iPrEx: 44% wirksame PrEP – erfreulich, aber viele Fragen sind offen

Die heute vorgestellten Ergebnisse der iPrEx-Studie schlagen international bereits Wellen. In Deutschland ist das Echo bisher niedrig – noch. Die iPrEx-Studie ist die erste kontrollierte Studie, die zeigt, dass das Konzept einer Prä-Expositions-Prophylaxe machbar und wirksam sein kann. Weitere Studien zu PrEP sind derzeit in Planung, mache in Durchführung, besonders in den USA sowie in Afrika und Asien.

Zunächst: wirksame Prä-Expositions-Prophylaxe, das wäre eine sehr gute Nachricht. Das Portfolio der Präventions-Methoden wäre um eine weitere Möglichkeit reicher.

Gut wäre die Nachricht insbesondere, wenn weitere Studien zeigen, dass die Wirksamkeit bei einer höheren Adhärenz (Einhalten der Einnahme-Vorschriften) noch deutlich höher als jetzt erreicht liegen könnte.

Und – dass gerade bei Menschen mit rezeptiven („aufnehmenden“) Sex-Praktiken scheinbar die Wirksamkeit besonders hoch zu sein scheint, könnte sich als besonders gute Nachricht erweisen – haben doch z.B. Schwule mit rezeptivem Analverkehr („sich ficken lassen“) ein  besonders hohes Infektionsrisiko. So könnte PrEP schnell besonders auch zur beliebten Methode der „Dosen- oder Bottom-Prävention“ werden …

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Doch – bei aller Freude über ein sich als möglicherweise machbar erweisendes Konzept, der Jubel sollte begrenzt bleiben. Noch ist PrEP und die vorbeugende Einnahme von Aids-Medikamenten nichts für die Praxis, für das reale Leben. Für einen Jubel über Chancen zur bio-medizinischen Prävention ist es weit zu früh. Zu viele Fragen sind noch offen, so manche noch nicht einmal gestellt.

44 Prozent Wirksamkeit – was gut klingt, heißt anders ausgedrückt: von 100 unter sonst gleichen Umständen erfolgenden HIV-Infektionen könnten durch PrEP 44 verhindert werden – 66 56 jedoch nicht. 56 66 Menschen würden sich dennoch, trotz Einnahme von PrEP-Medikamenten, mit HIV infizieren.

Die Wirksamkeit von 44% wurde zudem unter Studien-Bedingungen erzielt – nicht im realen Leben. Auch wenn die Forscher errechnen (!), eine Wirksamkeit von bis 95% sei möglich – zahlreiche (auch Präventions-) Studien zeigen immer wieder, dass die tatsächliche ‚Therapietreue‘ weit niedriger ist als die an Forscher berichtete. Bei PrEP handelt sich zudem nicht um eine Therapie einer vorhandenen Störung – sondern „nur“ um Vorbeugung. Ob derart hohe Schutz-Raten, wie sie die Forscher kalkulieren -und die lebenslange korrekte Medikamenten-Einnahme bei nicht Infizierten erfordern- im realen Leben tatsächlich machbar sind, sollte zunächst in weiteren Studien gezeigt werden.

Wie werden sich Menschen fühlen, die zwar eine derartige Vorbeugung machen, aber sich dennoch infizieren? Und zwar mit einem Risiko, das zumindest nach bisherigen Studiendaten deutlich über dem von Kondomen oder Viruslast-Methode liegt? Wie werden Menschen umgehen mit solch unterschiedlich wirksamen Schutz-Möglichkeiten?

Bei versagenden Kondomen könnte theoretisch eine Produkthaftung greifen – wie sähe es , ebenfalls theoretisch, mit der Haftung eines Pharmakonzerns für eine versagende oder nur teilweise wirksame PrEP aus?

Viele Fragen auch der Anwendung von Aids-Medikamenten bei nicht erkrankten Personen bleiben bisher noch offen.

Dass sich die Pharma-Industrie über jede medikamentöse Prävention freut, ist zu vermuten. Aber wie sieht es mit Nebenwirkungen der verwendeten Substanzen aus? Die jetzige Studie hatten einen Beobachtungszeitraum von zwei Jahren. Von zahlreichen (nicht nur Aids-) Medikamenten ist bekannt, dass Nebenwirkungen erst nach längerer Zeit auftraten – oder erst sichtbar wurden, als die Zahl der Menschen, die sie einnahmen, beträchtlich höher wurde.

Oder die Frage nach Langzeit-Wirkungen. Ein Mensch von heute 15 Jahren dürfte ein vielleicht bis 65 oder 70 währendes Sexleben haben. Sofern er lebenslang sein HIV-Infektionsrisiko minimieren möchte, würde er nach diesem Konzept 50, 55, vielleicht 60 oder mehr Jahre lang Medikamente zur Vorbeugung einnehmen – welche Wirkungen, Nebenwirkungen und Folgen hat dies? Erst recht über einen dermaßen langen Zeitraum?

Wenn Substanzen, die auch als Medikamente zur Behandlung eingesetzt werden, bei der Prävention in großem Umfang mit schlechterer Adhärenz eingenommen werden – wie sieht es dann mit der Entwicklung von Resistenzen aus? Wird möglicherweise gar durch unbedachte Verwendung von Aids-Medikamenten in der Prävention deren Einsatz zur Therapie gefährdet – eben aufgrund gehäuft auftretender Resistenzen?

Und – wer trägt die Kosten für eine etwaige medikamentöse HIV-Prophylaxe? Die Krankenkassen – die meist erst im Fall einer Erkrankung Kosten übernehmen (auch wenn es mit der ‚Pille‘ Ausnahmen gibt)? Oder wird diese Art der Prophylaxe zu einem weiteren Fall von ‚Lifestyle-Medikament‘, dessen Kosten der Patient bitte selbst zu tragen hat (wie jetzt schon bei Mitteln gegen Erektionsprobleme)?
Und – es geht ja um eine sexuell übertragbare Erkrankung – droht dann eine Reglementierung, wie viel PrEP, und damit auch wie viel Sex „in der Kostenerstattung“ ist?

Folgen aber wird die Studie auch für die Zukunft der Prävention haben. Kurzfristig ist mit PrEP vielleicht irgendwann  „ein neuer Pfeil im Köcher“, steht der HIV-Prävention vielleicht ein weiterer Weg zur Verfügung, um die Rate an HIV-Neuinfektionen zu senken.

Langfristig könnten die Folgen weitreichender sein. So weist Prof. Rolf Rosenbrock (im Interview im DAH-Jahrbuch 2009/2010) bereits heute darauf hin, die weitere Entwicklung der Prävention hänge davon ab, „wie weit Politik und Gesellschaft überhaupt noch nichtmedizinische Primärprävention wollen“. Droht langfristig in Zeiten von PrEP die Gefahr einer rein bio-medizinische HIV-Prävention? Mit einem Rückfall in eine HIV-Bekämpfung nach den Regeln der „old public health“?

Die iPrEx-Studie zeigt erfreuliche Ergebnisse. Von der Anwendung in der Praxis ist die Prä-Expositions-Prophylaxe jedoch noch weit entfernt. Zahlreiche Fragen harren noch der Beantwortung – bei weiten nicht nur medizinische.

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Nachtrag:
23.11., 21:45: Einige Fragen, die die iPrEx-Studie aufwirft, diskutieren die beiden Direktoren der Studie; siehe aidsmap 23.11.2010: PrEP, the big issues: IPrEx study directors discuss unanswered questions.
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Positiv – oder? Gedanken zur neuen Stellungnahme der DAIG zum EKAF-Papier

Die Deutsche Aids-Gesellschaft hat eine neue DAIG-Stellungnahme zum EKAF-Statement vorgelegt. In diesem äußert sie sich ausführlich zum EKAF-Statement (keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs). Was bedeutet diese Stellungnahme im einzelnen? Einige persönliche Gedanken …

Die Frage der Reduzierung der Infektiosität und die Bewertung der Konsequenzen daraus

Die DAIG äußert sich zur Frage der Reduzierung der Infektiosität in Folge wirksamer antiretroviraler Therapie, sie stimme

„Aussagen der UNAIDS zu, dass die HIV-Therapie prinzipiell die HIV-Übertragung reduziert“,

und erläutert

„Verschiedene Studien zeigen, dass der Einsatz der HIV-Therapie mit einer Reduktion der sexuellen HIV-Übertragung assoziiert ist, wahrscheinlich vergleichbar zum Effekt des korrekten Kondomgebrauchs.“

sowie

„Das im EKAF-Statement benannte Risiko von ca. 1:100.000 oder weniger pro Kontakt bei effektiver HIV-Therapie aber ohne Kondom erscheint prinzipiell plausibel.“

Nichts inhaltlich wesentlich anderes sagt die Deutsche Aids-Hilfe in ihrem Positionspapier (HIV-Therapie und Prävention – Positionspapier der Deutschen AIDS-Hilfe), und zieht daraus die Konsequenz

„Das heißt: Das Risiko einer HIV-Übertragung ist unter den oben genannten Bedingungen so gering wie bei Sex unter Verwendung von Kondomen.“

Die DAIG formuliert zurückhaltender und betrachtet auch das verbleibende Einzelfall-Risiko, wenn sie das Fazit zieht, dass

„das Risiko für eine sexuelle HIV-Transmission von Menschen unter effektiver HIV-Therapie in Populationsstudien fester Partnerschaften und nach mathematischen Kalkulationen sehr gering ist, kumulativ und im Einzelfall aber bezifferbar und relevant bleibt.“

Eine Aussage, die nicht in Widerspruch zum Fazit des DAH-Positionspapiers steht, dass das Risiko einer HIV-Übertragung bei Viruslast-Methode so gering ist wie bei Kondom-Benutzung.

Anders ausgedrückt: das Kondom war bisher (und bleibt) der ‚Gold-Standard‘ der HIV-Prävention. Mit der Viruslast-Methode gibt es nun eine zweite Methode, die eine ebensolche Schutzwirkung erreichen kann. Beide Methoden haben ihre Schwächen – und ihre Stärken (siehe DAH-Positionspapier, Punkt 3.5).

Entsprechend kommt auch die DAIG zu der Einschätzung, dass

„in festen diskordanten Partnerschaften nach eingehender Information und Beratung dem HIV-negativen Partner letztlich die Entscheidung obliegt, auf weitere Schutzmaßnahmen zu verzichten, wenn

1. die antiretrovirale Therapie (ART) durch den HIV-infizierten Menschen konsequent eingehalten und durch den behandelnden Arzt regelmäßig kontrolliert wird;
2. die Viruslast (VL) unter ART seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze liegt;
3. keine Infektionen mit anderen sexuell übertragbaren Erregern (STD) bestehen.”

Wobei die DAIG zur Frage des Rest-Risikos darauf hinweist, dass

„das Risiko der Übertragung einer HIV-Infektion auch bei konsequenter und effektiver HIV-Therapie nach unserer Meinung nicht vernachlässigbar ist.“

Ein Rest-Risiko, das auch bei Kondomen besteht – die wir bereits seit über 20 Jahren zum Schutz gegen eine HIV-Infektion verwenden, nur weitgehend ohne uns dieses Rest-Risikos bewusst zu sein oder es zu thematisieren. Ein Rest-Risiko, das genau der Grund ist, warum wir von „safer“ Sex sprechen, und eben nicht von „safe“ Sex.

Die Frage der Verantwortung

Die DAIG betont erfreulicherweise mehrfach die

„gleichberechtigte Verantwortlichkeit bei sexuellen Handlungen“.

In einer sexuellen Begegnung haben beide Partner Verantwortung für die Frage, wie sie mit dem Schutz vor Infektionen umgehen wollen.

‚Gleichberechtigte Verantwortung‘ – eine Formulierung, die so manchem Boulevardblatt leider noch fremd zu sein scheint, wie die Berichterstattung über Nadja Benaissa in den jüngsten Tagen zum wiederholten Male zeigte. Eine klare Formulierung, die umso mehr begrüßenswert ist.

Die Sache mit dem Strafrecht

Die DAIG betont gleich zu Beginn, sie sei

„der festen Überzeugung, dass es keinen Sinn macht, der Herausforderung der HIV-Epidemie mit strafrechtlichen Mitteln zu begegnen“.

Zur Frage, welche Konsequenzen das EKAF-Statement juristisch haben könnte, formuliert die DAIG vorsichtig

„Es ist möglich, dass sich ein potentiell reduziertes Infektionsrisiko durch eine HIV-Therapie in individuellen Fällen auf das Strafmaß auswirkt. Ob es strafabwendend wirkt, muss die Rechtsprechung im Einzelfall entscheiden.“

Resümee

Was bedeuten die einzelnen Punkte der DAIG-Stellungnahme? Letztlich, trotz aller Wenns, aller Abers, aller Beurteilungen als ‚befremdlich‘ oder ’nur schwer nachvollziehbar‘ – in der Substanz ist das neue Statement der DAIG m.E. positiv und begrüßenswert: Es findet sich bei genauerem hinsehen viel Übereinstimmung. In seinem Kern ist das Statement der DAIG in weiten (wenn auch nicht allen) Teilen nicht sehr entfernt vom Inhalt des Positionspapiers der Deutschen Aidshilfe – das wohl (besonders in den Botschaften, die es daraus ableitet) über das Statement der DAIG hinaus geht. Entsprechend begrüßt auch die DAH in ihrer Reaktion die Stellungnahme der DAIG und betont weitreichende Übereinstimmungen.

