit

„Nur in deutschen Gerichten vermisst man diesen Sachverhalt in den Urteilen der letzten Monate. Hier werden, je nach dem der Gutachter den Verhalt auslegt, sehr unterschiedliche Urteile [gefällt; d.Verf.].“
und erläutert seine Anfrage
„Es kann nicht sein, dass hier ein HIV-Positiver unter Nachweisgrenze wegen schwerer (versuchter) Körperverletzung verurteilt wird, weil dem Gutachter/Richter die EKAF-Studie egal oder unbekannt ist und anders wo in einem gleichen Fall ein Freispruch gefällt wird.“

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) betont in seiner Antwort den verfassungsmäßigen Grundsatz der  Gewaltenteilung – ein Ministerium könne keinen „Einfluss auf die rechtsprechende Gewalt nehmen“.
Zugleich betont das BMG die Bedeutung möglicher Stellungnahmen von Fachgesellschaften:

„Bei verallgemeinerungsfähigen Fragestellungen wirken sich allerdings Veröffentlichungen von juristischen Fachkreisen und insbesondere die Rechtsprechung der Obergerichte und des Bundesgerichtshofs vereinheitlichend auf die Rechtsprechung aus.“

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Das Statement der EKAF Eidgenössischen Kommission für AIDS-Fragen (keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs) hat nach seinem Erscheinen im Januar 2008 (!) bei HIV-Positiven, in Aidshilfen sowie in medizinischen Fachkreisen zu teils aufgeregten Diskussionen geführt. Diese Aufregung hat sich inzwischen gelegt, was einst umstritten war, ist längst weitgehend einhellige Meinung. Nationale und Internationale Organisationen wie UNAIDS und UNDP unterstützen EKAF-Statement und Viruslast-Methode (siehe Nachtrag 09.10.2010).

Das Potential, das in der Stellungnahme liegt, ist auf Seiten von Epidemiologen längst erkannt, bis hin zu Diskussionen über neue Strategien wie „test and treat“ (eine Viruslast unter der Nachweisgrenze senkt drastisch die Infektiosität, dadurch sinkt in Folge auch die Zahl der HIV-Neuinfektionen – möglichst viele Positive möglichst früh zu behandeln, könnte also helfen die Zahl der neuen HIV-Infektionen niedriger zu halten).

Die Deutsche Aidshilfe hat nach intensiven Diskussionen inzwischen (seit April 2009 !) längst eine Position zum EKAF-Statement (HIV-Therapie und Prävention – Positionspapier der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. (DAH)). Sie kommt hierin zu der klaren Aussage

„Das heißt: Das Risiko einer HIV-Übertragung ist unter den oben genannten Bedingungen so gering wie bei Sex unter Verwendung von Kondomen.
Unsere bisherigen Safer-Sex-Botschaften werden durch diese Aussage sinnvoll und wirksam ergänzt; in der Prävention eröffnen sich dadurch neue Möglichkeiten.“

Die DAH spricht in Übersetzung des EKAF-Statements in die Praxis der Aids-Arbeit von der

„Präventionsmethode „Senkung der Viruslast unter die Nachweisgrenze““

Nicht einigen hingegen können sich – auch zweieinhalb Jahre nach Vorliegen des EKAF-Statements – anscheinend die beiden in Deutschland zuständigen Fachgesellschaften, die Deutsche Aids-Gesellschaft (DAIG) und die Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte für die Versorgung HIV-Infizierter (DAGNÄ).

Diese Uneinigkeit der betreffenden Fachgesellschaften führt zu eben jener Rechtsunsicherheit, die der Blogger in seiner Anfrage an das BMG moniert hat. Eine Rechtsunsicherheit, die bei ihm den Eindruck erweckt, dass

„eine Verurteilung oder ein Freispruch eher vom Gutdünken oder Informationsstand eines Sachverständigen abhängt, nicht jedoch von einer wirklichen Gefährdung durch den Betroffenen.“

Der Blogger steht mit seiner Wahrnehmung nicht allein. Auch Corinna Gekeler und Karl Lemmen (Deutsche Aids-Hilfe) kommen in ihrem Beitrag „(Versuchte) HIV-Übertragungen vor Gericht: Welche Rolle spielt eine nicht nachweisbare Viruslast?“ zu dem Schluss:

„Man kann sich hier im Moment auf nichts verlassen und ist in jedem Fall der „Willkür“ der jeweils geladenen Gutachter ausgeliefert. Zumindest so lange, wie Fachverbände wie DAIG und DAGNAE hier nicht mit einer Stimme sprechen.“

Eine klare und soweit möglich eindeutige Haltung der beiden zuständigen Fachgesellschaften könnte hier, darauf weist das Bundesministerium für Gesundheit in seiner Antwort nochmals explizit hin, zu deutlich mehr Rechtssicherheit vor deutschen Gerichten führen.

DAGNÄ und DAIG hatten zweieinhalb Jahre Zeit, ihre Position zu finden und aus beiden Haltungen eine gemeinsame Stellungnahme zu entwickeln. Allein, eine klare und gemeinsame Haltung fehlt bisher weiterhin. Im Gegenteil, in Gesprächen könnte manchmal der Eindruck entstehen, beide Gesellschaften verträten beinahe entgegengesetzte Meinungen …

Freispruch oder Verurteilung – die Konsequenzen, die nahezu gleiche Sachverhalte aufgrund des Nicht-Berücksichtigens des EKAF-Statements sowie des Fehlens einer gemeinsamen Stellungnahmen der beteiligten Fachgesellschaften haben, sind gravierend. Zu Lasten der Rechtssicherheit, und zu Lasten derjenigen Menschen mit HIV, die mit dem Vorwurf der Körperverletzung vor Gericht stehen.

Zweieinhalb Jahre sollten genügen, seine Position zu finden und mit dem ‚Kollegen‘ abzustimmen – es wird Zeit, dass sich etwas tut, dass beide Fachgesellschaften endlich zu einer den heutigen Realitäten gerecht werdenden gemeinsamen Stellungnahme kommen.

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Nachtrag 14.8., 23:45:
(1) Man kann das Thema auch anders angehen: Prof. Pietro Vernazza, einer der Väter des EKAF-Statements: „Ein weiteres Ziel des EKAF-Statements war gewesen, die in der Schweiz bis dahin recht häufigen Verurteilungen von HIV-Positiven (wegen Gefährdung Anderer trotz Beachtung der genannten Voraussetzungen) zu reduzieren. Dies ist gelungen.“ (nach einem Bericht „EKAF-Statement: 2 Jahre danach „)
(2) Zwar gab es Anfang 2008 den Versuch einer „Gemeinsame Stellungnahme von DAH, DAIG, DAGNÄ, RKI, BZgA, WZB“. Bekannt wurde aus dem Treffen allerdings nur eine „Gemeinsame Stellungnahme – Die bewährten Präventionsbotschaften zum Schutz vor HIV/AIDS gelten nach wie vor“ vom 27.2.2008, gezeichnet damals von BZgA, RKI und DAH – nicht DAIG und DAGNÄ. Diese Stellungnahme sprach von „Gefährdungslage“ und Kondomen als entscheidendem Schutz. Zum Versuch einer gemeinsamen Stellungnahme vermeldet der HIV-Report nach einem Jahr (Ausgabe vom 25.2.2009) lakonisch „nicht miteinander vereinbare Positionen bei den Akteuren“.
(3) Die DAIG ringt sich in einer Stellungnahme vom 23.4.2009 immerhin zu der Aussage durch „Auch durch die erfolgreiche Unterdrückung der Virusvermehrung mittels wirksamer antiretroviraler Therapie wird die Übertragung von HIV deutlich reduziert“ – schließt allerdings kurz darauf an „Sie [die DAIG, d.Verf.] weist jedoch darauf hin, dass diese Annahme überwiegend auf Modellrechnungen beruht und für den einzelnen Menschen weiterhin ein fassbares Risiko der HIV-Infektion besteht.“ Sie betont „Aus Sicht der DAIG lässt sich das Problem der HIV-Übertragung nicht strafrechtlich lösen.“ Neuere Stellungnahmen der DAIG zum EKAF-Statement und der Frage der Infektiosität bei HAART, auch angesichts neuer wissenschaftlicher Publikationen, sind nicht bekannt.
(4) Von der DAGNÄ sind keine Stellungnahmen zum EKAF-Statement bekannt.