Die wesentliche Aussage des DAH-Positionspapiers („Das heißt: Das Risiko einer HIV-Übertragung ist unter den oben genannten Bedingungen so gering wie bei Sex unter Verwendung von Kondomen“) findet im DAIG-Statement keinen Widerspruch, die dem zugrunde liegende Risikoeinschätzung wird als „plausibel“ betrachtet. Viruslast-Methode und korrekter Kondom-Gebrauch sind in ihrem Effekt hinsichtlich der Verhinderung der HIV-Übertragung vergleichbar. In den Bedingungen für die Anwendung der Viruslast-Methode stimmen DAH und DAIG überein.

Sehr erfreulich ist darüber hinaus, dass die DAIG klare Worte zur Kriminalisierung der HIV-Infektion findet und klarstellt, dass es „keinen Sinn macht, der Herausforderung der HIV-Epidemie mit strafrechtlichen Mitteln zu begegnen”.

Auch zur Frage der Verantwortung für Schutz findet die DAIG mit der Formulierung „gleichberechtigte Verantwortlichkeit bei sexuellen Handlungen“ begrüßenswert klare Worte – und erteilt einseitigen Zuweisungen (i.d.R. an den / die HIV-Positive/n) implizit eine klare Absage.

Es wäre begrüßenswert, wenn DAIG und DAH – wie die DAH in ihrer Reaktion erneut vorschlägt – nun einen erneuten Anlauf nehmen, ein gemeinsames Positionspapier zu erstellen.

Insgesamt scheint mir so das Positionspapier der DAIG begrüßenswert und ein Fortschritt auf dem Weg des EKAF-Statements in die Praxis. Ein Weg, den wir seit nun beinahe drei Jahren gehen, ein Weg der mühsam und manchmal beschwerlicher als erwartet ist – aber auf dem auch dieses Statement einen Fortschritt darstellt.

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Nebenbei: ich freue mich, dass auch ein ondamaris-Artikel (Freispruch oder Verurteilung – und das Schweigen der Fachgesellschaften) die DAIG zu ihrer Stellungnahme veranlasst hat – und zu einer fünfseitigen (wenn auch stellenweise sehr kritischen) Auseinandersetzung mit dem Artikel. Zu einem  Gedankenaustausch stehe ich auch weiterhin gerne zur Verfügung.

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Guter Posi, böser Posi – Folgen der Biomedikalisierung der Prävention

Guter Posi, böser Posi

Folgen der Biomedikalisierung der Prävention

ein Gast-Kommentar von Phil. C. Langer

Es waren mitunter zwei miteinander zusammenhängende Themen, die vor zwei Jahren auf der Welt-AIDS-Konferenz in Mexiko im Mittelpunkt vielfältiger und kontroverser Diskussionen standen. Während unter dem Schlagwort der „Kombinationsprävention“ eine effektive Zusammenführung von Ansätzen thematisiert wurde, die sowohl auf Veränderungen des Verhaltens und der Verhältnisse als auch auf biomedizinische Interventionsinstrumente zielten, wurden letztere anhand der männlichen Beschneidung als Möglichkeit, die Übertragungswahrscheinlichkeit von HIV beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr signifikant zu vermindern, unter die Lupe genommen. Wer nun eine Fortsetzung dieser Diskussionen auf der diesjährigen Welt-AIDS-Konferenz in Wien erwartet hatte, wurde enttäuscht. Von Beschneidung war nur mehr am Rande die Rede, wenn es darum ging, die damals geäußerten sozial- und kulturwissenschaftlichen Bedenken bezüglich der Akzeptanz und der Folgen als „bewiesenermaßen“ gegenstandslos ad acta zu legen. Und auch die Frage, wie die unterschiedlichen Präventionsansätze synergetisch zusammenwirken können, schien überholt zu sein. So wurde in mehreren Vorträgen die Bedeutung antiretroviraler Medikament als neue „magic bullet“ der Prävention auf eine einfache Formel gebracht: ART ist Prävention – oder vielmehr: Eine erfolgreiche Prävention ist letztlich nur durch die ART möglich.

Die Fokussierung auf die ART als privilegiertes Instrument zur Bekämpfung der globalen Pandemie bezieht sich natürlich auf die Erkenntnis, dass die HIV-Übertragungswahrscheinlichkeit von der Viruslast abhängt, die auch in der bekannten EKAF-Stellungnahme ausgeführt wird. Davon ausgehende mathematische Modelle legen in diesem Sinn eine umfassende Therapisierung aller Infizierten nahe. Am Beispiel von Südafrika etwa kommen Grulich et al. zum Ergebnis, dass eine universelle jährliche HIV-Testung aller Menschen über 15 Jahre in Verbindung mit einem sofortigen Beginn der ART nach der Diagnose zu einem absehbaren Ende der Epidemie führen würde: „Die Übertragung kann auf ein niedriges Niveau reduziert werden und die Epidemie kann über eine stetige Abnahme hin zur vollständigen Elimination eintreten, wenn diejenigen, die eine ART erhalten älter werden und sterben.“ (1) In Wien wurden diese statistischen Berechnungen fortgeführt. Die unbehandelte Positiven tauchen darin indes nur mehr als ein kollektives „Reservoir“ der Viruslast auf, das es auszurotten gilt. In der abstrahierten Kollektivierung schien dabei das konkrete Subjekt, der einzelne mit HIV und Aids lebende Mensch, zu verschwinden. Damit erhält die emanzipatorische Forderung nach universellem Zugang zur Therapie eine bedenkliche Schlagseite, sofern sie sich auch als nach universelle Behandlungsforderung verstehen lässt.

Die angedeutete Entwicklung wird in den Sozialwissenschaften als Biomedikalisierung bezeichnet (2). Der Begriff beschreibt einen Prozess, in dem nichtmedizinische Probleme als medizinische Probleme definiert und behandelt werden. Die damit einhergehende Ausweitung der medizinischen Deutungs- und Handlungsmacht auf psychosoziale und soziokulturelle Phänomene betrifft weite Lebens- und Erfahrungsbereiche auch jenseits von HIV und Aids: Zu den oft angeführten Beispielen gehören die extensive medikamentöse Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS) bei Kindern, die monokausale Erklärung depressiver Störungen durch ein biochemisches Ungleichgewicht im Hirn, wodurch psychotherapeutische Möglichkeiten zu bloßen Begleitverfahren degradiert werden, und die pharmaindustriellen Möglichkeiten zur Behebung erektiler Dysfunktion, für die Viagra® steht, der die aktuell unter dem Schlagwort „Neuroenhancement“ laufende Diskussion um den Einsatz amphetaminhaltiger Medikamente zur Leistungssteigerung ohne medizinische Indikation.

Seit einigen Jahren wird von unterschiedlicher Seite auf eine umfassende Biomedikalisierung von HIV und Aids hingewiesen, die vielfältige Einflüsse der Biomedizin in Bereichen begründet, die außerhalb der rein medizinischen Behandlung der HIV-Infektion und ihrer physischen Folgen liegen – also zum Beispiel in der Psychologie, der Politik, im Recht oder der Prävention. Die aktuelle präventive Bedeutung der ART, auch im Hinblick auf ihre Nutzung als PEP und PrEP, sowie der Beschneidung, des HIV-Tests, aber auch die Neuverhandlung der Rolle von Ärzten, die über die Behandlung hinaus Deutungshoheit auch in der Prävention erlangen, sind Ausdruck dieser Biomedikalisierung. Unabhängig von den unbestrittenen Perspektiven, die sich durch die ART auch für die Prävention, nicht zuletzt als Beitrag zur Destigmatisierung von Positivsein und zur Integration von Positiven in Arbeit ergeben, gibt es doch auch „Nebenwirkungen“ dieser Biomedikalisierung für HIV-Positive, die thematisiert werden sollten.

Denn folgt man der argumentativen Linie, die unter Berufung auf ein festgesetztes, gesamtgesellschaftliches Allgemeingut von den mathematischen Modellen zur antiretroviralen Elimination der identifizierten „Reservoirs“ von Nichtbehandelten führt, so werden moralische Zuschreibungen erkennbar, die zwischen „guten“ und „bösen“ Positiven unterscheiden. So ist letztlich die umfassende Testung aller möglichen oder wahrscheinlichen Infizierten Voraussetzung ihrer umfassenden Behandlung. Wie aber ist dies mit dem Prinzip der Freiwilligkeit der Testentscheidung zu vereinen? Führt dies nicht zur Einführung des in den USA bereits bestehenden Opt-Out-Modells, demzufolge die HIV-Testung im Kontext ärztlicher Routineuntersuchungen mit gemacht wird, sofern kein expliziter Widerspruch erfolgt? Wie erscheint dabei ein Mensch, der sich trotz erkannter Risikokontakte nicht testen lassen will, obwohl es für Viele psychologisch durchaus wichtig sein kann, sich längere Zeit mehr oder weniger bewusst mit der möglichen Infektion auseinanderzusetzen, bevor sie durch die Diagnose „objektiv“ und „manifest“ wird.

Im Sinne der präventiven Durchmedikalisierung des „Reservoirs“ würde sich auch die Frage eines „richtigen“ Therapiebeginns – und damit der eigenen Entscheidung dazu – erübrigen: Die ART wäre sofort und für alle, unabhängig von dem gesundheitlichen Zustand und der Bereitschaft des Einzelnen durchzusetzen. Was aber wäre zu tun, wenn ein Mensch mit bekannter HIV-Infektion die Therapie nicht beginnen möchte? Wie weit geht man, die Freiheit des Einzelnen angesichts des ökonomisch und kollektivhygienisch definierten Allgemeinwohls einzuschränken? In diesem Sinn führen scheinbar wertfrei vorgebrachte Argumente der biomedizinischen Prävention schnell zu einer vermeintlich „objektiven“ Alternativlosigkeit der Implementierung, die dann indes moralische Bewertungen subjektiven Verhaltens mit sich bringt und sich in juristische Fragen übersetzen lässt.

Im Anschluss an den französischen Philosophen Michel Foucault kann man dies als Ausdruck der modernen Bio-Macht eines neoliberalen Staates verstehen, die einst gesellschaftlich definierte Bereiche wie Gesundheit/Krankheit in den Zuständigkeitsbereich des Individuums verlagert und zu einem Problem der individuellen Selbstsorge und Eigenverantwortlichkeit macht: „Das Spezifikum der neoliberalen Rationalität liegt in der anvisierten Kongruenz zwischen einem verantwortlich-moralischen und einem rational-kalkulierenden Subjekt. Sie zielt auf die Konstruktion verantwortlicher Subjekte, deren moralische Qualität sich darüber bestimmt, dass sie die Kosten und Nutzen eines bestimmten Handelns in Abgrenzung zu möglichen Handlungsalternativen rational kalkulieren. Da die Wahl der Handlungsoptionen als Ausdruck eines freien Willens auf der Basis einer selbstbestimmten Entscheidung erscheint, sind die Folgen des Handelns dem Subjekt allein zuzurechnen und von ihm selbst zu verantworten.“ (3)

Paradoxerweise ermöglicht die Zuweisung individueller Handlungsverantwortung es dem Staat aber nicht nur, sich aus seiner Verantwortung zurückzuziehen, sondern eröffnet ihm auch neue strategische Möglichkeiten der Kontrollausübung, was in der Diskussion um die Anwendung des Strafrechts auf mögliche Infektionssituationen erkennbar wird. Der HIV-Positive erscheint als „Risikofaktor“, den es mithilfe juristischer (oder ökonomischer) Instrumente zu sanktionieren gilt; so hat es etwa rechtskräftige Verurteilungen von HIV-Positiven wegen ungeschützten Geschlechtsverkehrs gegeben – selbst wenn dieser einvernehmlich oder ohne signifikantes Übertragungsrisiko vollzogen worden ist –, und es liegen auch Berichte vor, wonach Krankenkassen versucht haben, (vermeintliche) HIV-Überträger in Regress zu nehmen. Hinzu kommt eine der für die strukturelle Prävention fatalen Folgen einer Schwächung des sense of community durch eben jene Differenzierung zwischen „guten“ und „bösen“ HIV-Positiven: zwischen denjenigen also, die sich „richtig“ – also: rational, moralisch, verantwortlich, präventionsgerecht, safe(r) – verhalten, und denjenigen, die sich „falsch“ – also: den Präventionsnormen widersprechend, unverantwortlich, unmoralisch, „gemeinschaftsschädigend“ – verhalten.