Nachtrag 09.10.2010:
UNAIDS hat sich vor dem Human Rights Council zur Reduktion der HIV-Transmission durch Therapie geäußert und auch auf das EKAF-Statement verwiesen, sich jedoch nicht zur Frage des Kondomgebrauchs geäußert.

 

 

Diego62 19.07.2010: Rechtssicherheit
Diego62 13.08.2010: Antwort vom Bundesministerium für Gesundheit
Deutsche Aids-Gesellschaft (DAIG)
Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte für die Versorgung HIV-Infizierter (DAGNÄ)
„HIV-Transmission und Schutzmöglichkeiten für diskordante Paare – Gemeinsame Stellungnahme von DAH, DAIG, DAGNÄ, RKI, BZgA, WZB“. in: HIV-Report 04/2008 (pdf)
BZgA, RKI, DAH 27.02.2008: Gemeinsame Stellungnahme – Die bewährten Präventionsbotschaften zum Schutz vor HIV/AIDS gelten nach wie vor
„The Year After“. in: HIV Report 01/2009 (pdf)
infekt.ch 01.02.20210: EKAF-Statement: 2 Jahre danach
DAIG / presseportal 23.04.2009: Stellungnahme der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG) zur Frage der Infektiosität von Patienten unter HIV-Therapie
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Viramune, Patentrechte und – etwas Neues?

Ein Pharmakonzern stellt eine neue Formulierung eines Aids-Medikaments vor. Einmal täglich könne man es  in dieser neuen Formulierung nehmen, heißt es. Ein Fortschritt für Patienten? Oder stehen vielleicht andere Beweggründe hinter diesem ‚Fortschritt‘?

XVIII. Welt-Aids-Konferenz in Wien 2010. Der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim stellt neue Daten zu seiner altbekannten Substanz Nevirapin (Handelsname: Viramune®) vor. In einer neuen ‚extended release‘ (XR) – Formulierung sei die einmal tägliche Einnahme vergleichbar mit der bisher nur möglichen zweimal täglichen Einnahme.

Die Meldung lässt aufhorchen. Weniger wegen des etwaigen ‚medizinischen Fortschritts‘, als vielmehr wegen der Frage „warum jetzt“?

Der Zug Richtung „einmal tägliche Therapie“ fährt schon viele Jahre. So dass die Frage nahezu im Raum steht: warum kommt Boehringer jetzt, erst jetzt, gerade jetzt mit seiner einmal täglich einnehmbaren Nevirapin-Formulierung?

Nevirapin ist keine neue Substanz. Es wurde bereits 1996 in den USA und 1997 in Europa zugelassen. Viel Zeit, um an einer verbesserten Formulierung zu arbeiten. Ist Boehringer Ingelheim also einfach ein in Sachen Entwicklung neuer Substanzen äußerst langsames Unternehmen? Wie schon einmal, wir erinnern uns an die unglaublich langsame Entwicklung von Tipranavir?

Oder hat die sehr späte nun scheinbar nahe kommende Marktreife des „extended release Nevirapin“ vielleicht etwas damit zu tun, dass der Patentschutz für Nevirapin in der ‚klassischen‘ Formulierung absehbar ausläuft? Ab 22. Mai 2012, in weniger als zwei Jahren, dürfen in den USA generische Versionen von Nevirapin verkauft werden (andere Quellen benennen sogar schon den 22. November 2011 als Datum des Patent-Ablaufs). Und in Europa läuft das Nevirapin-Patent sogar bereits am 16. November 2010 ab, in weniger als vier Monaten.

Andere Hersteller stehen schon bereit mit generischen Versionen von Nevirapin. Was sicherlich dem Absatz und vor allem (angesichts zunehmenden Preisdrucks) dem Umsatz von Boehringers Viramune nicht zuträglich sein dürfte. Eine neue Formulierung, zu gutem Preis, mit ‚frischem‘ Patentschutz (heißt auch: ohne Konkurrenz) für noch viele Jahre, kommt da sicherlich ganz gelegen …
Denn: eine neue Formulierung wird als neues Produkt zugelassen werden, mit neuem Patentschutz – und Schutz vor Nachahmer-Medikamenten …

Was umgekehrt zudem die Frage aufwirft, hätte Boehringer theoretisch die neue „einmal täglich“ – Formulierung auch früher auf den Markt bringen können? War nur der einzige Vorteil „Nutzen für Patienten“ nicht so bedeutend, wie der nun bevorstehende Nutzen „neuer Patentschutz für ein eigentlich auslaufendes Medikament“? Steht der kommerzielle Nutzen wieder einmal weit vor dem Patienten-Nutzen?

Nebenbei, Boehringer steht hier nur als Metapher, als ein Pharmakonzern, der gerade ein aktuelles Beispiel liefert. Der Mechanismus, den durch Generika gefährdeten Umsatz durch eine (vermeintlich) neue Formulierung und neuen Patentschutz weiter zu sichern, dürfte sich vergleichbar bei vielen Substanzen und Herstellern finden …

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Nachsatz: zur einmal täglichen Anwendung von Nevirapin gibt es bisher widersprüchliche Daten, siehe Links unten. Viramune® ist bisher nur zur zweimal täglichen Anwendung zugelassen.

weitere Informationen:
POZ 22.07.2010: Extended-Release Viramune Has Comparable Safety and Efficacy to Standard Viramune
XVIII. International Aids Conference: Comparison of 48 week efficacy and safety of 400 mg QD nevirapine extended release formulation (Viramune XR) versus 200 mg BID nevirapine immediate release formulation (Viramune IR) in combination with Truvada® in antiretroviral (ARV) naïve HIV-1 infected patients (VERxVE) (abstract)
aidsmap 13.02.2008: Boehringer-Ingelheim begins trial of once-daily extended release nevirapine
Department of Health and Human Services: letter to Huahai US Inc. (betr. Nevirapin Tabletten) 10.07.2007 (pdf)
cptech.org: anti-infective drugs
cptech.org: Background Information on Fourteen FDA Approved HIV/AIDS Drugs
aids.emedtv.com: Generic Viramune
aidsmeds 15.01.2009: Poor Viral Control With Once-Daily Viramune, Viread and Epivir
EMEA: Viramune EPAR summary for the public (pdf)
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Werbung grenzenlos ?

Betreiber kommerzieller Internetseiten wollen Einnahmen erzielen, Gewinne machen. Viele von ihnen schalten dazu Werbung. Auch schwule Internet-Seiten. Aber – gibt es Grenzen?

Auch wenn man als Site-Betreiber Werbung schaltet, kann man sich diese Frage stellen – gibt es Grenzen? Setze ich mir Grenzen? Will ich Inhalte mit Werbung verbinden? Will ich Werbung aus jedem Bereich, zu jedem Thema oder Produkt, und bei jedem meiner Site-Inhalte? Will ich vielleicht mit einigen Themen, einigen Werbe-Kunden, einigen Produkten (bzw. der Werbung für sie) vielleicht besonders sensibel umgehen?

Medikamente sind etwas anderes als Autos, Waschmaschinen oder Reisen. Selbst wenn es sich um so genannte ‚Lifestyle-Medikamente‘ handelt.

Und so überrascht es doch ein wenig, auf einem schwulen kommerziellen ‚News-Portal‘ „Top-Links“ zu finden, die per Klammer-Zusatz als „Werbung“ gekennzeichnet sind – und als obersten „Top-Link“ direkt den Link mit dem eindeutigen Namen „Viagra und Cialis online bestellen“.