Vielleicht sollten wir – statt dieses Spiel moralischer Zuschreibungen mitzumachen – doch noch einmal an die Diskussion in Mexiko anknüpfen und die Frage stellen, welchen spezifischen Ort biomedizinische Ansätze und Instrumente im Kontext einer umfassenderen „Kombinationsprävention“ haben kann und wo ihre Grenzen liegen. In diesem Sinne ginge es dann nicht zuletzt darum, die Herstellung eines politischen und gesellschaftlichen Rahmens sowie individueller psychosozialer und ökonomischer Ressourcen als unverzichtbare Voraussetzung eines eigenverantworteten, gesundheitsbewussten Verhaltens zu verstehen. Und hier ist sicherlich noch genug zu tun.

Referenzen:
(1) Granich et al. (2008). Universal voluntary HIV testing with immediate antiretroviral therapy as a strategy for elimination of HIV transmission: a mathematical model. Lancet Online vom 26. November 2008.
(2) Kippax, S., & Holt, M. (2009). The State of Social and Political Science Research Related to HIV: A Report for the International AIDS Society.
(3) Lemke, T. (2007). Gouvernementalität und Biopolitik. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Dieser Artikel erschien zuerst in ‚Projekt Information Juli / August 2010‘
Vielen Dank an Phil C. Langer und Projekt Information für die Genehmigung der Übernahme!

Nadja Benaissa – Alles wird gut

„Alles wird gut“ – unter diesem Zitat beschreibt eine neue Biographie das bewegte Leben von Nadja Benaissa.

‚HIV-positive Pop-Sängerin vor Gericht‘ – selbst wer sich nicht für Pop-Musik interessiert, kam in den vergangenen Monaten kaum an ihrem Namen, ihrer Geschichte vorbei: Nadja Benaissa, Sängerin der ‚No Angels‘. Nun hat die Journalistin (u.a. ‚Brigitte‘) und freie Autorin Tinka Dippel eine Biographie Benaissas vorgelegt, von ihren Jugendjahren bis zur Urteilsverkündung Ende August 2010.

Dippel berichtet von einem jungen Mädchen, 1982 in Frankfurt geboren, in einer nahe gelegenen Kleinstadt aufgewachsen. Ersten Schritten als Sängerin in einer Schul-Band, dem ersten öffentlichen Auftritt mit 12. Mit 13 die erste Crack-Pfeiffe, jene Droge, die bald „ihr erstes Gefängnis“ wird.

Ein Sommer in Berlin, 1997, ohne Crack, mit neuen Gesangs-Schritten. Zurück in Frankfurt, mit 16, tiefer Absturz, „innerlich abgehakt, den Kampf verloren“, wie Benaissa selbst sagt. Dann die Wendung, sie ist schwanger. „Ich hatte nur diese eine Motivation: Ich muss dieses Kind gesund auf die Welt bringen.“

Während ihrer Schwangerschaft muss ein Abszess entfernt werden. Blutuntersuchungen werden gemacht. Mitten in der Nacht ruft ein offensichtlich erregter Arzt bei Benaissas Mutter an, schreit diese an, warum ihre Tochter „das“ nicht gesagt habe. Jenes „das“ erläutert er auf die irritierte Nachfrage der Mutter hin als „dass Ihre Tochter AIDS hat“. Beim Verbandswechsel am nächsten Tag erfährt auch Nadja Benaissa selbst dann von ihrer Infektion, lapidar, unvorbereitet: „Wir haben ihr Blut untersuchen lassen, sie sind HIV-positiv.“

Nadja Benaissa: Alles wird gut (Edel Verlag)
Nadja Benaissa: Alles wird gut (Edel Verlag)

Ihre HIV-Infektion und der Umgang damit sind – neben dem Karriere-Weg der Sängerin und der Band ‚No Angels‘ – durchgehend immer wieder das Thema der Biographie, schon gleich zu Beginn als Einstieg. Dippel bezeichnet Benaissa als „das bekannteste weibliche Gesicht von HIV/AIDS“, und schon die Pressemitteilung zum Buch betont

„Einfühlsam erzählt und mit vielen O-Tönen von Nadja Benaissa versehen, gibt die Biografie Einblicke in das Leben einer in der Öffentlichkeit stehenden HIV-infizierten, die von sich sagt: „Alles wird gut“.“

Dippel berichtet vom zunächst schwierigen Umgang mit der HIV-Infektion, von Schutzhüllen, Ignorieren und Verdrängen, von guten und weniger guten Erfahrungen mit Männern, Freunden. Spricht von den „inneren Klippen, die mit jedem Stück Verdrängen ein wenig höher gewachsen sind“. „Nadja hat einen Fehler gemacht und sich diesem Fehler lange nicht gestellt“, formuliert Dippel im Kontext der Verhaftung. Und Nadja Benaissa erklärt:

„Ich hatte immer die Befürchtung, dass irgendwann herauskommt, dass ich HIV-positiv bin – und dass herauskommt, dass ich vielleicht jemanden angesteckt habe. Aber dass es so schlimm werden würde, das hätte ich nie gedacht.“

Und Dippel berichtet über das Zwangs-Outing Benaissas durch die Staatsanwaltschaft (sowie die Kritik der DAH an der Verhaftung) und die Folgen des Zwangs-Outings, für Nadja Benaissa wie auch ihre Tochter, die bis zur Verhaftung nichts von der HIV-Infektion ihrer Mutter weiß. Über die Medienwelle, die „Geschichte, an der jeder teilhaben will“. Kommt damit zwangsläufig zu Fragen wie der nach dem Wert der Unschuldsvermutung, und der, „wie viel Öffentlichkeit sich eine Prominente gefallen lassen muss“.

Was das Zwangs-Outing für Benaissa bedeutet?

„“Einfach nur outen“, das habe ich so oft gehört, und die Wörter „einfach“ und „nur“ sind dabei so lächerlich.“

Ob sie eigentlich überhaupt noch zu jemandem Vertrauen fassen könne, fragt Dippel Benaissa gleich zu Beginn. „Ich tue es einfach“, antwortet Benaissa, „wenn ich nicht vertrauen könnte, wäre mein Leben vorbei.“

Tinka Dippel: Nadja Benaissa – Alles wird gut
Edel Verlag
241 Seiten
erschienen 27.09.2010

Video-Spot zur Biographie hier

„Alles wird gut“ ist auf überraschende Weise anders, keine übliche ‚Star-Biographie‘. Auf ungewöhnliche, erschreckende, aber wohl auch kaum vermeidbare Weise steht HIV im Mittelpunkt des Buches.

„Alles wird gut“ ist eine bemerkenswerte Biographie über einen bewegenden Lebensweg. Und ganz nebenbei (oder auch: ganz bewußt?) ist das Buch auch die Beschreibung des Lebenswegs einer HIV-positiven Frau, ihres Umgangs mit ihrer HIV-Infektion und dessen erzwungener und geplanter Veränderungen und Entwicklungen.

Dies macht die Biographie Benaissas besonders auch für HIV-Positive interessant und lesenswert – und es lässt die Frage in den Hintergrund rücken, ob die Biographie ein weiterer Baustein der Medienarbeit einer Popsängerin, Schritt einer Ikonisierung ist – oder weitgehend offener, aufrichtiger Lebensbericht.

Eine Randnotiz: wünschenswert wäre eine winzige Klarstellung gewesen. Beim Besuch eines weiteren Anwalts bei Benaissa im Untersuchungsgefängnis dürfte es sich bei der begleitenden Dame (S. 27/30) vermutlich nicht um eine „Frau von der Deutschen AIDS-Hilfe in Frankfurt“ gehandelt haben, sondern eine Dame eines anderen Vereins …
Plaudereien einer ‚Aids-Betreuerin“ sind vermutlich eher nicht Sache der Deutschen Aidshilfe, die für ihre Beratungsarbeit hohe Qualitätsstäbe hat.

siehe auch: DAH 01.10.2010: „„Alles wird gut“ – Nadja Benaissa stellt ihre Autobiografie vor“

Nachdenken über Nadja B.

Die Verurteilung von Nadja Benaissa könnte negative Auswirkungen auf die Aids-Prävention haben

Von Barbara Höll

Das Urteil stimmt nachdenklich und die Folgen sind noch nicht absehbar. Auch wenn es der bisherigen Rechtsprechung entspricht, so stellen sich Fragen, die die gesamte HIV-Prävention in Deutschland betreffen. Müssen HIV-Positive Menschen immer auf ein Kondom bestehen? Sind sie allein verantwortlich für die Übertragung und Verbreitung des Virus?

Seit Ende der Neunzigerjahre hat sich das Gesicht von HIV/Aids deutlich gewandelt. HIV ist zu einer nicht heilbaren, aber behandelbaren Infektion geworden, mit einer hohen Lebenserwartung. Die HIV-Medikamente halten den Virus in Schach und senken die Viruslast schon nach kurzer Zeit bis unter die Nachweisgrenze. Nach neueren Erkenntnissen übertragen die so behandelten Patienten den Virus nicht mehr. Nahezu alle HIV-Positive unterziehen sich der Therapie, Frau B. hatte sich damals jedoch noch nicht behandeln lassen.

Das Virus wird heute im Wesentlichen durch Menschen übertragen, die von ihrer HIV-Infektion noch nichts wissen, die also eine sehr hohe Viruslast haben und andere Menschen sehr leicht infizieren können. Deshalb macht es unseres Erachtens schon allein medizinisch keinen Sinn, die Verantwortung allein den HIV-Positiven zuzuschreiben.

HIV-Test ist sinnvoll

Allerdings ist es sinnvoll, dass sich Menschen, insbesondere aus sogenannten Risikogruppen, häufig einen HIV-Test unterziehen. Denn nur so haben sie bei einem positiven Testergebnis die Gelegenheit, möglichst früh die HIV-Präparate einzunehmen und damit Aussicht auf eine lange Lebenserwartung. Zudem gibt ein positives Ergebnis auch die Möglichkeit, verantwortlich mit sich und anderen umzugehen.

Das Urteil könnte kontraproduktiv wirken, denn wer ab und an gerne einmal ohne Kondom Sex haben und nicht mit einem Bein im Gefängnis stehen möchte, unterlässt den HIV-Test – mit verheerenden Folgen für den Krankheitsverlauf, die Viruslast und die potentielle Ansteckungsgefahr anderer. Trotz gegenteiliger Aussagen des zuständigen Richters ist dieses Urteil für HIV-Positive stigmatisierend. Ein Blick in die Leserkommentare der Onlinemedien genügt, um zu erfahren, dass die Forderung nach „lebenslang“ noch milde ist.

Über 25 Jahre nach der Entdeckung des HI-Virus sollte HIV/Aids allen Menschen bekannt sein, wer sich schützen möchte, nehme ein Kondom. HIV-Positive müssen ihre Verantwortung wahrnehmen, aber nicht sie allein. Die Verantwortung für ein Kind trägt schließlich nicht allein die Frau, die nicht die Pille nimmt. Das Strafrecht ist in jedem Fall ein ungeeignetes Mittel in der HIV-Prävention.

Barbara Höll ist lesben- und schwulenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Den Kommentar hat sie gemeinsam mit Bodo Niendel, dem Referenten für Queerpolitik in der Fraktion, verfasst.

Medienberichterstattung verstärkt Stigmatisierung HIV-Positiver und schadet der Prävention

Zum Prozess gegen Nadja Benaissa ein Gast-Kommentar von Jörg Litwinschuh, Deutsche Aids-Hilfe:

„Ich habe Fehler beim Umgang mit meiner HIV-Infektion gemacht“, gestand Nadja Benaissa zum Prozessauftakt am vergangenen Montag vor Gericht. Vor allem die Boulevardmedien und einige große Tageszeitungen greifen das Schuldeingeständnis sehr einseitig in großen Lettern auf.

Vertane Chance!

Differenzierte Betrachtungen findet man allenfalls im „Kleingedruckten“. Damit haben viele Medien eine große Chance vertan: Sie nutzen den Prozess nicht, um endlich differenzierter über das Leben mit HIV in Deutschland im Jahr 2010 zu berichten. Und sie kommen bis heute ihrem Auftrag nicht nach, Wirklichkeit abzubilden und zu hinterfragen.

Sie fragen beispielsweise nicht: Wie geht es HIV-Positiven in Deutschland heute? Wie leben sie? Wie schützen sie sich und andere? Was bewirken die Medikamente? Was bedeutet es, eine Viruslast unter der Nachweisgrenze zu haben? Wie gehen HIV-Positive mit dem Stigma und der Diskriminierung durch Medien und Gesellschaft um?

HIV-Positive kamen nicht zu Wort

Nicht ein HIV-positiver Mensch kam in den vergangenen Tagen in den meinungsführenden Medien zu Wort. Es wird also wieder einmal über Menschen mit HIV gesprochen und nicht mit ihnen. Das ist ein Skandal. So werden weiterhin sehr einseitige Bilder und Themen transportiert, die auch Verfahrensbeteiligte – Richter, Staatsanwaltschaft, Gutachter – beeinflussen können. Denn Urteile sind immer auch ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse.