Queer.de Werbung (Screenshot 24.07.2010)
Queer.de Werbung (Screenshot 24.07.2010)

Ein Klick auf den Link, und schon befindet sich der User auf den Internetseiten einer Online-Apotheke (nebenbei, einer auf Zypern registrierten, deren Domaininhaber chinesischen Namens noch annähernd 100 weitere Domains hat, darunter zahlreiche Medikamenten-bezogene). Groß und bunt wird dort wie versprochen auf die im Link genannten Potenzpillen hingewiesen.

Werbung – für Potenzpillen? Auf einer sich als seriös gerierenden schwulen Informations-Site?

Werbung – für Medikamente?

Werbung – für Medikamente, die verschreibungspflichtig sind?

Doch – es kommt noch ‚bunter‘. Über den genannten Pillen der belinkten ‚Online-Apotheke‘ befindet sich eine kleine Animation, die in wechselnden Schriftzügen den Kunden aufklären soll. Dort kann er u.a. folgendes lesen:

Pillenpharm Screenshot (Ausschnitt)

„Rezeptfrei bestellen“ ???

Verschreibungspflichtige Medikamente, Potenzpillen, rezeptfrei bestellbar – dafür wird auf einem schwulen Informations-Portal geworben?

Gibt es Grenzen?

Ja, einige Grenzen setzen Gesetze. Andere setzen wir uns selbst, freiwillig. Welche wir uns setzen, sagt auch etwas über uns aus …

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Nachtrag 25.07.2010 11:16 Uhr: seit ca. 11:00 Uhr (25.7.) ist der genannte „Top-Link“ in dieser Werbe-Rubrik auf der Site derzeit nicht mehr aufgeführt.

US-Aids-Strategie: bemerkenswert

Die Nationale Aids-Strategie der USA, die die US-Regierung am 13. Juli 2010 verkündete, ist in Deutschland vergleichsweise wenig wahrgenommen worden. Zu unrecht, denn es gibt einiges Bemerkenswertes an ihr.

Zunächst mag erstaunen, dass erst jetzt, über 25 Jahre nach Beginn der HIV-Epidemie, in den USA erstmals eine nationale Aids-Strategie vorgelegt wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach Jahren großer Ignoranz (für die u.a. der Name Ronald Reagan steht) gegenüber dem Thema Aids schon in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend Bemühungen um nationale Koordination der verschiedenen Aktivitäten einsetzten, bis hin zum heutigen ‚Office of National AIDS Policy‘ im Weißen Haus. Die jetzige nationale Aids-Strategie ist insofern späte wenn auch konsequente Fortsetzung dieser Politik der letzten Jahre.

Bemerkenswert ist an der Aids-Strategie der USA, dass sie nicht nur -wie diverse Aids-Aktionspläne- vergleichsweise globale, damit jedoch auch letztlich unverfängliche Ziele setzt. Die Nationale Aids-Strategie der USA vielmehr setzt auch in Zahlen gefasste Ziele und macht diese operationalisierbar – sie benennt auf Basis einer Ist-Darstellung konkrete Zielwerte und Zeithorizonte, und ergänzt sie um eine Implementierungs-Strategie für Bundes-Agenturen. Sie gibt so der Politik der nächsten Jahre konkrete Vorgaben und Parameter der Erfolgs-Kontrolle.

Besonders bemerkenswert ist aber vor allem das Zustandekommen der US-Aids-Strategie:

Die heutige Nationale Aids-Strategie geht auch auf Forderungen zurück, die Community-Organisationen seit seiner Nominierung als Präsidentschaftsbewerber an den späteren US-Präsident Obama gerichtet hatten. Bereits als Kandidat hatte Obama zugesagt, im Fall seiner Wahl zügig an einer nationalen Aids-Strategie zu arbeiten. Die jetzige Strategie ist damit direktes Ziel von Community-Forderungen.

Und sie ist auch in Zusammenarbeit mit den von HIV betroffenen Communities entstanden. Nicht nur wurden -wie auch hierzulande gelegentlich Usus- die entsprechenden Verbände und Fachgesellschaften in die Entwicklung der Strategie mit einbezogen. Sondern darüber hinaus bestand bei 14 für jedermann/frau offenen Veranstaltungen, so genannten “HIV/Aids community discussions”, die Möglichkeit, Einfluss auf die zukünftige Strategie der US-Aids-Politik zu nehmen. HIV-Positive und Aids.Kranke, Mitarbeiter von Aids-Organisationen wie auch Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen waren aufgerufen, ihre Meinungen, Anregungen, Kritik zu äußern und in den Prozess der Formulierung der Strategie mit einzubringen. Das Dokument “community ideas for improving the response to the domestic HIV epidemic – a report on a national dialogue on HIV/AIDS” [siehe Quellenverweise in ‚USA: erstmals nationale HIV/Aids-Strategie‚] zeigt eindrucksvoll, in welchem Umfang und in welcher thematischen Tiefe diese Einbeziehung von Communities gelang – und die zukünftige Aids-Strategie auf diese Weise auch eine größere ‚Erdung‘ hat als reine Experten- und Verbände-Lösungen.

In dieser starken Integration der von HIV betroffenen Communities liegt einer der wesentlichen Fortschritte bei der Entwicklung der neuen Nationalen Aids-Strategie der USA. Das US-Beispiel zeigt, dass es möglich und machbar ist, auch bei der Entwicklung einer umfassenden, nationalen Strategie die betroffenen gesellschaftlichen Gruppen aktiv in die Entwicklung mit einzubeziehen. Ein Schritt zu mehr Transparenz und vor allem Partizipation, der auch hierzulande wünschenswert wäre …

Selbsthilfe oder Propaganda? Über Schleichwege des Pharma-Marketings

Positive bloggen – immer mehr. Ein erfreulicher Trend, denn auch auf diesem Weg werden immer mehr Stimmen sicht- und lesbar, die aus der Vielfalt des Lebens mit HIV und Aids berichten. Allerdings gibt es Stimmen, die nachdenklich stimmen, bei denen ein Blick lohnt à la „guck mal wer da spricht“. Ein ‚Blog‘, eine Site, bei denen unklar ist, ob ‚HIV-positiv‘ oder nicht vielmehr ‚Pharma‘ drin ist, Marketing eines Pharmakonzerns …

Jo bloggt, Marcel bloggte, Termabox bloggt, Diego neuerdings auch, und Kalle sowieso, Alive n Kickin auch, und Desmond. Desmond? Ja, Desmond.
Desmond wirbt auch für sein Blog, zum Beispiel auf Facebook:

„Hallo Leute,
ich bin Desmond, 30 Jahre alt, komme aus Köln und bin HIV-positiv. In meinem Blog spreche ich über mich, meine Musik, die Mode und das Bloggen. Außerdem schreibe ich über meine Gedanken und was mich in meinem Leben bewegt. Das hilft mir, mit HIV umzugehen und ich hoffe, dass es anderen hilft, denen es genauso geht. Drückt oben auf den Button „Gefällt mir“, um an meinem Leben teilzuhaben.
Ich freue mich über jeden „Zuhörer“… ;-)))))
Desmond“

Das klingt zunächst interessant. Desmond, HIV-positiv, schriebt über sein leben. Etwas jedoch sagt Desmond nicht. Wer auf den Link klickt, der zu Desmonds Blog führt, landet auf einer aufwendig gestalteten Seite. Liest viel über Desmond und sein Leben …
…und erfährt höchstens, wenn er ganz unten an Ende der Seite auf „Impressum“ klickt, wer denn dieses Angebot betreibt:

„Diensteanbieter: Abbott GmbH & Co. KG“
und
„Realisierung: Allround Team GmbH … Redaktion: Christian Lang, Fabienne Nawrat“

Über das „Allround Team“, zuständig für Abbotts „Infotainment-Angebot“ und „Community-Website“ namens ‚Garten der Lüste‘,  ist auf dessen Internetsite zu erfahren

„Allround: Das bedeutet für uns vielseitig begabt, universell tätig und überall einsetzbar zu sein. Spezialisiert sind wir auf Agenturdienstleistungen, Verlagswesen, Sprachdienste und Usability-Studien, stehen Ihnen aber mit unserer langjährigen Erfahrung und unseren frischen Ideen auch in jedem anderen Aufgabenfeld zur Verfügung.“

Technisch wird ‚Desmonds Blog‘ realisiert von ‚Medienhof‘ – einer Agentur, die sich selbst im Untertitel bezeichnet als

„Agentur für Unternehmenskommunikation“.

Desmonds Blog – also nicht ‚irgendein‘ HIV-positives Blog. Ein Blog auf einer Marketing-Plattform, und zwar eines Pharmakonzerns, eines Konzerns der Aids-Medikamente herstellt. Ein kleiner, ein wichtiger Unterschied.

Nun mag ein HIV-Positiver sich vielleicht durchaus entscheiden, sich bei einem Pharmakonzern zu verdingen, dort sein Blog professionell ‚betreuen‘ zu lassen (was auch immer ‚betreuen‘ dann meinen mag).

Allein – die ‚Kommunikation‘ von Pharmakonzernen mit Patienten ist immer einen besonderen Blick wert. Nicht umsonst gilt das Direktwerbeverbot des Heilmittelwerbegesetzes:

„Für verschreibungspflichtige Arzneimittel darf nur bei Ärzten, Zahnärzten, Tierärzten, Apothekern und Personen, die mit diesen Arzneimitteln erlaubterweise Handel treiben, geworben werden.“ (Volltext: Gesetz über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens, dort §10)

Nicht nur, dass die Site ‚Garten der Lüste‘ von Abbott betrieben wird, dort wird auch -ohne Nennung von Produktnamen- über die HIV-Medikamente des Konzerns berichtet, werden Broschüren angeboten, die bestimmte Technologien des Konzerns für HIV-Medikamente lobpreisen, wird auf andere konzerneigene HIV-Sites verlinkt.

Wenn dann auch noch die Verquickung von ‚Stimme aus dem HIV-positiven Leben‘ und Pharma-Marketing nicht (wie z.B. beim Facebook-Auftritt) oder kaum sichtbar (wie auf der Site) erwähnt wird, wirft dies weitere Fragen auf.

Worum geht es?

„Unternehmenskommunikation“ – dieser Begriff (den die realisierende Agentur im Untertitel führt) weist wohl in die Richtung, um die es im ‚Garten der Lüste‘ gehen dürfte. Und vermutlich auch auf ‚Desmonds Blog‘? Die Kommunikation eines Unternehmens, das einer der großen Player auf dem Gebiet der HIV-Medikamente ist. Und einer der sehr umstrittenen Player.

Denn Abbott hat eine bewegte Geschichte auf dem Aids-Markt. Eine Geschichte voll von Problemen und Eigenartigkeiten. Eine kleine Auswahl: Der Konzern plante eigenen Unterlagen zufolge, ein lebenswichtiges Aids-Medikament vom Markt zu nehmen, was die eigene Marktposition im Vergleich zu Wettbewerbern befördert hätte. Um die eigenen Gewinne zu erhöhen, wurde in den USA der Preis dieses Aids-Medikaments verfünffacht. Immer wieder auch gerät Abbott in die Kritik aufgrund seines Umgangs mit Patentrechten. Erst jüngst versuchte ein Abbott-Pharmareferent in Costa Rica Presseberichten zufolge, HIV-Positive davon zu überzeugen sich einer Klage gegen eine generische Version von Lopinavir> anzuschließen. Kritik wird nicht gern gesehen – Abbott klagte gegen ACT UP . In den USA wurde jüngst Abbott abgemahnt – wegen Werbung, die die Wirkung für ein Aids-Medikament übertreibt und Nebenwirkungen verharmlost.

Sieht so die Aids-Politik eines Unternehmens aus, in dessen Gesellschaft man sich befinden möchte als HIV-positiver Blogger? Diese Frage muss jeder Blogger für sich selbst entscheiden. Aber die Verbindungen zum Konzern sollten für jeden und jederzeit offen ersichtlich sein.

So bleibt letztlich die Frage nach dem Zweck des Ganzen. Sind ‚Garten der Lüste‘ und vielleicht auch ‚Desmonds Blog‘ wirklich mehr als nur der immer wieder erneuerte Versuch von Pharmakonzernen, sich über das aus guten Gründen bestehende Direktwerbeverbot hinweg zu setzen?

Wird hier das Image eines ‚Blogs eines HIV-Positiven‘ benutzt, instrumentalisiert, um über immer neue Wege direkten Zugang zu Patienten zu bekommen?

Positive Stimme? Oder schnödes Marketing, im Interesse des Unternehmens?

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Nebenbei, der ‚Garten der Lüste‘ ist eines der bekanntesten Triptychen von Hieronymus Bosch. Der eigentliche ‚Garten der Lüste‘, dargestellt im  Mittelteil dieses Triptychons, wurde lange Zeit als Warnung vor der Todsünde der Wollust gedeutet. Inzwischen wird es auch als Darstellung eines utopischen Liebes-Paradieses gesehen, als ‚Garten der Liebe‘. Abbott wirbt für seine Kampagne mit dem Slogan „Augen auf im Garten der Lüste – Kondome schützen“. Ob Abbott dieses Spannungsfeld der Interpretationen des Bosch-Triptychons  bei der Wahl des Namens ihrer Patienten-Marketing-Kampagne bewusst war?

siehe auch:
stationäre aufnahme 11.07.2010: Abbott schickt bei Facebook HIV-Infizierten vor
Bildblog 12.07.2010
medizynicus 20.07.2010: Kann man Bloggern trauen? Oder: Desmond, die Krankheit und die Pharmaindustrie
Reaktion von Desmond auf die Artikel in Desmonds Blog am 23.07.2010 [Artikel dort nicht einzeln verlinkbar]
medizynicus 23.07.2010: Desmond lebt!

brandeins 07/2010: Mein Patient, mein Partner
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Promis, Staatsanwälte und die Medien – welchen Wert haben Bürgerrechte?

Bemerkenswerte Dinge spielen sich ab derzeit, bemerkenswert in Hinsicht auf die Frage, wie Medien mit Promis, Sex und Verdacht auf strafbare Handlungen umgehen. Sex sells, erst recht Sex und Promis, und wenn dann noch das Strafrecht mit ins Spiel kommt …

April 2009. Eine junge Frau mit Kind, von Beruf Sängerin, Nadja Benaissa wird verhaftet. Sie habe wissentlich riskiert, andere Menschen mit HIV zu infizieren, wird ihr vorgeworfen. Angesichts ihrer Prominenz und der Schwere der Vorwürfe fühlt sich der zuständige Staatsanwalt bemüßigt, mit detaillierten Informationen über den ‚Fall Nadja Benaissa‚ an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Medien stürzen sich auf den Fall, überschlagen sich in sensationsgeiler Berichterstattung, Schlagzeilen, Vorverurteilungen.

März 2010. Jörg Kachelmann, ein lediger Mann mittleren Alters, wird verhaftet. Von Beruf ist er Wetterfrosch und Unternehmer, hat es in seinem Metier zum Medien-Star gebracht. Nun stehe er, sagt die Staatsanwaltschaft, unter dem Verdacht, eine Frau zum sexuellen Verkehr genötigt zu haben, dies womöglich unter Verwendung eines Messers als Druckmittel. Ähnlich wie im Fall der Nadja Benaissa stürzen sich die Medien auf den Fall. Berichten, mit sich täglich überstürzenden Schlagzeilen, Spekulationen, Vorverurteilungen.

Soweit die Parallelen in zwei scheinbar recht ähnlich gelagerten Konstellationen – Promi in Untersuchungshaft, Sex im Spiel.