Damit ist bis heute die mitunter vorverurteilende Berichterstattung der Medien über Frau Benaissa – und über HIV-Positive allgemein – nicht korrigiert worden. Im Gegenteil: Einige Medien scheinen sich in ihrer bisherigen Darstellung bestätigt zu sehen.

Der Prävention einen Bärendienst erwiesen

Diese Entwicklung ist fatal. Sie setzt das falsche Signal: Hier der allein verantwortliche HIV-positive „Täter“, dort das HIV-negative, unschuldige Opfer, das vermeintlich keine Verantwortung für die Verhütung hat. Eine solche vereinfachende Botschaft schadet der Prävention und ignoriert die Ziele jahrzehntelanger Aufklärungsarbeit.

So wird eine Lebenswirklichkeit konstruiert, die gerade für die Entwicklung der Eigenverantwortlichkeit junger Menschen kontraproduktiv ist. Am konkreten Fall Benaissa könnte der Eindruck entstehen, Frauen und Mädchen würde Verantwortung einseitig aufgebürdet. Der Schutz vor HIV obliegt aber immer beiden Partnern.

In der aktuellen Berichterstattung zum Fall Nadja Benaissa wird die Stigmatisierung von HIV-Positiven fortgeschrieben. Dies trägt mit dazu bei, dass Menschen nicht über ihre Infektion reden (können), kein ausreichendes Selbstbewusstsein entwickeln und ihre Sexualität nicht selbstbestimmt und eigenverantwortlich leben können. Eine unsachliche und inhaltlich falsche Berichterstattung erweist der Prävention damit einen Bärendienst.

Danke an Jörg!

Freispruch oder Verurteilung – und das Schweigen der Fachgesellschaften (akt.)

Eine erfolgreiche Therapie reduziert die Infektiosität – aber welche Konsequenzen hat das? Insbesondere vor Gericht? Zwei Fachgesellschaften können nicht zu einer gemeinsamen Haltung finden. Die Leidtragenden: die Rechtssicherheit – und Menschen mit HIV, die mit dem Vorwurf der Körperverletzung vor Gericht stehen.

Wenn HIV-Positive vor Gericht stehen, spielt bei der Beurteilung der Frage, wie eine etwaige bzw. mögliche Übertragung von HIV juristisch zu beurteilen ist, neben vielen anderen immer wieder auch die Frage eine Rolle, ob der Positive infektiös war – oder ob aufgrund erfolgreicher Therapie ein reales Infektionsrisiko kaum gegeben war.

Gerichte haben diese Frage in Deutschland in den letzten beiden Jahren immer wieder in unterschiedlichem Umfang berücksichtigt – und sind zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Verkürzt gesagt, von Verurteilung trotz erfolgreicher Therapie bis Freispruch, eben aufgrund erfolgreicher Therapie (und fehlender Infektiosität) – das Spektrum der Urteile ist breit.

Ein Unding, findet der Blogger „diego62“, und wundert sich. Irritiert wendet er sich an die Bundesregierung, bittet um Klarheit. Wie steht es mit der Frage des EKAF-Statements, der Frage der stark reduzierten Infektiosität bei erfolgreicher Therapie, und deren Einbeziehung und Bewertung vor Gericht?
Der Blogger betont in seiner Anfrage an das Bundesministerium für Gesundheit

„Nur in deutschen Gerichten vermisst man diesen Sachverhalt in den Urteilen der letzten Monate. Hier werden, je nach dem der Gutachter den Verhalt auslegt, sehr unterschiedliche Urteile [gefällt; d.Verf.].“
und erläutert seine Anfrage
„Es kann nicht sein, dass hier ein HIV-Positiver unter Nachweisgrenze wegen schwerer (versuchter) Körperverletzung verurteilt wird, weil dem Gutachter/Richter die EKAF-Studie egal oder unbekannt ist und anders wo in einem gleichen Fall ein Freispruch gefällt wird.“

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) betont in seiner Antwort den verfassungsmäßigen Grundsatz der  Gewaltenteilung – ein Ministerium könne keinen „Einfluss auf die rechtsprechende Gewalt nehmen“.
Zugleich betont das BMG die Bedeutung möglicher Stellungnahmen von Fachgesellschaften:

„Bei verallgemeinerungsfähigen Fragestellungen wirken sich allerdings Veröffentlichungen von juristischen Fachkreisen und insbesondere die Rechtsprechung der Obergerichte und des Bundesgerichtshofs vereinheitlichend auf die Rechtsprechung aus.“

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Das Statement der EKAF Eidgenössischen Kommission für AIDS-Fragen (keine Infektiosität bei erfolgreicher HIV-Therapie ohne andere STDs) hat nach seinem Erscheinen im Januar 2008 (!) bei HIV-Positiven, in Aidshilfen sowie in medizinischen Fachkreisen zu teils aufgeregten Diskussionen geführt. Diese Aufregung hat sich inzwischen gelegt, was einst umstritten war, ist längst weitgehend einhellige Meinung. Nationale und Internationale Organisationen wie UNAIDS und UNDP unterstützen EKAF-Statement und Viruslast-Methode (siehe Nachtrag 09.10.2010).

Das Potential, das in der Stellungnahme liegt, ist auf Seiten von Epidemiologen längst erkannt, bis hin zu Diskussionen über neue Strategien wie „test and treat“ (eine Viruslast unter der Nachweisgrenze senkt drastisch die Infektiosität, dadurch sinkt in Folge auch die Zahl der HIV-Neuinfektionen – möglichst viele Positive möglichst früh zu behandeln, könnte also helfen die Zahl der neuen HIV-Infektionen niedriger zu halten).

Die Deutsche Aidshilfe hat nach intensiven Diskussionen inzwischen (seit April 2009 !) längst eine Position zum EKAF-Statement (HIV-Therapie und Prävention – Positionspapier der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. (DAH)). Sie kommt hierin zu der klaren Aussage

„Das heißt: Das Risiko einer HIV-Übertragung ist unter den oben genannten Bedingungen so gering wie bei Sex unter Verwendung von Kondomen.
Unsere bisherigen Safer-Sex-Botschaften werden durch diese Aussage sinnvoll und wirksam ergänzt; in der Prävention eröffnen sich dadurch neue Möglichkeiten.“

Die DAH spricht in Übersetzung des EKAF-Statements in die Praxis der Aids-Arbeit von der

„Präventionsmethode „Senkung der Viruslast unter die Nachweisgrenze““

Nicht einigen hingegen können sich – auch zweieinhalb Jahre nach Vorliegen des EKAF-Statements – anscheinend die beiden in Deutschland zuständigen Fachgesellschaften, die Deutsche Aids-Gesellschaft (DAIG) und die Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte für die Versorgung HIV-Infizierter (DAGNÄ).

Diese Uneinigkeit der betreffenden Fachgesellschaften führt zu eben jener Rechtsunsicherheit, die der Blogger in seiner Anfrage an das BMG moniert hat. Eine Rechtsunsicherheit, die bei ihm den Eindruck erweckt, dass

„eine Verurteilung oder ein Freispruch eher vom Gutdünken oder Informationsstand eines Sachverständigen abhängt, nicht jedoch von einer wirklichen Gefährdung durch den Betroffenen.“

Der Blogger steht mit seiner Wahrnehmung nicht allein. Auch Corinna Gekeler und Karl Lemmen (Deutsche Aids-Hilfe) kommen in ihrem Beitrag „(Versuchte) HIV-Übertragungen vor Gericht: Welche Rolle spielt eine nicht nachweisbare Viruslast?“ zu dem Schluss:

„Man kann sich hier im Moment auf nichts verlassen und ist in jedem Fall der „Willkür“ der jeweils geladenen Gutachter ausgeliefert. Zumindest so lange, wie Fachverbände wie DAIG und DAGNAE hier nicht mit einer Stimme sprechen.“

Eine klare und soweit möglich eindeutige Haltung der beiden zuständigen Fachgesellschaften könnte hier, darauf weist das Bundesministerium für Gesundheit in seiner Antwort nochmals explizit hin, zu deutlich mehr Rechtssicherheit vor deutschen Gerichten führen.

DAGNÄ und DAIG hatten zweieinhalb Jahre Zeit, ihre Position zu finden und aus beiden Haltungen eine gemeinsame Stellungnahme zu entwickeln. Allein, eine klare und gemeinsame Haltung fehlt bisher weiterhin. Im Gegenteil, in Gesprächen könnte manchmal der Eindruck entstehen, beide Gesellschaften verträten beinahe entgegengesetzte Meinungen …

Freispruch oder Verurteilung – die Konsequenzen, die nahezu gleiche Sachverhalte aufgrund des Nicht-Berücksichtigens des EKAF-Statements sowie des Fehlens einer gemeinsamen Stellungnahmen der beteiligten Fachgesellschaften haben, sind gravierend. Zu Lasten der Rechtssicherheit, und zu Lasten derjenigen Menschen mit HIV, die mit dem Vorwurf der Körperverletzung vor Gericht stehen.

Zweieinhalb Jahre sollten genügen, seine Position zu finden und mit dem ‚Kollegen‘ abzustimmen – es wird Zeit, dass sich etwas tut, dass beide Fachgesellschaften endlich zu einer den heutigen Realitäten gerecht werdenden gemeinsamen Stellungnahme kommen.

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Nachtrag 14.8., 23:45:
(1) Man kann das Thema auch anders angehen: Prof. Pietro Vernazza, einer der Väter des EKAF-Statements: „Ein weiteres Ziel des EKAF-Statements war gewesen, die in der Schweiz bis dahin recht häufigen Verurteilungen von HIV-Positiven (wegen Gefährdung Anderer trotz Beachtung der genannten Voraussetzungen) zu reduzieren. Dies ist gelungen.“ (nach einem Bericht „EKAF-Statement: 2 Jahre danach „)
(2) Zwar gab es Anfang 2008 den Versuch einer „Gemeinsame Stellungnahme von DAH, DAIG, DAGNÄ, RKI, BZgA, WZB“. Bekannt wurde aus dem Treffen allerdings nur eine „Gemeinsame Stellungnahme – Die bewährten Präventionsbotschaften zum Schutz vor HIV/AIDS gelten nach wie vor“ vom 27.2.2008, gezeichnet damals von BZgA, RKI und DAH – nicht DAIG und DAGNÄ. Diese Stellungnahme sprach von „Gefährdungslage“ und Kondomen als entscheidendem Schutz. Zum Versuch einer gemeinsamen Stellungnahme vermeldet der HIV-Report nach einem Jahr (Ausgabe vom 25.2.2009) lakonisch „nicht miteinander vereinbare Positionen bei den Akteuren“.
(3) Die DAIG ringt sich in einer Stellungnahme vom 23.4.2009 immerhin zu der Aussage durch „Auch durch die erfolgreiche Unterdrückung der Virusvermehrung mittels wirksamer antiretroviraler Therapie wird die Übertragung von HIV deutlich reduziert“ – schließt allerdings kurz darauf an „Sie [die DAIG, d.Verf.] weist jedoch darauf hin, dass diese Annahme überwiegend auf Modellrechnungen beruht und für den einzelnen Menschen weiterhin ein fassbares Risiko der HIV-Infektion besteht.“ Sie betont „Aus Sicht der DAIG lässt sich das Problem der HIV-Übertragung nicht strafrechtlich lösen.“ Neuere Stellungnahmen der DAIG zum EKAF-Statement und der Frage der Infektiosität bei HAART, auch angesichts neuer wissenschaftlicher Publikationen, sind nicht bekannt.
(4) Von der DAGNÄ sind keine Stellungnahmen zum EKAF-Statement bekannt.

Nachtrag 09.10.2010:
UNAIDS hat sich vor dem Human Rights Council zur Reduktion der HIV-Transmission durch Therapie geäußert und auch auf das EKAF-Statement verwiesen, sich jedoch nicht zur Frage des Kondomgebrauchs geäußert.

 

 

Diego62 19.07.2010: Rechtssicherheit
Diego62 13.08.2010: Antwort vom Bundesministerium für Gesundheit
Deutsche Aids-Gesellschaft (DAIG)
Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte für die Versorgung HIV-Infizierter (DAGNÄ)
„HIV-Transmission und Schutzmöglichkeiten für diskordante Paare – Gemeinsame Stellungnahme von DAH, DAIG, DAGNÄ, RKI, BZgA, WZB“. in: HIV-Report 04/2008 (pdf)
BZgA, RKI, DAH 27.02.2008: Gemeinsame Stellungnahme – Die bewährten Präventionsbotschaften zum Schutz vor HIV/AIDS gelten nach wie vor
„The Year After“. in: HIV Report 01/2009 (pdf)
infekt.ch 01.02.20210: EKAF-Statement: 2 Jahre danach
DAIG / presseportal 23.04.2009: Stellungnahme der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG) zur Frage der Infektiosität von Patienten unter HIV-Therapie
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Viramune, Patentrechte und – etwas Neues?

Ein Pharmakonzern stellt eine neue Formulierung eines Aids-Medikaments vor. Einmal täglich könne man es  in dieser neuen Formulierung nehmen, heißt es. Ein Fortschritt für Patienten? Oder stehen vielleicht andere Beweggründe hinter diesem ‚Fortschritt‘?

XVIII. Welt-Aids-Konferenz in Wien 2010. Der Pharmakonzern Boehringer Ingelheim stellt neue Daten zu seiner altbekannten Substanz Nevirapin (Handelsname: Viramune®) vor. In einer neuen ‚extended release‘ (XR) – Formulierung sei die einmal tägliche Einnahme vergleichbar mit der bisher nur möglichen zweimal täglichen Einnahme.

Die Meldung lässt aufhorchen. Weniger wegen des etwaigen ‚medizinischen Fortschritts‘, als vielmehr wegen der Frage „warum jetzt“?

Der Zug Richtung „einmal tägliche Therapie“ fährt schon viele Jahre. So dass die Frage nahezu im Raum steht: warum kommt Boehringer jetzt, erst jetzt, gerade jetzt mit seiner einmal täglich einnehmbaren Nevirapin-Formulierung?

Nevirapin ist keine neue Substanz. Es wurde bereits 1996 in den USA und 1997 in Europa zugelassen. Viel Zeit, um an einer verbesserten Formulierung zu arbeiten. Ist Boehringer Ingelheim also einfach ein in Sachen Entwicklung neuer Substanzen äußerst langsames Unternehmen? Wie schon einmal, wir erinnern uns an die unglaublich langsame Entwicklung von Tipranavir?

Oder hat die sehr späte nun scheinbar nahe kommende Marktreife des „extended release Nevirapin“ vielleicht etwas damit zu tun, dass der Patentschutz für Nevirapin in der ‚klassischen‘ Formulierung absehbar ausläuft? Ab 22. Mai 2012, in weniger als zwei Jahren, dürfen in den USA generische Versionen von Nevirapin verkauft werden (andere Quellen benennen sogar schon den 22. November 2011 als Datum des Patent-Ablaufs). Und in Europa läuft das Nevirapin-Patent sogar bereits am 16. November 2010 ab, in weniger als vier Monaten.

Andere Hersteller stehen schon bereit mit generischen Versionen von Nevirapin. Was sicherlich dem Absatz und vor allem (angesichts zunehmenden Preisdrucks) dem Umsatz von Boehringers Viramune nicht zuträglich sein dürfte. Eine neue Formulierung, zu gutem Preis, mit ‚frischem‘ Patentschutz (heißt auch: ohne Konkurrenz) für noch viele Jahre, kommt da sicherlich ganz gelegen …
Denn: eine neue Formulierung wird als neues Produkt zugelassen werden, mit neuem Patentschutz – und Schutz vor Nachahmer-Medikamenten …

Was umgekehrt zudem die Frage aufwirft, hätte Boehringer theoretisch die neue „einmal täglich“ – Formulierung auch früher auf den Markt bringen können? War nur der einzige Vorteil „Nutzen für Patienten“ nicht so bedeutend, wie der nun bevorstehende Nutzen „neuer Patentschutz für ein eigentlich auslaufendes Medikament“? Steht der kommerzielle Nutzen wieder einmal weit vor dem Patienten-Nutzen?

Nebenbei, Boehringer steht hier nur als Metapher, als ein Pharmakonzern, der gerade ein aktuelles Beispiel liefert. Der Mechanismus, den durch Generika gefährdeten Umsatz durch eine (vermeintlich) neue Formulierung und neuen Patentschutz weiter zu sichern, dürfte sich vergleichbar bei vielen Substanzen und Herstellern finden …

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Nachsatz: zur einmal täglichen Anwendung von Nevirapin gibt es bisher widersprüchliche Daten, siehe Links unten. Viramune® ist bisher nur zur zweimal täglichen Anwendung zugelassen.

weitere Informationen:
POZ 22.07.2010: Extended-Release Viramune Has Comparable Safety and Efficacy to Standard Viramune
XVIII. International Aids Conference: Comparison of 48 week efficacy and safety of 400 mg QD nevirapine extended release formulation (Viramune XR) versus 200 mg BID nevirapine immediate release formulation (Viramune IR) in combination with Truvada® in antiretroviral (ARV) naïve HIV-1 infected patients (VERxVE) (abstract)
aidsmap 13.02.2008: Boehringer-Ingelheim begins trial of once-daily extended release nevirapine
Department of Health and Human Services: letter to Huahai US Inc. (betr. Nevirapin Tabletten) 10.07.2007 (pdf)
cptech.org: anti-infective drugs
cptech.org: Background Information on Fourteen FDA Approved HIV/AIDS Drugs
aids.emedtv.com: Generic Viramune
aidsmeds 15.01.2009: Poor Viral Control With Once-Daily Viramune, Viread and Epivir
EMEA: Viramune EPAR summary for the public (pdf)
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Werbung grenzenlos ?

Betreiber kommerzieller Internetseiten wollen Einnahmen erzielen, Gewinne machen. Viele von ihnen schalten dazu Werbung. Auch schwule Internet-Seiten. Aber – gibt es Grenzen?

Auch wenn man als Site-Betreiber Werbung schaltet, kann man sich diese Frage stellen – gibt es Grenzen? Setze ich mir Grenzen? Will ich Inhalte mit Werbung verbinden? Will ich Werbung aus jedem Bereich, zu jedem Thema oder Produkt, und bei jedem meiner Site-Inhalte? Will ich vielleicht mit einigen Themen, einigen Werbe-Kunden, einigen Produkten (bzw. der Werbung für sie) vielleicht besonders sensibel umgehen?

Medikamente sind etwas anderes als Autos, Waschmaschinen oder Reisen. Selbst wenn es sich um so genannte ‚Lifestyle-Medikamente‘ handelt.

Und so überrascht es doch ein wenig, auf einem schwulen kommerziellen ‚News-Portal‘ „Top-Links“ zu finden, die per Klammer-Zusatz als „Werbung“ gekennzeichnet sind – und als obersten „Top-Link“ direkt den Link mit dem eindeutigen Namen „Viagra und Cialis online bestellen“.

Queer.de Werbung (Screenshot 24.07.2010)
Queer.de Werbung (Screenshot 24.07.2010)

Ein Klick auf den Link, und schon befindet sich der User auf den Internetseiten einer Online-Apotheke (nebenbei, einer auf Zypern registrierten, deren Domaininhaber chinesischen Namens noch annähernd 100 weitere Domains hat, darunter zahlreiche Medikamenten-bezogene). Groß und bunt wird dort wie versprochen auf die im Link genannten Potenzpillen hingewiesen.

Werbung – für Potenzpillen? Auf einer sich als seriös gerierenden schwulen Informations-Site?

Werbung – für Medikamente?

Werbung – für Medikamente, die verschreibungspflichtig sind?

Doch – es kommt noch ‚bunter‘. Über den genannten Pillen der belinkten ‚Online-Apotheke‘ befindet sich eine kleine Animation, die in wechselnden Schriftzügen den Kunden aufklären soll. Dort kann er u.a. folgendes lesen:

Pillenpharm Screenshot (Ausschnitt)

„Rezeptfrei bestellen“ ???

Verschreibungspflichtige Medikamente, Potenzpillen, rezeptfrei bestellbar – dafür wird auf einem schwulen Informations-Portal geworben?

Gibt es Grenzen?

Ja, einige Grenzen setzen Gesetze. Andere setzen wir uns selbst, freiwillig. Welche wir uns setzen, sagt auch etwas über uns aus …

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Nachtrag 25.07.2010 11:16 Uhr: seit ca. 11:00 Uhr (25.7.) ist der genannte „Top-Link“ in dieser Werbe-Rubrik auf der Site derzeit nicht mehr aufgeführt.

US-Aids-Strategie: bemerkenswert

Die Nationale Aids-Strategie der USA, die die US-Regierung am 13. Juli 2010 verkündete, ist in Deutschland vergleichsweise wenig wahrgenommen worden. Zu unrecht, denn es gibt einiges Bemerkenswertes an ihr.

Zunächst mag erstaunen, dass erst jetzt, über 25 Jahre nach Beginn der HIV-Epidemie, in den USA erstmals eine nationale Aids-Strategie vorgelegt wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach Jahren großer Ignoranz (für die u.a. der Name Ronald Reagan steht) gegenüber dem Thema Aids schon in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend Bemühungen um nationale Koordination der verschiedenen Aktivitäten einsetzten, bis hin zum heutigen ‚Office of National AIDS Policy‘ im Weißen Haus. Die jetzige nationale Aids-Strategie ist insofern späte wenn auch konsequente Fortsetzung dieser Politik der letzten Jahre.

Bemerkenswert ist an der Aids-Strategie der USA, dass sie nicht nur -wie diverse Aids-Aktionspläne- vergleichsweise globale, damit jedoch auch letztlich unverfängliche Ziele setzt. Die Nationale Aids-Strategie der USA vielmehr setzt auch in Zahlen gefasste Ziele und macht diese operationalisierbar – sie benennt auf Basis einer Ist-Darstellung konkrete Zielwerte und Zeithorizonte, und ergänzt sie um eine Implementierungs-Strategie für Bundes-Agenturen. Sie gibt so der Politik der nächsten Jahre konkrete Vorgaben und Parameter der Erfolgs-Kontrolle.

Besonders bemerkenswert ist aber vor allem das Zustandekommen der US-Aids-Strategie:

Die heutige Nationale Aids-Strategie geht auch auf Forderungen zurück, die Community-Organisationen seit seiner Nominierung als Präsidentschaftsbewerber an den späteren US-Präsident Obama gerichtet hatten. Bereits als Kandidat hatte Obama zugesagt, im Fall seiner Wahl zügig an einer nationalen Aids-Strategie zu arbeiten. Die jetzige Strategie ist damit direktes Ziel von Community-Forderungen.

Und sie ist auch in Zusammenarbeit mit den von HIV betroffenen Communities entstanden. Nicht nur wurden -wie auch hierzulande gelegentlich Usus- die entsprechenden Verbände und Fachgesellschaften in die Entwicklung der Strategie mit einbezogen. Sondern darüber hinaus bestand bei 14 für jedermann/frau offenen Veranstaltungen, so genannten “HIV/Aids community discussions”, die Möglichkeit, Einfluss auf die zukünftige Strategie der US-Aids-Politik zu nehmen. HIV-Positive und Aids.Kranke, Mitarbeiter von Aids-Organisationen wie auch Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen waren aufgerufen, ihre Meinungen, Anregungen, Kritik zu äußern und in den Prozess der Formulierung der Strategie mit einzubringen. Das Dokument “community ideas for improving the response to the domestic HIV epidemic – a report on a national dialogue on HIV/AIDS” [siehe Quellenverweise in ‚USA: erstmals nationale HIV/Aids-Strategie‚] zeigt eindrucksvoll, in welchem Umfang und in welcher thematischen Tiefe diese Einbeziehung von Communities gelang – und die zukünftige Aids-Strategie auf diese Weise auch eine größere ‚Erdung‘ hat als reine Experten- und Verbände-Lösungen.