Doch nur wenige Wochen nach der Verhaftung Kachelmanns zeigen sich Unterschiede, bemerkenswerte Unterschiede:

Kachelmann ist nach Wochen immer noch in Haft, erst am 4. Mai beantragt einer seiner Anwälte einen Haftprüfungstermin, der in der kommenden Woche verhandelt werden soll. Und die „Chose Kachelmann“ findet in den Medien kaum noch statt.

Ganz anders damals, kaum ein Jahr zuvor, bei Nadja Benaissa. Nur wenige Tage war sie in Untersuchungshaft, wurde bald entlassen. Und dennoch, ihr „Fall“ wurde weiterhin intensiv durch Schlagzeilen und Boulevard gezogen, ohne Rücksicht auf ihre Zukunft, und insbesondere auch ohne Rücksicht auf die Situation ihrer Tochter. Der SPD-Politiker Ehrmann bezeichnet HIV-Positive als „Bio-Waffen“. Er hat damit nur sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung genutzt, sagt die Justiz dazu. Kritik am Verhalten der Staatsanwaltschaft wies der hessische Justizminister als unbegründet zurück. War ihr Zwangs-Outing durch die Staatsanwaltschaft unzulässig? Diese Frage wird nicht geklärt. Stattdessen: ein Prozess gegen ein Medienunternehmen wegen dessen Sensations-Berichterstattung platzte – die Anwälte der Sängerin zogen überraschend ihre Anträge zurück.

Schnell und weitgehend leise ist der eine ‚Fall‘ aus den Medien verschwunden – während der andere ‚Fall‘ mit viel Aufmerksamkeit, Sensationsgeilheit immer wieder seinen Weg in’s Boulevard findet.

Warum diese unterschiedliche mediale Behandlung?
Was unterscheidet den „Fall Benaissa“ vom „Fall Kachelmann“?

Eines wird schnell offenkundig: das offensichtlich unterschiedliche Agieren der beteiligten Anwälte.
Frau Benaissas Anwälte scheinen zeitweise noch mit auf den medialen Zug aufzuspringen. Beantragen beispielsweise eine Unterlassungsverfügung gegen einen Verlag, mit dem Einfluss auf die weitere Berichterstattung genommen bzw. eine Verhinderung bestimmter Berichterstattung erreicht werden soll. Und ziehen den Antrag dann zur allgemeinen Überraschung kurz vor dem Verhandlungstermin zurück. In der ganzen Zeit, sowie in der Folgezeit nach ihrer (im Vergleich zu Kachelmann zügigen) Freilassung, wird der “Fall Benaissa“ weiterhin breit in den Boulevard-Medien (sowohl Print als auch TV) behandelt. Bis sich Frau Benaissa selbst den Medien stellt, offen über sich und ihre HIV-Infektion spricht. Erst langsam, nach Wochen greller Schlagzeilen, wird die mediale Sensationsberichterstattung weniger, ruhiger.

Und die Medien im „Fall Kachelmann“? Auch nach nunmehr sieben Wochen ist Herr Kachelmann noch in Untersuchungshaft, und dennoch kaum in den Medien, erst recht kaum mit sensationsgeilen ‚Enthüllungen‘ – welch bemerkenswert unterschiedliche Situation.
Die Anwälte von Herrn Kachelmann reagieren anders, wie zu hören ist. Gegen Medien wird aktiv, mit Unterlassungsverfügungen und anderen Rechtsmitteln vorgegangen. Sensationsgeile Artikel, Spekulationen, Veröffentlichungen von SMS und anderen Details aus dem Privatleben des Herrn Kachelmann werden so weitgehend unterbunden. Das Mäntelchen des medialen Schweigens scheint sich über den Fall gelegt zu haben.

Das Mäntelchen des Schweigens muss kein schlechtes Mäntelchen sein. Das Mäntelchen des Schweigens kann auch Ausdruck des alten Rechtsgrundsatzes der Unschuldsvermutung sein Und es kann im Interesse der Beschuldigten und ihrer Privatsphäre sowie ihrer Angehörigen sein. Gerade bei einer HIV-Infektion kein unbedeutender Schutz.

Ein Mantel des Schweigens, von dem man vermuten kann, dass er auch Frau Benaissa und ihrer jungen Tochter sicher gut getan hätte. Warum es im Fall von Frau Benaissa anders gelaufen ist? Der Gedanke, ihr könne an der Publicity gelegen gewesen sein, nützlich für ihre Karriere und die ihrer Pop-Band, hat angesichts der weitreichenden persönlichen Folgen für sie und ihre Tochter einen faden Beigeschmack. Einen Beigeschmack, der diesen Gedanken nicht nur schal, sondern letztlich unglaubwürdig erscheinen lässt, mit dem Geruch der nachträglichen Legitimation versieht. Die Fragen welche Resultate welche Rechtsvertreter mit welchen Strategien erziel(t)en, könnte in (nicht nur) dieser Hinsicht eine interessante sein.

Der Vorgang zeigt darüber hinaus eines: das Festhalten an der Unschuldsvermutung, das Respektieren der Privatsphäre und die Wahrung der Menschenwürde müssen sichergestellt sein. Und sie dürfen nicht Sache teurer Spezial-Anwälte und Medien-Profis werden. Grundrechte sind zu wertvoll, als dass sie eine Frage der wirtschaftlichen Verhältnisse werden dürfen. Sie stehen jedem zu – auch jeder und jedem HIV-Positiven, ohne Ansehen der Person, und ohne Ansehen des Geldbeutels.

Cori Obst hat recht, wenn sie (in ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes) betont „Bürgerrechte müssen für alle gewahrt sein, jenseits vom Serostatus, Hautfarbe, Geschlecht und Religion„. Bürgerrechte müssen gewahrt werden – auch unabhängig vom Geldbeutel, auch unabhängig von Medien-Anwälten, möchte man angesichts der aktuellen Vorgänge ergänzen.

Bürgerrechte stehen allen Menschen zu – auch allen HIV-Positiven.
Das Verhalten von Staatsanwälten, Medien und Politikern im ‚Fall‘ Nadja Benaissa harrt diesbezüglich weiterhin der Aufklärung und Aufarbeitung.

Das österliche Preis-Wunder – ein Akt „sozialer Verantwortung“?

Ein internationaler Pharmakonzern senkt den Preis für ein Aids-Medikament. Nicht etwa in Afrika, wie es gelegentlich vorkommt, um mehr Menschen den Zugang zu wirksamen Aids-Therapien zu erleichtern. Nein, der Preis für das Medikament (es geht nicht um Hersteller oder Produkt, also nennen wir es hier „Contra-Vira“) wurde in Europa, genauer in Deutschland gesenkt,und um immerhin rund 15 Prozent.

Der Hersteller des Medikaments kommentiert die „freiwillige Preissenkung“ sich selbst lobend in einer Pressemitteilung wie folgt:

„Mit der Preissenkung zeigen wir soziale Verantwortung, denn wir leisten unseren Teil innerhalb des Gesundheitssystems. Wir entlasten die Krankenkassen finanziell und nehmen den Ärzten ein Stück weit die Angst vor Arzneimittelregessen, wenn Sie XXX als Behandlungsoption einsetzen möchten.“

Verwundert reiben wir uns die Augen. Die Pharma-Industrie – doch ein Hort von Altruismus, ein Freund der Krankenversicherung und der armen Aids-Kranken? Hat die vereinte Lobbyismus-Maschinerie der Pharmawirtschaft von Y bis Z doch recht? Die Pharmaindustrie – eine altruistische Veranstaltung voller sozialer Verantwortung, einzig für den Nutzen von uns Patienten (nun gut, und der Krankenkassen, und der Ärzte, und … ach ja, der Aktionäre)?

Die (prinzipiell begrüßenswerte) Preissenkung, dies vorweg, sie war, obwohl verkündet am 30. März, wohl kein vorgezogener April-Scherz. Und trotz nahender Feiertage auch kein Akt österlichen Erbarmens.