In dieser starken Integration der von HIV betroffenen Communities liegt einer der wesentlichen Fortschritte bei der Entwicklung der neuen Nationalen Aids-Strategie der USA. Das US-Beispiel zeigt, dass es möglich und machbar ist, auch bei der Entwicklung einer umfassenden, nationalen Strategie die betroffenen gesellschaftlichen Gruppen aktiv in die Entwicklung mit einzubeziehen. Ein Schritt zu mehr Transparenz und vor allem Partizipation, der auch hierzulande wünschenswert wäre …

Selbsthilfe oder Propaganda? Über Schleichwege des Pharma-Marketings

Positive bloggen – immer mehr. Ein erfreulicher Trend, denn auch auf diesem Weg werden immer mehr Stimmen sicht- und lesbar, die aus der Vielfalt des Lebens mit HIV und Aids berichten. Allerdings gibt es Stimmen, die nachdenklich stimmen, bei denen ein Blick lohnt à la „guck mal wer da spricht“. Ein ‚Blog‘, eine Site, bei denen unklar ist, ob ‚HIV-positiv‘ oder nicht vielmehr ‚Pharma‘ drin ist, Marketing eines Pharmakonzerns …

Jo bloggt, Marcel bloggte, Termabox bloggt, Diego neuerdings auch, und Kalle sowieso, Alive n Kickin auch, und Desmond. Desmond? Ja, Desmond.
Desmond wirbt auch für sein Blog, zum Beispiel auf Facebook:

„Hallo Leute,
ich bin Desmond, 30 Jahre alt, komme aus Köln und bin HIV-positiv. In meinem Blog spreche ich über mich, meine Musik, die Mode und das Bloggen. Außerdem schreibe ich über meine Gedanken und was mich in meinem Leben bewegt. Das hilft mir, mit HIV umzugehen und ich hoffe, dass es anderen hilft, denen es genauso geht. Drückt oben auf den Button „Gefällt mir“, um an meinem Leben teilzuhaben.
Ich freue mich über jeden „Zuhörer“… ;-)))))
Desmond“

Das klingt zunächst interessant. Desmond, HIV-positiv, schriebt über sein leben. Etwas jedoch sagt Desmond nicht. Wer auf den Link klickt, der zu Desmonds Blog führt, landet auf einer aufwendig gestalteten Seite. Liest viel über Desmond und sein Leben …
…und erfährt höchstens, wenn er ganz unten an Ende der Seite auf „Impressum“ klickt, wer denn dieses Angebot betreibt:

„Diensteanbieter: Abbott GmbH & Co. KG“
und
„Realisierung: Allround Team GmbH … Redaktion: Christian Lang, Fabienne Nawrat“

Über das „Allround Team“, zuständig für Abbotts „Infotainment-Angebot“ und „Community-Website“ namens ‚Garten der Lüste‘,  ist auf dessen Internetsite zu erfahren

„Allround: Das bedeutet für uns vielseitig begabt, universell tätig und überall einsetzbar zu sein. Spezialisiert sind wir auf Agenturdienstleistungen, Verlagswesen, Sprachdienste und Usability-Studien, stehen Ihnen aber mit unserer langjährigen Erfahrung und unseren frischen Ideen auch in jedem anderen Aufgabenfeld zur Verfügung.“

Technisch wird ‚Desmonds Blog‘ realisiert von ‚Medienhof‘ – einer Agentur, die sich selbst im Untertitel bezeichnet als

„Agentur für Unternehmenskommunikation“.

Desmonds Blog – also nicht ‚irgendein‘ HIV-positives Blog. Ein Blog auf einer Marketing-Plattform, und zwar eines Pharmakonzerns, eines Konzerns der Aids-Medikamente herstellt. Ein kleiner, ein wichtiger Unterschied.

Nun mag ein HIV-Positiver sich vielleicht durchaus entscheiden, sich bei einem Pharmakonzern zu verdingen, dort sein Blog professionell ‚betreuen‘ zu lassen (was auch immer ‚betreuen‘ dann meinen mag).

Allein – die ‚Kommunikation‘ von Pharmakonzernen mit Patienten ist immer einen besonderen Blick wert. Nicht umsonst gilt das Direktwerbeverbot des Heilmittelwerbegesetzes:

„Für verschreibungspflichtige Arzneimittel darf nur bei Ärzten, Zahnärzten, Tierärzten, Apothekern und Personen, die mit diesen Arzneimitteln erlaubterweise Handel treiben, geworben werden.“ (Volltext: Gesetz über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens, dort §10)

Nicht nur, dass die Site ‚Garten der Lüste‘ von Abbott betrieben wird, dort wird auch -ohne Nennung von Produktnamen- über die HIV-Medikamente des Konzerns berichtet, werden Broschüren angeboten, die bestimmte Technologien des Konzerns für HIV-Medikamente lobpreisen, wird auf andere konzerneigene HIV-Sites verlinkt.

Wenn dann auch noch die Verquickung von ‚Stimme aus dem HIV-positiven Leben‘ und Pharma-Marketing nicht (wie z.B. beim Facebook-Auftritt) oder kaum sichtbar (wie auf der Site) erwähnt wird, wirft dies weitere Fragen auf.

Worum geht es?

„Unternehmenskommunikation“ – dieser Begriff (den die realisierende Agentur im Untertitel führt) weist wohl in die Richtung, um die es im ‚Garten der Lüste‘ gehen dürfte. Und vermutlich auch auf ‚Desmonds Blog‘? Die Kommunikation eines Unternehmens, das einer der großen Player auf dem Gebiet der HIV-Medikamente ist. Und einer der sehr umstrittenen Player.

Denn Abbott hat eine bewegte Geschichte auf dem Aids-Markt. Eine Geschichte voll von Problemen und Eigenartigkeiten. Eine kleine Auswahl: Der Konzern plante eigenen Unterlagen zufolge, ein lebenswichtiges Aids-Medikament vom Markt zu nehmen, was die eigene Marktposition im Vergleich zu Wettbewerbern befördert hätte. Um die eigenen Gewinne zu erhöhen, wurde in den USA der Preis dieses Aids-Medikaments verfünffacht. Immer wieder auch gerät Abbott in die Kritik aufgrund seines Umgangs mit Patentrechten. Erst jüngst versuchte ein Abbott-Pharmareferent in Costa Rica Presseberichten zufolge, HIV-Positive davon zu überzeugen sich einer Klage gegen eine generische Version von Lopinavir> anzuschließen. Kritik wird nicht gern gesehen – Abbott klagte gegen ACT UP . In den USA wurde jüngst Abbott abgemahnt – wegen Werbung, die die Wirkung für ein Aids-Medikament übertreibt und Nebenwirkungen verharmlost.

Sieht so die Aids-Politik eines Unternehmens aus, in dessen Gesellschaft man sich befinden möchte als HIV-positiver Blogger? Diese Frage muss jeder Blogger für sich selbst entscheiden. Aber die Verbindungen zum Konzern sollten für jeden und jederzeit offen ersichtlich sein.

So bleibt letztlich die Frage nach dem Zweck des Ganzen. Sind ‚Garten der Lüste‘ und vielleicht auch ‚Desmonds Blog‘ wirklich mehr als nur der immer wieder erneuerte Versuch von Pharmakonzernen, sich über das aus guten Gründen bestehende Direktwerbeverbot hinweg zu setzen?

Wird hier das Image eines ‚Blogs eines HIV-Positiven‘ benutzt, instrumentalisiert, um über immer neue Wege direkten Zugang zu Patienten zu bekommen?

Positive Stimme? Oder schnödes Marketing, im Interesse des Unternehmens?

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Nebenbei, der ‚Garten der Lüste‘ ist eines der bekanntesten Triptychen von Hieronymus Bosch. Der eigentliche ‚Garten der Lüste‘, dargestellt im  Mittelteil dieses Triptychons, wurde lange Zeit als Warnung vor der Todsünde der Wollust gedeutet. Inzwischen wird es auch als Darstellung eines utopischen Liebes-Paradieses gesehen, als ‚Garten der Liebe‘. Abbott wirbt für seine Kampagne mit dem Slogan „Augen auf im Garten der Lüste – Kondome schützen“. Ob Abbott dieses Spannungsfeld der Interpretationen des Bosch-Triptychons  bei der Wahl des Namens ihrer Patienten-Marketing-Kampagne bewusst war?

siehe auch:
stationäre aufnahme 11.07.2010: Abbott schickt bei Facebook HIV-Infizierten vor
Bildblog 12.07.2010
medizynicus 20.07.2010: Kann man Bloggern trauen? Oder: Desmond, die Krankheit und die Pharmaindustrie
Reaktion von Desmond auf die Artikel in Desmonds Blog am 23.07.2010 [Artikel dort nicht einzeln verlinkbar]
medizynicus 23.07.2010: Desmond lebt!

brandeins 07/2010: Mein Patient, mein Partner
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Promis, Staatsanwälte und die Medien – welchen Wert haben Bürgerrechte?

Bemerkenswerte Dinge spielen sich ab derzeit, bemerkenswert in Hinsicht auf die Frage, wie Medien mit Promis, Sex und Verdacht auf strafbare Handlungen umgehen. Sex sells, erst recht Sex und Promis, und wenn dann noch das Strafrecht mit ins Spiel kommt …

April 2009. Eine junge Frau mit Kind, von Beruf Sängerin, Nadja Benaissa wird verhaftet. Sie habe wissentlich riskiert, andere Menschen mit HIV zu infizieren, wird ihr vorgeworfen. Angesichts ihrer Prominenz und der Schwere der Vorwürfe fühlt sich der zuständige Staatsanwalt bemüßigt, mit detaillierten Informationen über den ‚Fall Nadja Benaissa‚ an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Medien stürzen sich auf den Fall, überschlagen sich in sensationsgeiler Berichterstattung, Schlagzeilen, Vorverurteilungen.

März 2010. Jörg Kachelmann, ein lediger Mann mittleren Alters, wird verhaftet. Von Beruf ist er Wetterfrosch und Unternehmer, hat es in seinem Metier zum Medien-Star gebracht. Nun stehe er, sagt die Staatsanwaltschaft, unter dem Verdacht, eine Frau zum sexuellen Verkehr genötigt zu haben, dies womöglich unter Verwendung eines Messers als Druckmittel. Ähnlich wie im Fall der Nadja Benaissa stürzen sich die Medien auf den Fall. Berichten, mit sich täglich überstürzenden Schlagzeilen, Spekulationen, Vorverurteilungen.

Soweit die Parallelen in zwei scheinbar recht ähnlich gelagerten Konstellationen – Promi in Untersuchungshaft, Sex im Spiel.

Doch nur wenige Wochen nach der Verhaftung Kachelmanns zeigen sich Unterschiede, bemerkenswerte Unterschiede:

Kachelmann ist nach Wochen immer noch in Haft, erst am 4. Mai beantragt einer seiner Anwälte einen Haftprüfungstermin, der in der kommenden Woche verhandelt werden soll. Und die „Chose Kachelmann“ findet in den Medien kaum noch statt.

Ganz anders damals, kaum ein Jahr zuvor, bei Nadja Benaissa. Nur wenige Tage war sie in Untersuchungshaft, wurde bald entlassen. Und dennoch, ihr „Fall“ wurde weiterhin intensiv durch Schlagzeilen und Boulevard gezogen, ohne Rücksicht auf ihre Zukunft, und insbesondere auch ohne Rücksicht auf die Situation ihrer Tochter. Der SPD-Politiker Ehrmann bezeichnet HIV-Positive als „Bio-Waffen“. Er hat damit nur sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung genutzt, sagt die Justiz dazu. Kritik am Verhalten der Staatsanwaltschaft wies der hessische Justizminister als unbegründet zurück. War ihr Zwangs-Outing durch die Staatsanwaltschaft unzulässig? Diese Frage wird nicht geklärt. Stattdessen: ein Prozess gegen ein Medienunternehmen wegen dessen Sensations-Berichterstattung platzte – die Anwälte der Sängerin zogen überraschend ihre Anträge zurück.

Schnell und weitgehend leise ist der eine ‚Fall‘ aus den Medien verschwunden – während der andere ‚Fall‘ mit viel Aufmerksamkeit, Sensationsgeilheit immer wieder seinen Weg in’s Boulevard findet.

Warum diese unterschiedliche mediale Behandlung?
Was unterscheidet den „Fall Benaissa“ vom „Fall Kachelmann“?

Eines wird schnell offenkundig: das offensichtlich unterschiedliche Agieren der beteiligten Anwälte.
Frau Benaissas Anwälte scheinen zeitweise noch mit auf den medialen Zug aufzuspringen. Beantragen beispielsweise eine Unterlassungsverfügung gegen einen Verlag, mit dem Einfluss auf die weitere Berichterstattung genommen bzw. eine Verhinderung bestimmter Berichterstattung erreicht werden soll. Und ziehen den Antrag dann zur allgemeinen Überraschung kurz vor dem Verhandlungstermin zurück. In der ganzen Zeit, sowie in der Folgezeit nach ihrer (im Vergleich zu Kachelmann zügigen) Freilassung, wird der “Fall Benaissa“ weiterhin breit in den Boulevard-Medien (sowohl Print als auch TV) behandelt. Bis sich Frau Benaissa selbst den Medien stellt, offen über sich und ihre HIV-Infektion spricht. Erst langsam, nach Wochen greller Schlagzeilen, wird die mediale Sensationsberichterstattung weniger, ruhiger.

Und die Medien im „Fall Kachelmann“? Auch nach nunmehr sieben Wochen ist Herr Kachelmann noch in Untersuchungshaft, und dennoch kaum in den Medien, erst recht kaum mit sensationsgeilen ‚Enthüllungen‘ – welch bemerkenswert unterschiedliche Situation.
Die Anwälte von Herrn Kachelmann reagieren anders, wie zu hören ist. Gegen Medien wird aktiv, mit Unterlassungsverfügungen und anderen Rechtsmitteln vorgegangen. Sensationsgeile Artikel, Spekulationen, Veröffentlichungen von SMS und anderen Details aus dem Privatleben des Herrn Kachelmann werden so weitgehend unterbunden. Das Mäntelchen des medialen Schweigens scheint sich über den Fall gelegt zu haben.

Das Mäntelchen des Schweigens muss kein schlechtes Mäntelchen sein. Das Mäntelchen des Schweigens kann auch Ausdruck des alten Rechtsgrundsatzes der Unschuldsvermutung sein Und es kann im Interesse der Beschuldigten und ihrer Privatsphäre sowie ihrer Angehörigen sein. Gerade bei einer HIV-Infektion kein unbedeutender Schutz.

Ein Mantel des Schweigens, von dem man vermuten kann, dass er auch Frau Benaissa und ihrer jungen Tochter sicher gut getan hätte. Warum es im Fall von Frau Benaissa anders gelaufen ist? Der Gedanke, ihr könne an der Publicity gelegen gewesen sein, nützlich für ihre Karriere und die ihrer Pop-Band, hat angesichts der weitreichenden persönlichen Folgen für sie und ihre Tochter einen faden Beigeschmack. Einen Beigeschmack, der diesen Gedanken nicht nur schal, sondern letztlich unglaubwürdig erscheinen lässt, mit dem Geruch der nachträglichen Legitimation versieht. Die Fragen welche Resultate welche Rechtsvertreter mit welchen Strategien erziel(t)en, könnte in (nicht nur) dieser Hinsicht eine interessante sein.

Der Vorgang zeigt darüber hinaus eines: das Festhalten an der Unschuldsvermutung, das Respektieren der Privatsphäre und die Wahrung der Menschenwürde müssen sichergestellt sein. Und sie dürfen nicht Sache teurer Spezial-Anwälte und Medien-Profis werden. Grundrechte sind zu wertvoll, als dass sie eine Frage der wirtschaftlichen Verhältnisse werden dürfen. Sie stehen jedem zu – auch jeder und jedem HIV-Positiven, ohne Ansehen der Person, und ohne Ansehen des Geldbeutels.

Cori Obst hat recht, wenn sie (in ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes) betont „Bürgerrechte müssen für alle gewahrt sein, jenseits vom Serostatus, Hautfarbe, Geschlecht und Religion„. Bürgerrechte müssen gewahrt werden – auch unabhängig vom Geldbeutel, auch unabhängig von Medien-Anwälten, möchte man angesichts der aktuellen Vorgänge ergänzen.

Bürgerrechte stehen allen Menschen zu – auch allen HIV-Positiven.
Das Verhalten von Staatsanwälten, Medien und Politikern im ‚Fall‘ Nadja Benaissa harrt diesbezüglich weiterhin der Aufklärung und Aufarbeitung.

Das österliche Preis-Wunder – ein Akt „sozialer Verantwortung“?

Ein internationaler Pharmakonzern senkt den Preis für ein Aids-Medikament. Nicht etwa in Afrika, wie es gelegentlich vorkommt, um mehr Menschen den Zugang zu wirksamen Aids-Therapien zu erleichtern. Nein, der Preis für das Medikament (es geht nicht um Hersteller oder Produkt, also nennen wir es hier „Contra-Vira“) wurde in Europa, genauer in Deutschland gesenkt,und um immerhin rund 15 Prozent.

Der Hersteller des Medikaments kommentiert die „freiwillige Preissenkung“ sich selbst lobend in einer Pressemitteilung wie folgt:

„Mit der Preissenkung zeigen wir soziale Verantwortung, denn wir leisten unseren Teil innerhalb des Gesundheitssystems. Wir entlasten die Krankenkassen finanziell und nehmen den Ärzten ein Stück weit die Angst vor Arzneimittelregessen, wenn Sie XXX als Behandlungsoption einsetzen möchten.“

Verwundert reiben wir uns die Augen. Die Pharma-Industrie – doch ein Hort von Altruismus, ein Freund der Krankenversicherung und der armen Aids-Kranken? Hat die vereinte Lobbyismus-Maschinerie der Pharmawirtschaft von Y bis Z doch recht? Die Pharmaindustrie – eine altruistische Veranstaltung voller sozialer Verantwortung, einzig für den Nutzen von uns Patienten (nun gut, und der Krankenkassen, und der Ärzte, und … ach ja, der Aktionäre)?

Die (prinzipiell begrüßenswerte) Preissenkung, dies vorweg, sie war, obwohl verkündet am 30. März, wohl kein vorgezogener April-Scherz. Und trotz nahender Feiertage auch kein Akt österlichen Erbarmens.

Doch was mag einen Pharma-Konzern bewegen, den Preis für ein Medikament freiwillig zu senken? Wo er doch in Deutschland in der komfortablen, ja geradezu luxuriösen Situation ist, den Preis für Medikamente völlig frei, allein nach eigenem Gusto festsetzen zu können?

Schauen wir uns die Situation an.
Zunächst fällt auf: Contra-Vira ist nur eines unter vielen Medikamenten. Und wenn es auch aus einer neuen Klasse von Medikamenten stammt, so sind ihm doch in ihrer Wirksamkeit die besten Medikamenten anderer Klassen durchaus ebenbürtig. Zudem, schon bald könnten weitere Substanzen eben dieser neuen Wirkstoff-Klasse zugelassen werden.

Contra-Vira hat zudem eine Eigenschaft, die zumindest von Marketing-Strategen den Konsumenten, also uns Patienten, als Nachteil verkauft wird: es muss zweimal täglich eingenommen werden. Bei Produkten mancher Wettbewerber hingegen reicht eine einmal tägliche Einnahme.

Contra-Vira war zunächst nur für Patienten zugelassen, die bereits einige „Therapie-Erfahrung“ haben, wie die beschönigende Umschreibung des Medizinbetriebs für die Situation lautet, dass bereits eine oder mehrere Medikamente gegen HIV beim Patienten versagt haben, seine/ihre Ängste angesichts der Frage noch verfügbarer wirksamer Therapien gestiegen sind.

Der lukrative Markt hingegen sind weniger diese „therapieerfahrenen“ HIV-Positiven, sondern die derzeit in Deutschland noch große Zahl der so genannten „therapienaiven“ Patienten (wobei hier nicht diskutiert werden soll, wie viel Naivität tatsächlich darin liege, etwa nicht in jeder Situation sofort mit einer dann lebenslangen Medikamenteneinnahme zu beginnen).

Nun fügt es sich, dass zufällig gerade erst, am Rande einer Konferenz, wenige Wochen vor der bemerkenswerten Preissenkung, die Therapie-Richtlinien für diese „therapienaiven“ Patienten aktualisiert wurden. Und siehe da, da Contra-Vira ein wirksames und meist gut verträgliches Medikament ist, findet es sich nun auch auf der Liste der empfohlenen Medikamente für „therapienaive“ HIV-Positive.

Einzig, die Liste allein macht noch keinen Umsatz. Und es bleibt ja immer noch das Problem mit der zweimal täglichen Einnahme. Zudem, Contra-Vira ist bisher deutlich höher im Preis angesiedelt (die Hausfrau übersetzt: teurer) als Produkte der Wettbewerber. Das mag die Mehrzahl der Patienten in Deutschland wenig interessieren – den Arzt betrifft es schon. Ist er doch zu wirtschaftlicher Therapie angehalten, müsste abweichende Verordnungen begründen. Und wie begründet er es, ein Medikament zu verschreiben, das zwar nicht besser, wohl aber deutlich teurer ist? „Regress“ (sprich: die Kasse lässt sich den vermeintlichen Schaden vom Arzt erstatten), diese Wort mag ihm drohend in den Ohren klingeln – und ihn vom Verordnen von Contra-Vira potentiell abhalten.

Hinzu kommt, der Gesundheitsminister möchte – wie nahezu alle seine Vorgängerinnen und Vorgänger – die Kosten im Gesundheitswesen senken. Und hat als einen der Kostentreiber die Ausgaben für Medikamente identifiziert. Er hat auch ein Werkzeug entdeckt, der steigenden Medikamenten-Kosten Herr zu werden (oder: es zu versuchen): die Möglichkeit der Kosten-Nutzen-Betrachtung. Medikamente, wenn höher im Preis, müssen auch wirksamer sein, so vereinfacht der Grundgedanke dieses Prinzips. Wie mag Contra-Vira sich bei diesen Kosten-Nutzen-Überlegungen positionieren, mit seinem höheren Preis?

Zudem: wer heutzutage als HIV-Positiver zum ersten mal eine Therapie gegen HIV beginnt, der hat die Auswahl unter mehreren Alternativen an Kombinationen von Wirkstoffen. Und unter diesen Alternativen sind attraktive Angebote, zum Beispiel „drei Wirkstoffe in einer Pille, einmal am Tag einzunehmen“ oder „zwei Pillen, einmal am Tag einzunehmen“, oder ganz banal „Pillen, günstiger im Preis als Contra-Vira“. Ein Quattro soll zudem gar vor der Tür stehen, vier auf einen Streich, einmal am Tag.

Selbst wenn die Empfehlungen, welche Kombinationen für die erste Therapie gegen HIV eingesetzt werden sollten, nun so sind, dass auch Contra-Vira zum Zuge kommen könnte (und dem Hersteller entsprechende Umsätze generieren könnte), die Wettbewerbs-Position von Contra-Vira scheint schwierig. Wirkung vergleichbar, dabei aber teuer, und dann zweimal am Tag einzunehmen? Das macht ein Medikament trotz geänderter Empfehlungen nicht eben attraktiv. Sparsame Kassen, ein nachdenklicher Gesundheitsminister? Das klingt nicht nach guten Rahmenbedingungen. „Da müssen wir was tun …“

Und so erklärt sich die wundersame vor-österliche Preissenkung, von der eigenen Öffentlichkeitsarbeit des Pharmakonzerns verbrämt als Ausdruck „sozialer Verantwortung“, als ganz simpler Schritt des Marketings, der Markt-Erschließung, der Stärkung der Wettbewerbs-Position, des Eingehens auf gesundheitspolitische Fragen. Senken wir den Preis auf den des Wettbewerbs, und ein ‚Nachteil‘ und potentielles Risiko von Contra-Vira ist schon mal entschwunden. Zudem ist einem drohenden gesundheitspolitischen Argument, der Kosten-Nutzen-Problematik, halbwegs begegnet.
Oh Patienten, kommet – oh Umsätze, steiget. Nicht mehr. Und nicht weniger. Es geht um Umsatz, und nicht soziale Verantwortung.

Die Sehnsucht nach Normalisierung und die untilgbare Schuld

Die HIV-Infektion, einst Anzeichen einer medizinisch hilflosen Situation, eines drohenden körperlichen Desasters, wird zunehmend behandelbar. Die Erfolge der medizinischen Forschung sind unübersehbar. Medikamente gegen das HI-Virus werden zunehmend stärker wirksam, Nebenwirkungen treten in ihrer Bedeutung immer mehr in den Hintergrund. Die Lebenserwartung eines und einer HIV-Infizierten nähert sich immer mehr der einer nicht infizierten Person an, und die Beeinträchtigung der Lebensqualität durch Nebenwirkungen der Therapie werden immer mehr minimiert. HIV wird zu einer chronischen Erkrankung, zu einer ‚manageable disease‘. Mit ein wenig Glück werden zudem wirksame Therapien (vielleicht sogar nicht nur in den Industriestaaten) einst auch zu gesundheitspolitisch beherrschbaren Kosten zur Verfügung stehen. Zeichen einer zunehmenden medizinischen und gesundheitspolitischen ‚Normalität‘.

Die Folge: es ist ein Zukunftsszenario denkbar -und nicht in allzu weiter Ferne-, in der die Frage, ob ich HIV-infiziert bin, aus medizinischer und Public Health – Sicht nicht nur ihre Dramatik verliert, sondern zunehmend weniger relevant wird. Ob ich HIV habe oder nicht – eine Frage des Zugangs zum Medizinsystem, eine Frage guter Ärzte und wirksamer Pillen.

Die Folgen für Aids-Hilfe? Zweierlei Szenario wäre etwas vereinfacht denkbar:
Für diejenigen, die der Ansicht sind, Ziel von Aids-Hilfe sei es, die Zahl der Neuninfektionen zu reduzieren, womöglich gar auf Null zu bringen, wird ein Problem entstehen. Die Grundhypothese ihrer Arbeit wird ihnen auf die Füße fallen: wenn die HIV-Infektion eine ‚manageable disease‘ sein sollte, eine mit wenigen und eher (biomedizinisch, gesundheitsökonomisch) konsequenzenarmen Folgen behandelbare chronische Infektion – dann ist eine höhere Zahl an Neuinfektionen kein Skandal mehr, dann wird das Ziel der drastischen Senkung der Neuinfektionszahlen unbedeutender. Niemand finanziert mit hohen Millionenbeträgen eine Organisation, die sich der Reduzierung der Neuansteckungen mit Husten und Schnupfen widmet.
Für die Vertreter der anderen, Gesundheits-orientierten Haltung wäre die Konsequenz eine andere: Aids-Hilfe wird zu einer Organisation, die sich der Frage widmet, welchen Begriff ich von Gesundheit habe, welche Bedeutung Gesundheit für mein Leben hat, und wie ich ich sie erhalte, fördere oder wieder herstelle.
Aids-Hilfe verliert das Skandalon des „Aids“ in ihrem Namen. Aids-Hilfe wird in dieser Konstellation zu ‚Gesundheits-Hilfe‘ für bestimmte (vielleicht: marginalisierte?) gesellschaftliche Gruppen.