Doch was mag einen Pharma-Konzern bewegen, den Preis für ein Medikament freiwillig zu senken? Wo er doch in Deutschland in der komfortablen, ja geradezu luxuriösen Situation ist, den Preis für Medikamente völlig frei, allein nach eigenem Gusto festsetzen zu können?

Schauen wir uns die Situation an.
Zunächst fällt auf: Contra-Vira ist nur eines unter vielen Medikamenten. Und wenn es auch aus einer neuen Klasse von Medikamenten stammt, so sind ihm doch in ihrer Wirksamkeit die besten Medikamenten anderer Klassen durchaus ebenbürtig. Zudem, schon bald könnten weitere Substanzen eben dieser neuen Wirkstoff-Klasse zugelassen werden.

Contra-Vira hat zudem eine Eigenschaft, die zumindest von Marketing-Strategen den Konsumenten, also uns Patienten, als Nachteil verkauft wird: es muss zweimal täglich eingenommen werden. Bei Produkten mancher Wettbewerber hingegen reicht eine einmal tägliche Einnahme.

Contra-Vira war zunächst nur für Patienten zugelassen, die bereits einige „Therapie-Erfahrung“ haben, wie die beschönigende Umschreibung des Medizinbetriebs für die Situation lautet, dass bereits eine oder mehrere Medikamente gegen HIV beim Patienten versagt haben, seine/ihre Ängste angesichts der Frage noch verfügbarer wirksamer Therapien gestiegen sind.

Der lukrative Markt hingegen sind weniger diese „therapieerfahrenen“ HIV-Positiven, sondern die derzeit in Deutschland noch große Zahl der so genannten „therapienaiven“ Patienten (wobei hier nicht diskutiert werden soll, wie viel Naivität tatsächlich darin liege, etwa nicht in jeder Situation sofort mit einer dann lebenslangen Medikamenteneinnahme zu beginnen).

Nun fügt es sich, dass zufällig gerade erst, am Rande einer Konferenz, wenige Wochen vor der bemerkenswerten Preissenkung, die Therapie-Richtlinien für diese „therapienaiven“ Patienten aktualisiert wurden. Und siehe da, da Contra-Vira ein wirksames und meist gut verträgliches Medikament ist, findet es sich nun auch auf der Liste der empfohlenen Medikamente für „therapienaive“ HIV-Positive.

Einzig, die Liste allein macht noch keinen Umsatz. Und es bleibt ja immer noch das Problem mit der zweimal täglichen Einnahme. Zudem, Contra-Vira ist bisher deutlich höher im Preis angesiedelt (die Hausfrau übersetzt: teurer) als Produkte der Wettbewerber. Das mag die Mehrzahl der Patienten in Deutschland wenig interessieren – den Arzt betrifft es schon. Ist er doch zu wirtschaftlicher Therapie angehalten, müsste abweichende Verordnungen begründen. Und wie begründet er es, ein Medikament zu verschreiben, das zwar nicht besser, wohl aber deutlich teurer ist? „Regress“ (sprich: die Kasse lässt sich den vermeintlichen Schaden vom Arzt erstatten), diese Wort mag ihm drohend in den Ohren klingeln – und ihn vom Verordnen von Contra-Vira potentiell abhalten.

Hinzu kommt, der Gesundheitsminister möchte – wie nahezu alle seine Vorgängerinnen und Vorgänger – die Kosten im Gesundheitswesen senken. Und hat als einen der Kostentreiber die Ausgaben für Medikamente identifiziert. Er hat auch ein Werkzeug entdeckt, der steigenden Medikamenten-Kosten Herr zu werden (oder: es zu versuchen): die Möglichkeit der Kosten-Nutzen-Betrachtung. Medikamente, wenn höher im Preis, müssen auch wirksamer sein, so vereinfacht der Grundgedanke dieses Prinzips. Wie mag Contra-Vira sich bei diesen Kosten-Nutzen-Überlegungen positionieren, mit seinem höheren Preis?

Zudem: wer heutzutage als HIV-Positiver zum ersten mal eine Therapie gegen HIV beginnt, der hat die Auswahl unter mehreren Alternativen an Kombinationen von Wirkstoffen. Und unter diesen Alternativen sind attraktive Angebote, zum Beispiel „drei Wirkstoffe in einer Pille, einmal am Tag einzunehmen“ oder „zwei Pillen, einmal am Tag einzunehmen“, oder ganz banal „Pillen, günstiger im Preis als Contra-Vira“. Ein Quattro soll zudem gar vor der Tür stehen, vier auf einen Streich, einmal am Tag.

Selbst wenn die Empfehlungen, welche Kombinationen für die erste Therapie gegen HIV eingesetzt werden sollten, nun so sind, dass auch Contra-Vira zum Zuge kommen könnte (und dem Hersteller entsprechende Umsätze generieren könnte), die Wettbewerbs-Position von Contra-Vira scheint schwierig. Wirkung vergleichbar, dabei aber teuer, und dann zweimal am Tag einzunehmen? Das macht ein Medikament trotz geänderter Empfehlungen nicht eben attraktiv. Sparsame Kassen, ein nachdenklicher Gesundheitsminister? Das klingt nicht nach guten Rahmenbedingungen. „Da müssen wir was tun …“

Und so erklärt sich die wundersame vor-österliche Preissenkung, von der eigenen Öffentlichkeitsarbeit des Pharmakonzerns verbrämt als Ausdruck „sozialer Verantwortung“, als ganz simpler Schritt des Marketings, der Markt-Erschließung, der Stärkung der Wettbewerbs-Position, des Eingehens auf gesundheitspolitische Fragen. Senken wir den Preis auf den des Wettbewerbs, und ein ‚Nachteil‘ und potentielles Risiko von Contra-Vira ist schon mal entschwunden. Zudem ist einem drohenden gesundheitspolitischen Argument, der Kosten-Nutzen-Problematik, halbwegs begegnet.
Oh Patienten, kommet – oh Umsätze, steiget. Nicht mehr. Und nicht weniger. Es geht um Umsatz, und nicht soziale Verantwortung.

Comeback von ACT UP ?

In den USA treten 20 Jahre nach dem Höhepunkt dieser Form des Aids-Aktivismus wieder ACT UP – Gruppen mit Aktionen in Erscheinung. Eine Rückkehr von ACT UP, wie POZ spekuliert?

Vor 20 Jahren war sie auf ihrem Höhepunkt, die ACT UP – Bewegung. „Aids Coalition To Unleash Power“, unter diesem Motto fanden sich von HIV betroffene Menschen zusammen, um sich mit medienwirksamen Aktionen Gehör zu verschaffen. Inzwischen war es ruhig geworden um ACT UP, nur noch sehr wenige Gruppen existieren, die meisten ohne größere Aktionen.

Schweigen = Tod (ACT UP - Motto; Foto: Carpenter Center)
Schweigen = Tod (ACT UP - Motto; Foto: Carpenter Center)

Doch in den letzten Monaten haben mehrere ACT UP – Aktionen in den USA für Aufmerksamkeit gesorgt, allein 2009 wurden vier ACT UP – Gruppen neuu oder wieder gegründet in den USA . So bildete sich in Wisconsin eine ACT UP – Gruppe neu, um die Gründung einer Aids-Organisation anzustoßen. Zuvor hatte diese ACT UP – Gruppe bereits eine existierende lokale Aids-Organisation angegriffen mit dem Vorwurf, sie nütze Positive aus, und ihre schlechte Service-Qualität beklagte.
Eine andere ebenfalls neu (wieder-) gegründete Gruppe in San Diego kämpft gegen massive Kürzungen des Aids-Budgets in der Region. Und Mitglieder der (bereits existierenden) ACT UP Gruppe Philadelphia waren beteiligt bei der Besetzung der Rotunde des Kapitols in Washington im Rahmen einer Aids-Protest-Aktion.

Und am Rand der Ausstellung „ACT UP NEW YORK: ACTIVISM, ART, AND THE AIDS CRISIS, 1987–1993“, die von Oktober bis Dezember 2009 gemeinsam vom Carpenter Center for the Visual Arts und dem Harvard Art Museum gezeigt wurde, kam es zu einem Handgemenge mit Mitgliedern der religiösen Rechten.

Die US-amerikanische Positiven-Zeitschrift POZ fragt sich nun, ob dies erste Anzeichen eines Wandels in der Kultur und in den HIV-Communities seien, erste Zeichen für eine „Rückkehr von ACT UP“.

Erwacht ACT UP in den USA aus einem langen Winterschlaf? Einige US-Aktivisten meinen ja. Die vorhandenen Aids-Organisationen seien viel zu sehr dem Geist der 1980er Jahre verhaftet und darauf fokussiert, einerseits Prävention anzubieten und andererseits „Klienten von der Diagnose bis zum Tod zu begleiten“. ACT UP könne diese Organisationen aus der Vergangenheit reißen, sie zwingen sich den neuen Herausforderungen des Lebens mit HIV zu stellen und veränderte Dienstleistungen anzubieten.

Kritiker beklagen eine seltsame Mischung aus Selbstgefälligkeit und Hilflosigkeit. Einerseits seien viele HIV-Positive gerade in der Situation von Rezsession und Wirtschaftskrise dankbar für jede Art von Angebot, nähmen alles kritiklos hin. Und andererseits gebe es viel Selbstgefälligkeit bei Aids-Organisationen, die der Ansicht seien, sie leisteten bereits alle erforderliche Arbeit.

ACT UP könne diesen Positiven wieder eine Stimme geben – und die Aids-Organisationen zwingen, sich den neuen Realitäten anzupassen. Menschen mit HIV müssten die (auch) für sie gedachten Organisationen wieder mehr in die Pflicht nehmen.

Zudem hoffen einige Aktive, dass die nach der Aufhebung des US- HIV-Einreiseverbots nach Ankündigung der IAS 2012 in Washington stattfindende Welt-Aids-Konferenz neuen Schwung in den Aids-Aktivismus in den USA bringen werde.

Kritiker entgegnen, es gebe immer noch eine große Apathie, gerade auch unter HIV-Positiven. Die Bereitschaft, sich zu engagieren, für die eigenen Interessen und Rechte, und sich zu organisieren sei immer noch sehr gering.

Eine spannende Situation und Debatte, die sich in den USA abzeichnet über eine etwaige Rückkehr von ACT UP.

Und der Eindruck, dass einem vieles bekannt vorkommt. Aids-Organisationen, die selbstgefällig glauben, allein im Besitz der Wahrheit zu sein, soll es auch hier geben. Und Apathie und Desinteresse unter Positiven, sich für ihre eigene Situation einzusetzen soll auch gelegentlich beobachtet worden sein.

Andererseits gibt es immer wieder HIV-Positive, die sich gegen Diskriminierung und Stigmatisierung zur Wehr setzen, wie jüngst bei der angekündigten Behandlungs-Verweigerung in einer Klinik oder bei einem Zahnarzt.

Erste Anzeichen eines neuen Engagements für die eigenen Rechte- auch bei uns?

weitere Informationen:
Newsweek 01.12.2009: The Comeback of AIDS Activism
POZ 03.02.2010: ACT UP’s Latest Act
POZ November 2009: Acting Up
Carpenter Center: ACT UP NEW YORK: ACTIVISM, ART, AND THE AIDS CRISIS, 1987–1993
ACT UP Wisconsin
ACT UP San Diego
ACT UP Philadelphia
rollcall 09.07.2009: AIDS Activists Arrested After Shutting Down Capitol Rotunda
housing works 09.07.2009: 26 AIDS activists shut down U.S. capitol
The Badger Herald 03.02.2010: HIV/AIDS activists clash over unspecified funding, limited services offered (pdf)
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Rücktritt aus Vorbereitungsgruppe der Positiven Begegnungen 2010

Ich habe Anfang Januar 2010  meinen Rücktritt aus der Vorbereitungsgruppe der Positiven Begegnungen 2010 erklärt. Der Vorbereitungsgruppe habe ich meine Beweggründe dafür heute nochmals persönlich erläutert.

Ich wünsche der Vorbereitungsgruppe weiterhin gute inhaltliche Arbeit und für die Zukunft eine erfolgreiche Organisation und Belebung HIV-positiver Selbsthilfe und Interessenvertretung.

Blicke zurück, nach vorn

In der Ruhe der Tage zwischen den Jahren blicke ich gelegentlich zurück, lasse das vergangene Jahr Revue passieren. Was war gut, was weniger gut? Was ist mir gut gelungen, was schief gelaufen? Was tat mir persönlich gut, was nicht? Wo komme ich her, wo möchte ich hin?

Der Blick wendet sich von rückwärts nach vorn. Vom zu Ende gehenden Jahr auf das nun bald beginnende. Einige Dinge werden gleich bleiben, andere möchte ich verändern.

Welche genau gehört nicht in die große Internet-Öffentlichkeit. Nur so viel: für ein, zwei Freunde hatte ich zu wenig Zeit im vergangenen Jahr – das möchte ich ändern, versprochen 🙂
Und: ondamaris wird es auch 2010 geben, vielleicht so wie bisher, vielleicht anders. Wenn du Lust hast mit zu machen, lass es mich wissen.

Die Sehnsucht nach Normalisierung und die untilgbare Schuld

Die HIV-Infektion, einst Anzeichen einer medizinisch hilflosen Situation, eines drohenden körperlichen Desasters, wird zunehmend behandelbar. Die Erfolge der medizinischen Forschung sind unübersehbar. Medikamente gegen das HI-Virus werden zunehmend stärker wirksam, Nebenwirkungen treten in ihrer Bedeutung immer mehr in den Hintergrund. Die Lebenserwartung eines und einer HIV-Infizierten nähert sich immer mehr der einer nicht infizierten Person an, und die Beeinträchtigung der Lebensqualität durch Nebenwirkungen der Therapie werden immer mehr minimiert. HIV wird zu einer chronischen Erkrankung, zu einer ‚manageable disease‘. Mit ein wenig Glück werden zudem wirksame Therapien (vielleicht sogar nicht nur in den Industriestaaten) einst auch zu gesundheitspolitisch beherrschbaren Kosten zur Verfügung stehen. Zeichen einer zunehmenden medizinischen und gesundheitspolitischen ‚Normalität‘.

Die Folge: es ist ein Zukunftsszenario denkbar -und nicht in allzu weiter Ferne-, in der die Frage, ob ich HIV-infiziert bin, aus medizinischer und Public Health – Sicht nicht nur ihre Dramatik verliert, sondern zunehmend weniger relevant wird. Ob ich HIV habe oder nicht – eine Frage des Zugangs zum Medizinsystem, eine Frage guter Ärzte und wirksamer Pillen.

Die Folgen für Aids-Hilfe? Zweierlei Szenario wäre etwas vereinfacht denkbar:
Für diejenigen, die der Ansicht sind, Ziel von Aids-Hilfe sei es, die Zahl der Neuninfektionen zu reduzieren, womöglich gar auf Null zu bringen, wird ein Problem entstehen. Die Grundhypothese ihrer Arbeit wird ihnen auf die Füße fallen: wenn die HIV-Infektion eine ‚manageable disease‘ sein sollte, eine mit wenigen und eher (biomedizinisch, gesundheitsökonomisch) konsequenzenarmen Folgen behandelbare chronische Infektion – dann ist eine höhere Zahl an Neuinfektionen kein Skandal mehr, dann wird das Ziel der drastischen Senkung der Neuinfektionszahlen unbedeutender. Niemand finanziert mit hohen Millionenbeträgen eine Organisation, die sich der Reduzierung der Neuansteckungen mit Husten und Schnupfen widmet.
Für die Vertreter der anderen, Gesundheits-orientierten Haltung wäre die Konsequenz eine andere: Aids-Hilfe wird zu einer Organisation, die sich der Frage widmet, welchen Begriff ich von Gesundheit habe, welche Bedeutung Gesundheit für mein Leben hat, und wie ich ich sie erhalte, fördere oder wieder herstelle.
Aids-Hilfe verliert das Skandalon des „Aids“ in ihrem Namen. Aids-Hilfe wird in dieser Konstellation zu ‚Gesundheits-Hilfe‘ für bestimmte (vielleicht: marginalisierte?) gesellschaftliche Gruppen.