Alles in Butter also, und die Frage lautte angesichts der ‚Normalisierung‘ nur, ob Aids-Hilfe, egal ob als Bundes-Verband oder vor-Ort-.Organisation, untergehen, sprich bedeutungslos werden oder sich selbst auflösen wird, oder ob sie sich an Veränderungen anpassen will?

Nicht ganz.
Ein kleines Problem bleibt.
Einige kleine Fragen.

Wenn HIV eine recht unkompliziert behandelbare und vergleichsweise konsequenzenarme Erkrankung werden sollte (oder, im Empfinden einiger HIV-Infizierter, heute schon ist), warum machen wir uns dann solche einen Kopf darum?
Warum überlegen wir so intensiv, jeder HIV-Positive für sich, wem erzähle ich von meiner Infektion, wem vertraue ich es, mich an – und wem lieber nicht?
Warum wird für uns die Frage immer wieder essentiell, wie offen lebe ich mit HIV?
Warum klagen viele HIV-Positive, seit ihrem positiven HIV-Status, so sie ihn nicht völlig für sich behalten, zunehmend Probleme haben Sex-Partner zu finden, guten, ihren Wünschen und Sehnsüchten entsprechenden Sex zu haben?
Und warum machen sich immer wieder Menschen Gedanken, wie sie mit HIV am Arbeitsplatz umgehen sollen (ersatzweise: bei der Suche nach Arbeit)?
Die Liste der Fragen nach dem ‚warum‘ ließe sich fortsetzen …

Und die Liste der Fragen zeigt: So normal ist es scheinbar doch nicht, mit HIV infiziert zu sein – selbst nicht bei wirksamsten Pillen.
Irgend etwas an HIV ist anders als bei Schnupfen, Mundgeruch und Fußpilz.
Irgend etwas ist an HIV, das nicht nur mit der Medizin zu tun hat.
Irgend etwas, das weitreichende persönliche Konsequenzen hat – und durch Pillen nicht bekämpft wird.
Es ist ein Makel an HIV, genauer daran, HIV-infiziert zu sein.
Die Tatsache, HIV-infiziert zu sein, zeigt etwas an.
Sie zeigt an: Abweichung von der Norm. Männerliebe, Drogengebrauch, Dreck, Blut, Sex, Scheisse, Drogen. Einen Ausstieg aus einem gesellschaftlichen Normsystem. Einen Ausstieg, der längst vor dem Offenbaren des HIV-Status vollzogen wurde. Ich bin HIV-infiziert, weil (in Folge)  ich diesen Normen-Ausstieg längst vollzogen habe, den Ausstieg aus der Norm gesellschaftlichen Zusammenlebens, die sich bewegt irgendwo im Nebel zwischen „du sollst nicht mit Männern ficken“, „du sollst Kinder zeugen und dich fortpflanzen“, „du sollst nicht den Rausch genießen“, „du sollst nicht hemmungslos sein“.
Ein Normenausstieg, nebenbei, der nicht nur von Menschen mit HIV ‚begangen‘ wird, sondern von vielen anderen. Weswegen die Frage nach der Bedeutung dieses Normausstiegs, nach dem Umgehen, nach den Konsequenzen eben auch nicht nur Menschen mit HIV angeht.
Nur ist dieser Normenausstieg zunächst weniger sichtbar. HIV allerdings macht diesen Normenaussteig sichtbar, zeigt an – HIV wird zum Indikator. Zum Stigma [Stigma – Brandzeichen].
Und: dieTatsache dieses Normenausstiegs ist unwiderrufbar, untilgbar – und auch durch wirksamste Medikamente, tollste Therapien und bunteste Pillen nicht behandelbar.

So sehr die HIV-Infektion auch ’normal‘ werden mag im biomedizinischen, im Public Health – Sinn – der Makel der Schuld, der Schuld dieses Norm-Verstoßes, der Status der eigenen HIV-Infektion als Indikator für einen Normenverstoß bleibt untilgbar.

HIV mag unter medizinischen Aspekten ’normal‘ werden können. Diese Sehnsucht nach Normalität mag erfüllbar sein. Allein, der Skandal bleibt, der Skandal des -durch HIV sichtbar gemachten- Normenausstiegs, des Makels, der Schuld.

Einige Gedanken dieses Kommentars sind inspiriert durch den Workshop „Die Schuldfrage knacken“ von Dr. Stefan Nagel und Alexander Pastoors – danke!

cui bono ?

Es wird in Deutschland wie auch auf europäischer Ebene und international viel diskutiert in letzter Zeit, über das weitere Vorgehen in Sachen HIV-Testungen. Opt-in oder opt-out? Und vielleicht gleich test-and-treat?

Viele Beweggründe, über HIV-Tests nachzudenken, sind sicher ehrenwert. Die Zahl der späten Diagnosen zu senken, die Zahl derjenigen Positiven zu mindern, die sehr spät eine Behandlung erhalten.

Dass allerdings per Definition (dessen was ein ‚late presenter‘ ist, siehe „Funken bei Aids-Kongress-Eröffnung„) die Zahl derjenigen Menschen, die in diese Definition fallen, drastisch erhöht wird, erscheint fragwürdig. Noch vor kurzen galten 50 oder 100 CD4 als Grenze, um von „late presenter“ zu sprechen, dann 200 CD4. Den Wert nun per definitionem auf 350 hochzusetzen – erhöht zwangsläufig (und auf fragwürdige Weise) die Zahl der hiervon betroffenen Menschen, und ergibt dann erst das per Zahlenspielen herbei definierte vermeintliche „Versagen des öffentlichen Gesundheitssystems“. Eine klassische Skandalisierungs-Strategie; so schafft man sich die eigene Handlungs-Grundlage nebst Begründung selbst …

Hinzu kommt: nachdenklich stimmt dabei vielleicht, wer so alles diskutiert. Und mit welcher Perspektive.

Da diskutieren unter anderem HIV-Behandler, auf Einladung der Pharma-Industrie, und mit Beteiligung einiger Aids-Organisationen.

HIV-Behandler leben u.a. auch davon, eine möglichst große Anzahl HIV-Patienten zu behandeln. HIV-Medikamenten-Hersteller leben auch davon, eine möglichst große Menge (eh bekanntermaßen nicht gerade preisgünstiger) HIV-Medikamente abzusetzen. Und manche Aids- und Patienten-Organisationen ‚leben‘ auch davon, eine möglichst große Anzahl Klienten zu betreuen oder (vorzugeben) zu ‚vertreten‘.

Ist es bei dieser Interessenlage noch ein Wunder, wenn Ärzte, Pharmaindustrie und so manche Aids-NGO massive HIV-Test-Kampagnen  fordern und fördern? Und im Hintergrund gleich mit an Behandlungs-Strategien à la „test and treat“ feilen? Das ganze auf Symposien und Meetings, großzügig gesponsert von der Pharmaindustrie?

Das lässt Fragen aufkommen …
Wird hier wirklich immer und überwiegend interessen-neutral gehandelt? Oder im Interesse der Menschen, die von der Entscheidung betroffen sind? Oder nicht doch mit mit Blick auf die jeweils ganz eigenen Interessen? Die Frage muss gestellt werden …

Cui bono?
Wem zum Vorteil?

HIV-Test – eine positive Perspektive

Derzeit wird auch in Europa und Deutschland eine (leider nicht sehr offene und zu wenig wahrgenommene) Debatte geführt um die Zukunft des HIV-Tests (siehe „quo vadis HIV-Test?„) – gerade heute auf dem Workshop über die Zukunft der HIV-Testung in Deutschland.
Gerade Menschen, die bereits eine Diagnose HIV-positiv hinter sich haben, verfügen über vielfältige Erfahrungen, was es bedeutet, als HIV-positiv diagnostiziert zu werden, wissentlich und dokumentiert mit HIV zu leben.

Die Frage der Zukunft des HIV-Tests aus positiver Perspektive – einige Gedanken:

Leben mit HIV hat sich verändert – gottseidank. Die Zeiten, in denen Freunde oder Bekannte reihenweise starben, wöchentlich mehrere Trauerkarten sich im Briefkasten fanden, sind vorbei. Ebenso seit Ende der 1990er Jahre die Zeiten, in denen keine oder fast keine wirksamen Medikamente zur Verfügung standen, die Diagnose ‚HIV-positiv‘ unweigerlich baldiges Aids, baldiges Leid, baldigen Tod zu bedeu­ten schien.

Doch die Diagnose ‚HIV-positiv‘ ist auch heute noch weit davon entfernt, der inzwischen so oft gehörten Bezeichnung ’normal‘ gerecht zu werden. Die Diagnose ‚HIV-positiv‘ ist etwas völlig anderes als die Diagnose ‚hohe Cholesterinwerte‘. HIV-positiv zu sein ist keine Bagatelle.

Leben mit HIV, das heißt auch heute, 2009, noch immer
– sozialrechtlich mit massiven Einschränkungen konfrontiert zu sein. Eine ba­nale Lebensversicherung abzuschließen, oder gar eine Berufsunfähigkeits- oder private Renten-Versicherung – für HIV-Positive immer noch nahezu ein Ding der Unmöglich­keit. Dies bedeutet nicht nur, dass z.B. die eigene Altersvorsorge drastisch gefährdet, oft unmöglich gemacht wird – sondern gefährdet auch berufliche Kar­rieren, wenn z.B. eine Selbständigkeit, ob als Handwerker oder Unternehmer, an der unmöglichen Ab­sicherung über eine Lebensversicherung scheitert.
– mit Medikamenten zu leben, die mit teils massiven Neben- und Langzeitwir­kungen und Beeinträchtigungen der Lebensqualität behaftet sind. Fettumverteilungsstörungen (Lipodystrophie-Syn­drom) führen dazu, dass HIV-Positive erneut als ‚Aids-Kranke‘ erkenntlich und Stigmatisierung ausgesetzt sind. Die Kosten möglicher Therapien hiergegen werden von Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung weiterhin nicht übernom­men.
– Viele Menschen mit HIV haben immer noch mit massiven Problemen und Einschränkungen im Arbeitsleben bis hin zu Berufsverboten zu rechnen.
– Menschen mit HIV sehen sich strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt, wobei ihnen oftmals einseitig die alleinige Verantwortung für Schutz zugeschoben werden soll.
– Gesellschaftlich werden HIV-Positive auch weiterhin ausgegrenzt, stigmatisiert, diskriminiert. In viele Staaten ist die Einreise als HIV-Positiver verwehrt oder stark erschwert, ein Aufenthalt streng reglementiert.

Die Diagnose ‚HIV-positiv‘ stellt schon aus diesen beispielhaften Gründen einen tief greifen­den Einschnitt in das Leben, in die künftige Biographie eines Menschen dar. Dies bedeutet auch, dass die Entscheidung, einen HIV-Test durchführen zu lassen, vorbereitet, wohl überlegt und gut informiert getroffen werden sollte – und nicht aus der momentanen Situation heraus, spontan.

Dies gilt auch für andere wohlklingende Namen, wie z.B. das Modell „european guidance“ (verkürzt: generell solle für bestimmte (von HIV besonders betroffene) Zielgruppen sowie Indikator-Erkrankungen ein HIV-Test angeboten / dringend empfohlen werden). Klingt akzeptabel – aber es gibt Konstellationen, Aids-Experten, die dahinter eine opt-out-Strategie verbergen. Dies scheint nicht viel mehr als „alter Wein in neuen Schläuchen“, eine Einführung von opt-out „durch die Hintertür“ – und könnte nur zu schnell z.B. zu regelmäßigen Massenscreenings auf HIV bei schwulen Männern führen.

Dies alles sind keine Argumente gegen einen HIV-Test – sondern für einen HIV-Test in einem adäquaten Setting und zu entsprechenden Standards.
Und dies ist ein Plädoyer auch für ein Beibehalten des Rechts auf Nicht-Wissen. Wer seinen HIV-Status nicht wissen will, hat auch dazu ein Recht.
Und wer seinen HIV-Status wissen möchte, hat ein Recht auf eine vorherige qualifizierte Beratung, nach der er sein informiertes Einverständnis erteilen kann.

Solange Menschen, allein weil und sobald sie den serologischen Status ‚HIV-positiv‘ haben, weitreichende negative persönliche und gesellschaftliche Konsequenzen zu befürchten haben, kann eine Test-Konstellation des ‚opt out‘ aus der Sicht HIV-positiver Menschen keine sinnvolle Alternative zum etablierten guten Standard sein.

Riskieren wir nicht unnötig erfolgreiche Errungenschaften – nur zugunsten eines Experiments namens opt-out, für das die Nutzen-Hinweise bisher (in Regionen wie Deutschland) mehr als dürftig sind. Behalten wir die bisher erfolgreiche Strategie des opt-in mit Beratung und informiertem Einverständnis bei.