Alles in Butter also, und die Frage lautte angesichts der ‚Normalisierung‘ nur, ob Aids-Hilfe, egal ob als Bundes-Verband oder vor-Ort-.Organisation, untergehen, sprich bedeutungslos werden oder sich selbst auflösen wird, oder ob sie sich an Veränderungen anpassen will?

Nicht ganz.
Ein kleines Problem bleibt.
Einige kleine Fragen.

Wenn HIV eine recht unkompliziert behandelbare und vergleichsweise konsequenzenarme Erkrankung werden sollte (oder, im Empfinden einiger HIV-Infizierter, heute schon ist), warum machen wir uns dann solche einen Kopf darum?
Warum überlegen wir so intensiv, jeder HIV-Positive für sich, wem erzähle ich von meiner Infektion, wem vertraue ich es, mich an – und wem lieber nicht?
Warum wird für uns die Frage immer wieder essentiell, wie offen lebe ich mit HIV?
Warum klagen viele HIV-Positive, seit ihrem positiven HIV-Status, so sie ihn nicht völlig für sich behalten, zunehmend Probleme haben Sex-Partner zu finden, guten, ihren Wünschen und Sehnsüchten entsprechenden Sex zu haben?
Und warum machen sich immer wieder Menschen Gedanken, wie sie mit HIV am Arbeitsplatz umgehen sollen (ersatzweise: bei der Suche nach Arbeit)?
Die Liste der Fragen nach dem ‚warum‘ ließe sich fortsetzen …

Und die Liste der Fragen zeigt: So normal ist es scheinbar doch nicht, mit HIV infiziert zu sein – selbst nicht bei wirksamsten Pillen.
Irgend etwas an HIV ist anders als bei Schnupfen, Mundgeruch und Fußpilz.
Irgend etwas ist an HIV, das nicht nur mit der Medizin zu tun hat.
Irgend etwas, das weitreichende persönliche Konsequenzen hat – und durch Pillen nicht bekämpft wird.
Es ist ein Makel an HIV, genauer daran, HIV-infiziert zu sein.
Die Tatsache, HIV-infiziert zu sein, zeigt etwas an.
Sie zeigt an: Abweichung von der Norm. Männerliebe, Drogengebrauch, Dreck, Blut, Sex, Scheisse, Drogen. Einen Ausstieg aus einem gesellschaftlichen Normsystem. Einen Ausstieg, der längst vor dem Offenbaren des HIV-Status vollzogen wurde. Ich bin HIV-infiziert, weil (in Folge)  ich diesen Normen-Ausstieg längst vollzogen habe, den Ausstieg aus der Norm gesellschaftlichen Zusammenlebens, die sich bewegt irgendwo im Nebel zwischen „du sollst nicht mit Männern ficken“, „du sollst Kinder zeugen und dich fortpflanzen“, „du sollst nicht den Rausch genießen“, „du sollst nicht hemmungslos sein“.
Ein Normenausstieg, nebenbei, der nicht nur von Menschen mit HIV ‚begangen‘ wird, sondern von vielen anderen. Weswegen die Frage nach der Bedeutung dieses Normausstiegs, nach dem Umgehen, nach den Konsequenzen eben auch nicht nur Menschen mit HIV angeht.
Nur ist dieser Normenausstieg zunächst weniger sichtbar. HIV allerdings macht diesen Normenaussteig sichtbar, zeigt an – HIV wird zum Indikator. Zum Stigma [Stigma – Brandzeichen].
Und: dieTatsache dieses Normenausstiegs ist unwiderrufbar, untilgbar – und auch durch wirksamste Medikamente, tollste Therapien und bunteste Pillen nicht behandelbar.

So sehr die HIV-Infektion auch ’normal‘ werden mag im biomedizinischen, im Public Health – Sinn – der Makel der Schuld, der Schuld dieses Norm-Verstoßes, der Status der eigenen HIV-Infektion als Indikator für einen Normenverstoß bleibt untilgbar.

HIV mag unter medizinischen Aspekten ’normal‘ werden können. Diese Sehnsucht nach Normalität mag erfüllbar sein. Allein, der Skandal bleibt, der Skandal des -durch HIV sichtbar gemachten- Normenausstiegs, des Makels, der Schuld.

Einige Gedanken dieses Kommentars sind inspiriert durch den Workshop „Die Schuldfrage knacken“ von Dr. Stefan Nagel und Alexander Pastoors – danke!

cui bono ?

Es wird in Deutschland wie auch auf europäischer Ebene und international viel diskutiert in letzter Zeit, über das weitere Vorgehen in Sachen HIV-Testungen. Opt-in oder opt-out? Und vielleicht gleich test-and-treat?

Viele Beweggründe, über HIV-Tests nachzudenken, sind sicher ehrenwert. Die Zahl der späten Diagnosen zu senken, die Zahl derjenigen Positiven zu mindern, die sehr spät eine Behandlung erhalten.

Dass allerdings per Definition (dessen was ein ‚late presenter‘ ist, siehe „Funken bei Aids-Kongress-Eröffnung„) die Zahl derjenigen Menschen, die in diese Definition fallen, drastisch erhöht wird, erscheint fragwürdig. Noch vor kurzen galten 50 oder 100 CD4 als Grenze, um von „late presenter“ zu sprechen, dann 200 CD4. Den Wert nun per definitionem auf 350 hochzusetzen – erhöht zwangsläufig (und auf fragwürdige Weise) die Zahl der hiervon betroffenen Menschen, und ergibt dann erst das per Zahlenspielen herbei definierte vermeintliche „Versagen des öffentlichen Gesundheitssystems“. Eine klassische Skandalisierungs-Strategie; so schafft man sich die eigene Handlungs-Grundlage nebst Begründung selbst …

Hinzu kommt: nachdenklich stimmt dabei vielleicht, wer so alles diskutiert. Und mit welcher Perspektive.

Da diskutieren unter anderem HIV-Behandler, auf Einladung der Pharma-Industrie, und mit Beteiligung einiger Aids-Organisationen.

HIV-Behandler leben u.a. auch davon, eine möglichst große Anzahl HIV-Patienten zu behandeln. HIV-Medikamenten-Hersteller leben auch davon, eine möglichst große Menge (eh bekanntermaßen nicht gerade preisgünstiger) HIV-Medikamente abzusetzen. Und manche Aids- und Patienten-Organisationen ‚leben‘ auch davon, eine möglichst große Anzahl Klienten zu betreuen oder (vorzugeben) zu ‚vertreten‘.

Ist es bei dieser Interessenlage noch ein Wunder, wenn Ärzte, Pharmaindustrie und so manche Aids-NGO massive HIV-Test-Kampagnen  fordern und fördern? Und im Hintergrund gleich mit an Behandlungs-Strategien à la „test and treat“ feilen? Das ganze auf Symposien und Meetings, großzügig gesponsert von der Pharmaindustrie?

Das lässt Fragen aufkommen …
Wird hier wirklich immer und überwiegend interessen-neutral gehandelt? Oder im Interesse der Menschen, die von der Entscheidung betroffen sind? Oder nicht doch mit mit Blick auf die jeweils ganz eigenen Interessen? Die Frage muss gestellt werden …

Cui bono?
Wem zum Vorteil?